Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 IB 342



112 Ib 342

55. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 2.
September 1986 i.S. X. gegen Bundesamt für Polizeiwesen, Sektion
Auslieferung (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Art. 21 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die internationale Rechtshilfe
in Strafsachen (IRSG).

    In der Regel ist für die Bestellung eines unentgeltlichen
Rechtsbeistandes gemäss Art. 21 Abs. 1 IRSG in erster Linie wegleitend, ob
sich in bezug auf das Rechtshilfe- bzw. Auslieferungsverfahren schwierige
Rechts- und Tatfragen stellen, die den Beizug eines Rechtsbeistandes
notwendig machen, damit eine wirksame Wahrung der Rechte des Verfolgten
gewährleistet ist. Gesichtspunkte, die bei der Anwendung dieses Grundsatzes
mit zu berücksichtigen sind (E. 2a).

Sachverhalt

    A.- X. wurde im Jahre 1984 in Deutschland zu einer Freiheitsstrafe
von zwei Jahren und sechs Monaten abzüglich 31 Tage Untersuchungshaft
verurteilt. Aufgrund eines Fahndungsersuchens von Interpol Wiesbaden
vom 25. April 1986 und eines formellen Gesuchs des Niedersächsischen
Ministers der Justiz vom 2. Mai 1986 um Verhaftung zwecks Auslieferung
zum Vollzug der genannten Freiheitsstrafe wurde X. am 23. Mai 1986 in
Zürich festgenommen. Das Bundesamt für Polizeiwesen (BAP) erliess am
26. Mai 1986 einen Auslieferungshaftbefehl, welcher dem Betroffenen am
Tag darauf ausgehändigt wurde.

    X. widersetzte sich der Auslieferung nach Deutschland und liess am
29. Mai 1986 durch seinen Rechtsanwalt Einsprache erheben. Gleichzeitig
stellte er den Antrag, es sei ihm in der Person seines Anwaltes ein
unentgeltlicher Prozessbeistand zu bestellen. Mit Zwischenverfügung vom
3. Juni 1986 lehnte das BAP dieses Gesuch ab. Zur Begründung führte es
aus, gemäss Art. 21 IRSG sei ein solcher nur dann notwendig, wenn es die
Wahrung der Interessen des Verfolgten erfordere. Dies sei namentlich dann
der Fall, wenn der Verfolgte aus einem anderen Rechtskreis stamme oder
die Sprache des Verfahrens nicht verstehe. Keine dieser Voraussetzungen
sei vorliegend gegeben. Zudem würden die zur Verweigerung der Auslieferung
an die BRD angeführten Gründe auch keine Fragen komplexer Natur aufwerfen.

    X. erhob gegen diesen Entscheid Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim
Bundesgericht.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 21 Abs. 1 IRSG ist dem Verfolgten ein amtlicher
Beistand zu bestellen, wenn es die Wahrung seiner Interessen erfordert.

    a) Vor dem Inkrafttreten des IRSG hat das Bundesgericht in seiner
Praxis zum Auslieferungsrecht einen Anspruch des Verfolgten auf
Verbeiständung in gleicher Weise anerkannt wie denjenigen des wegen
eines inländischen Strafverfahrens in Untersuchungshaft befindlichen
Angeschuldigten, d.h. vor allem dann, wenn er von einer Strafe bedroht
war, deren Dauer nach schweizerischem Recht den bedingten Strafvollzug
ausschliesst (BGE 107 Ib 80 E. 4 mit Hinweisen). Im unveröffentlichten
Entscheid vom 8. April 1983 i.S. Z. führte das Gericht aus, es sei
anzunehmen, dass Art. 21 Abs. 1 IRSG keine Verschärfung der bisherigen
Praxis verlange. Dies widerspräche vielmehr der Botschaft des Bundesrates,
die betone, eines der wesentlichen Anliegen des neuen Gesetzes sei
die Verbesserung des Rechtsschutzes (BBl 1976 II 457). Es erscheint als
gerechtfertigt, den Angeschuldigten in einem schweizerischen Strafverfahren
und den Verfolgten gemäss Art. 21 Abs. 1 IRSG insofern gleich zu behandeln,
als beiden einen Anspruch auf wirksamen Rechtsschutz in der Schweiz
zuzuerkennen ist. Sowohl Art. 4 BV (für den Angeschuldigten) wie auch
Art. 21 Abs. 1 IRSG (für den Verfolgten) verlangen nach ihrem Sinn,
dass die Betroffenen ihre Rechte wirksam wahrnehmen können, und zwar
unabhängig von ihrer finanziellen Situation. Eine Differenzierung in
dieser Hinsicht würde sich kaum rechtfertigen lassen, sind doch beide
letztlich von denselben schweren Eingriffen in ihre Rechte bedroht.
Diese Übereinstimmung in bezug auf das Ziel der Norm führt freilich
nicht notwendigerweise auch zum gleichen Normgehalt, d.h. zu denselben
Voraussetzungen, unter denen der Anspruch auf einen unentgeltlichen
Rechtsbeistand bejaht werden muss. Es ist zu berücksichtigen, dass
der Zweck des innerstaatlichen Verfahrens im Rahmen der internationalen
Rechtshilfe in Strafsachen abgesehen von Ausnahmen (z.B. stellvertretende
Strafverfolgung gemäss Art. 85 ff. IRSG) nicht darin besteht, über
Schuld und Strafe zu urteilen. Diese Fragen werden regelmässig im
ersuchenden Staat entschieden, wo der Betroffene denn auch seine
Verteidigung gegen die Anschuldigungen zu führen hat. Im Rechtshilfe-
und Auslieferungsverfahren stellen sich andere rechtliche Probleme. Dem
Entscheid nach Art. 21 Abs. 1 IRSG dieselben Voraussetzungen zugrunde
zu legen, welche das Bundesgericht für die unentgeltliche Verteidigung
in Strafsachen gemäss Art. 4 BV entwickelt hat (vgl. dazu BGE 111 Ia 83
E. 2c mit Hinweisen sowie ROBERT LEVI, Schwerpunkte der strafprozessualen
Rechtsprechung des Bundesgerichts und der Organe der Europäischen
Menschenrechtskonvention, in Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht,
102/1985, S. 345 ff., S. 351), rechtfertigt sich deshalb nur, wenn im
Verfahren zur Hauptsache auch über Schuld und Strafe des Verfolgten
zu entscheiden ist (vgl. Art. 85 ff. IRSG). In allen anderen Fällen
muss für die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes gemäss
Art. 21 Abs. 1 IRSG in erster Linie wegleitend sein, ob sich in bezug
auf das Rechtshilfe- bzw. Auslieferungsverfahren schwierige Rechts- und
Tatfragen stellen, die den Beizug eines Rechtsbeistandes notwendig machen,
damit eine wirksame Wahrung der Rechte des Verfolgten gewährleistet ist
(vgl. HANS SCHULTZ, Gesetzgebung und Rechtsprechung der Schweiz auf
dem Gebiet der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen 1982-84,
im Schweizerischen Jahrbuch für internationales Recht 1985, Zürich
1986, S. 323 ff., 354). Dies entspricht auch weitgehend der Praxis der
Strassburger Organe zu Art. 6 Ziffer 3 lit. c EMRK (vgl. FROWEIN/PEUKERT,
EMRK-Kommentar, Kehl a.Rh. etc. 1985, N 135 zu Art. 6, S. 177). Es ist
somit allein aufgrund der konkreten Umstände des Falles zu entscheiden,
ob ein unentgeltlicher Rechtsbeistand zu ernennen ist oder nicht. Daraus
folgt, dass bei der Anwendung der genannten Voraussetzung weitere
Gesichtspunkte mit zu berücksichtigen sind. Es ist soweit als möglich in
Betracht zu ziehen, ob der Verfolgte überhaupt über diejenigen Fähigkeiten
und Kenntnisse verfügt, die notwendig sind, um die als nicht überaus
schwierig qualifizierten Rechts- und Tatfragen zu erkennen und dazu
hinreichend Stellung nehmen zu können. Dies ist um so unwahrscheinlicher,
je mehr sich der Kultur- und Rechtskreis, aus welchem der Verfolgte
stammt, vom schweizerischen unterscheidet, und je weniger er die Sprache
versteht, in welcher das Verfahren geführt wird. Die Einschaltung eines
Dolmetschers kann diesen Mangel nur beschränkt beheben. Auch soweit die
EMRK den Anspruch auf einen unentgeltlichen Rechtsbeistand gewährleistet,
besteht dieser unabhängig vom Recht, einen Dolmetscher zu verlangen (Art. 6
Ziffer 3 lit. c und e). Weiter muss der Tatsache, dass der Verfolgte sich
in Auslieferungshaft befindet, Rechnung getragen werden. In diesem Fall
sind nämlich seine Möglichkeiten, selbst für die Wahrung seiner Rechte
zu sorgen, eingeschränkt. Auch wenn die Strafdrohung bzw. die verhängte
Strafe beim Entscheid gemäss Art. 21 Abs. 1 IRSG keine absolute Grenze
bildet, so kann doch die Schwere der Anschuldigungen durch den ersuchenden
Staat bzw. die Höhe der im Ausland zu verbüssenden Strafe - vor allem in
Grenzfällen - als ergänzender Gesichtspunkt mit berücksichtigt werden,
insbesondere dann, wenn der Verfolgte Einwände erhebt, die entgegen dem
Grundsatz, dass über Schuld und Strafe allein im ersuchenden Staat zu
befinden ist, zu einer beschränkten Überprüfung dieser Fragen führen
(z.B. Einwand des Alibibeweises gemäss Art. 53 IRSG).

    Da das Recht auf wirksamen Rechtsschutz ein wichtiges Element
jedes rechtsstaatlichen Verfahrens bildet, ist sorgfältig zu prüfen,
ob die Umstände des konkreten Falles im Hinblick auf Ziel und
Zweck von Art. 21 Abs. 1 IRSG und unter Anwendung der dargelegten,
im übrigen aber nicht abschliessend verstandenen Gesichtspunkte die
Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes verlangen oder nicht
(vgl. unveröffentlichtes Urteil vom 21. März 1984 i.S. U., E. 2a
sowie HANS SCHULTZ, aaO S. 353 unten). Art. 21 Abs. 1 IRSG räumt als
Generalklausel den zuständigen Behörden einen weiten Beurteilungsspielraum
ein. Daraus folgt, dass sie ihre Entscheide relativ ausführlich zu
begründen haben (vgl. dazu BGE 112 Ia 110 E. 2b sowie BGE 108 Ib 195 E. 5d,
104 Ia 213 E. 5g).

    b) Prüft man den vorliegenden Fall im Lichte dieser Grundsätze,
so ergibt sich folgendes: Der Beschwerdeführer widersetzt sich seiner
Auslieferung vor allem mit der Begründung, das Urteil des Landgerichts
Aurich vom 9. Oktober 1984 widerspreche den in der Schweiz aus dem
ordre public fliessenden Vorstellungen des Strafrechts. Er macht in
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend, es sei ihm nicht zuzumuten,
sich ohne Beistand auf die Grundsätze des schweizerischen ordre public
zu berufen. Dieser Einwand ist aber nicht geeignet, den Anspruch auf
einen unentgeltlichen Rechtsbeistand zu belegen, denn nach konstanter
Rechtsprechung kann die Schweiz eine Auslieferung in ein Land, mit
dem vertragliche Bindungen bestehen, nicht durch Berufung auf den
innerstaatlichen ordre public ablehnen, es sei denn, dieser werde
in den Verträgen ausdrücklich vorbehalten (BGE 109 Ib 173 E. 7b mit
Hinweisen). Sowohl Deutschland wie die Schweiz sind dem Europäischen
Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 beigetreten, und sie
haben dieses durch einen bilateralen Vertrag ergänzt (Vertrag zwischen
der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland
über die Ergänzung des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom
13. Dezember 1957 und die Erleichterung seiner Anwendung vom 13. November
1969). In keinem der beiden Verträge wird der schweizerische ordre public
vorbehalten. Die übrigen rechtlichen Fragen, welche der Beschwerdeführer
in seinen Eingaben selbst aufwirft oder die sich sonstwie stellen,
können nicht als schwierig bezeichnet werden. Der Beschwerdeführer
hat zur wirksamen Vertretung der von ihm erhobenen Einwände vor allem
rechtserhebliche Tatsachen vorbringen müssen. Dazu aber wäre er so
gut in der Lage gewesen wie der von ihm beauftragte Anwalt, den er nun
als unentgeltlichen Rechtsbeistand bestätigt haben möchte. Dies gilt
nicht nur für die Frage, ob die Auslieferung im Hinblick auf eine
soziale Wiedereingliederung in der Schweiz abzulehnen sei (Art. 37
IRSG), sondern auch für die Berufung auf das Recht auf Achtung des
Familienlebens gemäss Art. 8 EMRK. Um eine Eingabe entsprechend abzufassen,
wären offensichtlich keine besonderen Nachforschungen oder Abklärungen
notwendig gewesen. Der Beschwerdeführer macht auch nicht geltend, er
sei nicht fähig gewesen, die notwendigen Eingaben selbst rechtzeitig zu
schreiben. Die Verfahrenssprache ist seine Muttersprache, so dass sich auch
in dieser Hinsicht keine besonderen Probleme gestellt hätten. Unter diesen
Umständen kann offenbleiben, ob eine wesentliche Differenz zwischen der
Rechtstradition Deutschlands und der Schweiz besteht und inwiefern diese
für das Auslieferungsverfahren in der Schweiz entscheidend wäre. Da es
sich offensichtlich um keinen Grenzfall handelt, kann der Tatsache, dass
der Beschwerdeführer in Deutschland eine Freiheitsstrafe von mehr als
zwei Jahren zu verbüssen hat, keine entscheidende Bedeutung mehr zukommen.

    Das Bundesamt für Polizeiwesen hat somit kein Bundesrecht verletzt,
wenn es das Gesuch um Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes
abgelehnt hat. Die Beschwerde ist abzuweisen.