Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 IB 334



112 Ib 334

53. Beschluss der I. Zivilabteilung vom 11. November 1986 i.S. C. gegen
Kanton Zürich (Direktprozess) Regeste

    Verfahren; Art. 23 lit. b BZP.

    Anforderungen an die Bezifferung des Rechtsbegehrens bei einer
Schadenersatzklage (E. 1).

    Staatshaftung für spitalärztliche Tätigkeit (Art. 61 OR; Haftungsgesetz
des Kantons Zürich vom 14. September 1969). Behandlung von Privatpatienten;
Abgrenzung zwischen amtsärztlicher Spitaltätigkeit und privatärztlicher
Tätigkeit des Chefarztes.

    Schädigungen an Privatpatienten des Chefarztes, für welche ein unter
dessen Leitung operierendes Spitalteam verantwortlich gemacht wird,
unterliegen der Staatshaftung (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Die am 20. September 1978 geborene C., Tochter eines in Mailand
wohnhaften iranischen Staatsangehörigen, litt seit ihrer Geburt an einem
schweren Herzfehler, der verschiedene Spitalaufenthalte und Operationen
in Mailand und Zürich nötig machte. Am 9. November 1981 kam es im
Universitätsspital Zürich unter der Leitung von Professor X. zu einer
dritten Operation. Im Verlauf dieses Eingriffs wurde eine Coronararterie
durchtrennt und sodann eine Kanüle der Herz-Lungen-Maschine versehentlich
in die Arteria pulmonalis statt in die Aorta eingeführt. Weil das angeblich
erst nach 15 Minuten festgestellt wurde, kam es zu einer ungenügenden
Blutversorgung des Gehirns und einer schweren Hirnschädigung, weshalb
das Kind heute dauernd invalid und pflegebedürftig ist.

    B.- Gestützt auf das zürcherische Gesetz über die Haftung des Staates
und der Gemeinden sowie ihrer Behörden und Beamten vom 14. September 1969
(Haftungsgesetz, HG) erhob C. am 29. Januar 1986 beim Bundesgericht
Klage gegen den Kanton Zürich, nachdem sie am 27. Oktober 1983 beim
Regierungsrat erfolglos Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche angemeldet
hatte. Sie beantragt, den Beklagten zu verpflichten, ihr als Schadenersatz
und Genugtuung einen Fr. 8'000.-- übersteigenden, nach richterlichem
Ermessen festzusetzenden Betrag sowie 5% Zins seit 9. November 1981 zu
bezahlen. Der Beklagte beantragte in der Klageantwort vom 28. Mai 1986
Abweisung der Klage, weil das Haftungsgesetz nicht anwendbar und er daher
nicht passivlegitimiert sei sowie weil es an einer widerrechtlichen und
schuldhaften Handlung im Sinn des Haftungsgesetzes fehle. Der Klägerin
wurde zur Frage der Passivlegitimation des Beklagten das Replikrecht
eingeräumt (Art. 32 Abs. 2 BZP), wovon sie am 25. Juni 1986 Gebrauch
machte. Am 25. September 1986 fand die Vorbereitungsverhandlung statt.
Dabei wurde auf Wunsch des Beklagten eine Beschränkung der Hauptverhandlung
auf die Frage der Passivlegitimation in Aussicht genommen. An der heutigen
Hauptverhandlung bekräftigte der Beklagte seinen Antrag, auf die Klage
sei mangels Passivlegitimation nicht einzutreten, während die Klägerin
ihrerseits daran festhielt, dass der Beklagte passivlegitimiert sei.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Zuständigkeit des Bundesgerichts ist gegeben und
unbestritten. Das gilt auch insoweit, als die Klage sich auf das kantonale
Haftungsgesetz stützt (BGE 111 II 150 mit Hinweisen).

    Die Klägerin fordert einen unbestimmten, Fr. 8'000.-- übersteigenden
Gesamtbetrag; der Beklagte hat dagegen nichts einzuwenden. Das Gesetz
verlangt, dass die Klageschrift das Rechtsbegehren enthält, ohne die
Anforderungen an dieses zu umschreiben (Art. 23 lit. b BZP). Zwar müssen im
Berufungsverfahren vor Bundesgericht bezifferte Berufungsanträge gestellt
werden (Art. 55 Abs. 1 lit. b OG; vgl. BGE 101 II 373 mit Hinweisen);
doch kann das nicht auch für Direktprozesse gelten. Es ist vielmehr ein
Grundsatz des materiellen Bundesrechts, dass in Fällen, wo sich ein Schaden
nicht oder nur schwer ziffernmässig nachweisen lässt, vom Geschädigten
zwar verlangt werden darf, dass er Anhaltspunkte für den Schaden liefert,
nicht aber dass er den Schaden genau beziffert (BGE 98 II 36 E. 2, 97 II
218 mit Hinweisen). Im Bereich des Zumutbaren ist die Klägerin dieser
Auflage nachgekommen. So hat sie für die Vergangenheit ziffernmässig
einen Schaden von rund Fr. 300'000.-- näher begründet und eine Genugtuung
von Fr. 75'000.-- bis 150'000.-- geltend gemacht. Sie hat überdies den
hinsichtlich der Zuständigkeit erforderlichen Mindestbetrag genannt (dazu
BGE 77 II 187 E. 10). Im übrigen wird sie zu einer genaueren Bezifferung
angehalten werden können, wenn die Beweisergebnisse vorliegen.

Erwägung 2

    2.- Der Beklagte bestreitet zu Recht nicht mehr, für Vorkommnisse im
Universitätsspital Zürich grundsätzlich nach Massgabe des Haftungsgesetzes
einstehen zu müssen, sofern der Schaden auf die amtliche Tätigkeit der
Spitalärzte zurückzuführen ist (BGE 111 II 151 E. 3 und 4). Er macht jedoch
geltend, es gehe vorliegend um die privatärztliche, nicht um die amtliche
Tätigkeit von Professor X., weil die Klägerin dessen Privatpatientin
gewesen sei und seine persönliche Verrichtung in Frage stehe; nach der
Verordnung über die kantonalen Krankenhäuser (KHV) vom 28. Januar 1981
unterstehe das Verhältnis der Privatpatienten zu den Ärzten dem Privatrecht
(§ 36 Abs. 3 KHV). Die Klägerin hält diese Verordnungsbestimmung für
nichtig, weil sie sowohl dem materiellen Bundesrecht wie dem kantonalen
Haftungsgesetz zuwiderlaufe.

    a) In BGE 111 II 153 ff. E. 5, auf den beide Parteien in diesem
Zusammenhang verweisen, ging es um den Privatpatienten eines andern
Chefarztes des Universitätsspitals Zürich, der durch einen Oberarzt einen
ambulanten Eingriff vornehmen liess. Anhand der Krankenhausverordnung
stellte das Bundesgericht fest, dass die Privatarztbewilligung der
Chefärzte nur deren persönliche Verrichtungen erfasse (§ 30 Abs. 2
KHV); da es damals an diesem Erfordernis fehlte, konnte offengelassen
werden, wieweit im übrigen nach der kantonalen Ordnung die Behandlung
von Privatpatienten als amtliche oder als private ärztliche Tätigkeit
einzustufen wäre (BGE 111 II 155 E. 5d). Die Frage braucht auch vorliegend
nicht abschliessend behandelt zu werden.

    b) Es trifft nämlich nicht zu, dass es vorliegend nur um die unrichtige
Kanülierung als persönliche Verrichtung Professor X.'s ginge. Die Klägerin
macht den Beklagten sowohl für die Verletzung der Kranzarterie, als auch
für die Fehlkanülierung und schliesslich dafür verantwortlich, dass dieser
Fehler und die dadurch bewirkte ungenügende Blutversorgung des Gehirns
erst nach 15 Minuten entdeckt und behoben worden seien. An der Operation
seien insgesamt fünf Ärzte beteiligt gewesen, wobei für die Unterbrechung
der Sauerstoffversorgung des Gehirns, die entscheidend gewesen sei,
unmittelbar nicht der Chefarzt, sondern ein Anästhesist verantwortlich
gewesen sei. Insoweit fehlt es bereits an den tatsächlichen Voraussetzungen
für die Annahme einer Schädigung aus privatärztlicher Tätigkeit im Sinn
von § 36 Abs. 3 KHV.

    c) Die eigenartige Rechtsnorm der privatärztlichen Tätigkeit von
Chefärzten an öffentlichen Spitälern hat offenkundig besoldungsrechtliche
Gründe (vgl. dazu BGE 100 Ia 316 ff. sowie das auszugsweise in ZBl
87/1986, S. 265 ff. veröffentlichte Urteil des Bundesgerichts vom
18. Oktober 1985 zu § 30 bzw. § 30a KHV; im gleichen Sinn der Antrag des
Regierungsrats vom 23. April 1986 für einen neuen § 39a des kantonalen
Gesundheitsgesetzes, wonach den leitenden Spitalärzten bewilligt werden
kann, "Patienten auf eigene Rechnung zu behandeln" [Amtsblatt 1986
S. 706]). Das schliesst nicht aus, dass die allgemeine Fassung von § 36
Abs. 3 KHV, wonach das Verhältnis der Privatpatienten zu den Ärzten dem
Privatrecht untersteht, auch haftpflichtrechtlich zu verstehen wäre. Darin
läge jedoch ein Abweichen vom Grundsatz, dass das Haftungsgesetz auf die
öffentlichen Spitäler anwendbar ist und damit auch auf die Spitalärzte,
die in einem öffentlichrechtlichen Dienstverhältnis stehen (BGE 111 II
151 E. 3). Die Verordnungsbestimmung darf nicht zu einer Aushöhlung des
Haftungsgesetzes in diesem Bereich führen. Das wäre indes der Fall, wenn
Schädigungen, für welche ein ganzes Spitalteam verantwortlich gemacht wird,
wegen angeblich privatärztlicher Tätigkeit des Chefarztes der Staatshaftung
entzogen würden.

    Aber selbst wenn - anders als vorliegend - im vornherein feststünde,
dass nur der Chefarzt für einen Operationsfehler einzustehen hätte, würde
das für den Ausschluss des Haftungsgesetzes nicht genügen. Dem geschädigten
Patienten oder seinen Hinterbliebenen ist es - wie die Klägerin
zutreffend bemerkt - in der Regel nicht möglich, den Handlungsanteil
der verschiedenen an einer Operation beteiligten Personen festzustellen,
was einer einheitlichen Rechtsregel ruft. Die komplizierte Rechtslage,
welche der Beklagte aus Rücksicht auf die Honorarbedürfnisse der Chefärzte
geschaffen hat, darf nicht haftungsrechtlich zu einer Regelung führen,
die für die Geschädigten völlig undurchsichtig ist. Das gilt gerade
auch für ausländische Patienten. § 36 Abs. 3 KHV muss deshalb in dem
Sinn einschränkend ausgelegt werden, dass er am öffentlichrechtlichen
Haftungsverhältnis nichts ändert.

    Da sich dies schon aus dem massgeblichen kantonalen Recht ergibt
(vgl. dazu BGE 102 II 45 f. und 82 II 321 ff.), kann dahingestellt
bleiben, ob eine gegenteilige Auslegung des kantonalen Rechts überhaupt
vor Bundesprivatrecht Bestand hätte. Es kann auch offenbleiben, wieweit
allenfalls die Behandlung von ambulanten Patienten in der dem Chefarzt
bewilligten Sprechstunde oder seine Gutachtentätigkeit vom kantonalen
Haftungsgesetz ausgenommen werden kann. Für hospitalisierte (stationäre)
Patienten, die mit dem Spitaleintritt ohnehin in ein öffentlichrechtliches
Verhältnis zum Spital treten (BGE 111 II 154 E. 5a mit Hinweisen), schiene
eine solche Differenzierung mit dem Sinn des kantonalen Haftungsgesetzes
nicht vereinbar (zugunsten einer Unterstellung unter öffentliches Recht
auch SCHLUEP, Innominatverträge, in Schweizerisches Privatrecht VII/2,
S. 943; SCHWARZENBACH, Die Staats- und Beamtenhaftung in der Schweiz
mit Kommentar zum zürcherischen Haftungsgesetz, 2. Aufl., S. 118 und
177; BISCHOF, Amtshaftung an der Grenze zwischen öffentlichem Recht und
Obligationenrecht [Art. 61 OR], ZSR 104/1985 I S. 81/82).

    d) Der Beklagte kann sich daher der Beurteilung der Klage aufgrund
des Haftungsgesetzes nicht entziehen, seine Passivlegitimation ist zu
bejahen. Im übrigen ist anerkannt, dass die Klage in gültiger Weise
erhoben worden und nicht verwirkt ist (§§ 23 und 24 HG).

Entscheid:

            Demnach beschliesst das Bundesgericht:

    Es wird festgestellt, dass die Passivlegitimation des Beklagten
gegeben ist.