Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 IA 97



112 Ia 97

18. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 5.
Februar 1986 i.S. X. gegen Vormundschaftsbehörde, Justizdepartement
und Appellationsgericht als Verwaltungsgericht des Kantons Basel-Stadt
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV (Akteneinsicht), persönliche Freiheit, Art. 8 EMRK.

    1. Der Anspruch, die abgeschlossenen Vormundschaftsakten hinsichtlich
der ausserehelichen Vaterschaft und der Jugendzeit einzusehen, beurteilt
sich nach dem kantonalen Verfahrensrecht und nach dem aus Art. 4 BV
abgeleiteten Akteneinsichtsrecht.

    2. Interessenabwägung im vorliegenden Fall; Verneinung eines Anspruchs
auf vollständige Akteneinsicht.

Sachverhalt

    A.- Nachdem Frau Z., geboren am 19. Mai 1935, am 13. April 1959 an
ihrem Wohnort Basel ihre Schwangerschaft angezeigt hatte, errichtete die
Vormundschaftsbehörde Basel-Stadt eine Beistandschaft gemäss Art. 311
ZGB (in seiner damaligen Fassung). Knapp ein Jahr nach der am 7. Oktober
1959 erfolgten Geburt des Knaben X. wurde diese Beistandschaft in eine
Vormundschaft gemäss Art. 368 Abs. 1 ZGB umgewandelt. Im September 1961
zog Frau Z. nach Zürich. Dort war auch ihr Sohn X. seit 26. Juli 1962
bei einer Pflegefamilie untergebracht. Am 30. Oktober 1962 beschloss
die Vormundschaftsbehörde der Stadt Zürich, die Vormundschaft für X.
im Sinne von Art. 377 ZGB zur Weiterführung in Zürich zu übernehmen. Die
bis zur Abtretung der Vormundschaft in Basel ergangenen Akten - das
letzte Aktenstück datiert vom 16. November 1962 - wurden im Staatsarchiv
Basel-Stadt abgelegt.

    Am 8. Oktober 1980 begab sich X. zur Vormundschaftsbehörde Basel-Stadt
und ersuchte um Einsicht in die ihn betreffenden Akten. Damit wollte
er vornehmlich in Erfahrung bringen, zu welchen Unterhaltsbeiträgen
sein (ausserehelicher) Vater verpflichtet worden war und ob er diese
bezahlt habe. Die Behörde verweigerte X. die Einsicht in die Akten;
immerhin wurde er von einem Beamten der vormundschaftlichen Abteilung
über verschiedene Belange, insbesondere über die seinerzeitige Regelung
der Unterhaltsbeiträge, informiert.

    Mit Eingabe an die Vormundschaftsbehörde Basel-Stadt vom 2. August 1984
liess X. durch einen Anwalt das Gesuch um Akteneinsicht wiederholen mit
der Begründung, es gehe um die Wahrung von Alimentenforderungen gegenüber
seiner Mutter. Am 9. August 1984 gab die Vormundschaftsbehörde dem Anwalt
die Höhe der Unterhaltsleistungen gemäss Vaterschaftsanerkennung bekannt
und lehnte im übrigen das Begehren um Akteneinsicht ab. Auf das Ersuchen
des Anwaltes hin erliess die Behörde am 25. September 1984 eine begründete
und rekursfähige Verfügung.

    Einen hiegegen erhobenen Rekurs wies das Justizdepartement des Kantons
Basel-Stadt am 12. Dezember 1984 ab. Gegen diesen Entscheid liess X. Rekurs
an das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt als Verwaltungsgericht
einreichen. Dieses wies am 5. Juni 1985 den Rekurs ab.

    X. führt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des
Urteils des Appellationsgerichtes Basel-Stadt vom 5. Juni 1985 sowie des
Entscheides des Justizdepartementes Basel-Stadt vom 12. Dezember 1984; er
verlangt, die Vormundschaftsbehörde des Kantons Basel-Stadt sei anzuweisen,
ihm Einsicht in seine Akten betreffend Beistandschaft zu gewähren.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer erblickt darin, dass die kantonalen Behörden
ihm die Einsichtnahme in die ihn betreffenden Vormundschaftsakten
verweigerten, einen unverhältnismässigen Eingriff in seine persönliche
Freiheit sowie eine Verletzung von Art. 8 EMRK.

    Beruft sich ein Beschwerdeführer für den nämlichen Anspruch
gleichzeitig auf ein verfassungsmässiges Recht und auf eine Bestimmung der
EMRK, so prüft das Bundesgericht in der Regel zunächst, ob der angefochtene
Entscheid gegen die Bundesverfassung verstosse. Dabei berücksichtigt es
allerdings gegebenenfalls die Konkretisierung bestimmter Rechtsgrundsätze
durch die Konventionsorgane (BGE 111 Ia 82 E. 2b mit Hinweisen).

Erwägung 4

    4.- Das Appellationsgericht hat den vom Beschwerdeführer erhobenen
Rekurs im wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, es stehe ihm
nach Massgabe von Art. 4 BV in Verbindung mit der dazu entwickelten
bundesgerichtlichen Rechtsprechung kein Anspruch auf Einsicht in
die Vormundschaftsakten zu. Zum selben Ergebnis gelangte es auch in
Berücksichtigung von Art. 8 EMRK. Das ungeschriebene verfassungsmässige
Recht der persönlichen Freiheit bildete nicht ausdrücklich Gegenstand
der Erwägungen des kantonalen Gerichtes.

    Der Beschwerdeführer ist der Auffassung, der von ihm geltend gemachte
Anspruch auf Akteneinsicht finde seine rechtliche Grundlage nicht in
Art. 4 BV, wie dies vom Appellationsgericht vermutet werde, sondern im
Grundrecht der persönlichen Freiheit. Somit wirft er ihm sinngemäss eine
fehlerhafte Rechtsanwendung vor. Dazu ist er im vorliegenden Verfahren
berechtigt, hatte er doch seinen Anspruch schon vor Appellationsgericht
auf das Recht der persönlichen Freiheit abgestützt.

    Im einzelnen führt der Beschwerdeführer vor Bundesgericht aus, die
Kenntnis der eigenen Lebensgeschichte gehöre zum wichtigsten Teil seiner
Privatsphäre. Dies betreffe die Kenntnis aller Gegebenheiten seines
Lebens, die er persönlich erfahren habe. Das verfassungsmässige Recht
auf Herrschaft über seine eigene Privatsphäre und über die Kenntnis der
eigenen Erlebnisse dürfe nicht vom Zeitpunkt abhängig gemacht werden,
in welchem die Ausübung dieses Rechts verlangt werde, was sich gemäss
ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts aus der Unverzichtbarkeit und
Unverjährbarkeit der persönlichen Freiheit ergebe. Deshalb habe er, der
Beschwerdeführer, noch heute einen Anspruch auf Zugang zu Aufzeichnungen
über Tatsachen, die er persönlich erlebt habe; dieser Zugang ersetze
lediglich sein fehlendes Erinnerungsvermögen.

Erwägung 5

    5.- a) Das Akteneinsichtsrecht wird im allgemeinen durch das
kantonale Verfahrensrecht umschrieben. Im vorliegenden Fall fehlen
allerdings kantonalrechtliche Grundlagen; das baselstädtische Recht
enthält keine Regelung des Rechts auf Akteneinsicht im kantonalen
Verwaltungsverfahren. Eine Verletzung kantonaler Normen macht der
Beschwerdeführer denn auch nicht geltend. Vielmehr erachtet er - wie
erwähnt - das ungeschriebene verfassungsmässige Recht der persönlichen
Freiheit als Grundlage seines Anspruchs auf Akteneinsicht. Darin,
dass die kantonalen Behörden ihm die Einsicht in die ihn betreffenden
Vormundschaftsakten verweigerten, erblickt er einen unverhältnismässigen
Eingriff in dieses Grundrecht.

    b) Nach der neueren Praxis des Bundesgerichts schützt die persönliche
Freiheit als zentrales Freiheitsrecht nicht nur die Bewegungsfreiheit
und die körperliche Integrität, sondern darüber hinaus alle Freiheiten,
die elementare Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung des Menschen
darstellen (BGE 109 Ia 279 E. 4a; 108 Ia 60 E. 4a, je mit Hinweisen). Das
Bundesgericht hat indessen wiederholt zum Ausdruck gebracht, nicht
jeder beliebige Eingriff in das Recht der Persönlichkeit rechtfertige
die Berufung auf ein ungeschriebenes verfassungsmässiges Recht, da sich
sonst dieses von andern teils durch die Verfassung, teils durch Gesetze
geschützten Ansprüchen nicht mehr abgrenzen liesse (BGE 107 Ia 56 E. 3a mit
Hinweisen); namentlich habe die persönliche Freiheit nicht die Funktion
einer allgemeinen Handlungsfreiheit, auf die sich der Einzelne gegenüber
jedem staatlichen Akt, der sich auf seine persönliche Lebensgestaltung
auswirkt, berufen könnte (BGE 108 Ia 61 E. 4a mit Hinweisen).

    Die verfassungsrechtliche Garantie der persönlichen Freiheit kann -
um nicht völlig überdehnt zu werden - nicht vor jedem physischen und
psychischen Missbehagen bewahren. Sie bietet nur dort Schutz, wo das
Wohlbefinden des Menschen erheblich beeinträchtigt wird und sich diese
Beeinträchtigung nicht gegen andere verfassungsmässige oder gesetzliche
Rechte richtet, wie das im vorliegenden Fall zutrifft: Wenn - wie hier
- das kantonale Recht das Akteneinsichtsrecht nur ungenügend bzw. gar
nicht schützt, wird dieses durch die unmittelbar aus Art. 4 BV folgenden
Verfahrensregeln gewährleistet, wobei das Bundesgericht grundsätzlich frei
prüft, ob die durch diese Verfassungsbestimmung aufgestellten Anforderungen
eingehalten wurden (BGE 110 Ia 85 E. 3b, mit Hinweisen). Nach der neueren
bundesgerichtlichen Rechtsprechung besteht das aus Art. 4 BV abgeleitete
Akteneinsichtsrecht nicht nur für ein laufendes, sondern ausnahmsweise
auch für ein - wie in casu - schon abgeschlossenes Verfahren, sofern der
Gesuchsteller ein schutzwürdiges Interesse glaubhaft machen kann (BGE 95
I 108). Ob es sich um ein laufendes oder um ein abgeschlossenes Verfahren
handle, der Anspruch auf Akteneinsicht findet stets seine Grenzen am
Interesse des Staates oder gewisser Privatpersonen an der Geheimhaltung
der Akten (BGE 110 Ia 85 E. 4a, mit Hinweisen).

    Selbst wenn der Beschwerdeführer sich zur Begründung seines Begehrens
auf das Grundrecht der persönlichen Freiheit zu berufen vermöchte,
unterläge es gegebenenfalls, wenn die Sach- und Rechtslage es erforderlich
machen würde, mehr oder weniger schweren Beschränkungen. Dessen ist sich
im übrigen auch der Beschwerdeführer zweifellos bewusst, rügt er doch -
wenn man ihn bei seinem eigenen Worte nimmt - einen unverhältnismässigen
Eingriff in seine persönliche Freiheit. Da er Zugang zu unter Verschluss
liegenden Akten der Verwaltung verlangt, die Aufzeichnungen nicht nur
über ihn selber, sondern auch über verschiedene Bezugspersonen aus der
Frühzeit seines Lebens enthalten, muss er es sich gefallen lassen,
dass die Behörde, die über sein Gesuch um Akteneinsicht zu befinden
hat, die auf dem Spiel stehenden öffentlichen und privaten Interessen
gegeneinander abzuwägen hat. Der Beschwerdeführer irrt jedoch, wenn er
glaubt, dass diese Interessenabwägung, je nachdem, ob sich der Anspruch
auf Akteneinsicht nach Massgabe von Art. 4 BV oder aber gemäss dem von
ihm angerufenen verfassungsmässigen Recht der persönlichen Freiheit
beurteile, nach einem qualitativ andern Massstab zu erfolgen habe: Wie
das Bundesgericht frei prüft, ob höhere Interessen der Öffentlichkeit oder
bestimmter Privater einen Eingriff in die persönliche Freiheit erfordern
(BGE 107 Ia 57 f. E. 3d; 108 Ia 61 ff.), so prüft es auch frei, ob solche
Interessen demjenigen an der Gewährung des unmittelbar aus Art. 4 BV
abgeleiteten Akteneinsichtsrechts entgegenstehen (BGE 95 I 109; 110 Ia
83 ff., mit Hinweisen).

    Was der Beschwerdeführer unter Berufung auf die persönliche
Freiheit vorbringt, um sein Begehren um Einsicht in die ihn betreffenden
Vormundschaftsakten zu begründen, ist im Rahmen der - wie ausgeführt -
auch nach Art. 4 BV in freier Prüfung vorzunehmenden Abwägung der einander
gegenüberstehenden Interessen zu würdigen. Art. 4 BV ist verletzt,
wenn die kantonale Behörde schutzwürdige und hinreichend substantiierte
Interessen des Beschwerdeführers zu wenig in die Waagschale gelegt,
insbesondere wenn sie dem Grundrecht der persönlichen Freiheit zu wenig
Gewicht beigemessen hat.

Erwägung 6

    6.- a) Eine Interessenabwägung, wie sie hier vorzunehmen ist, kann
nur in Kenntnis der Akten erfolgen, für die ein Geheimhaltungsinteresse
geltend gemacht wird. Das Bundesgericht hat daher die Akten der
Vormundschaftsbehörde, die der Beschwerdeführer einsehen möchte,
beigezogen, um das von den kantonalen Behörden als vorgehend erachtete
Geheimhaltungsinteresse Dritter beurteilen zu können.

    b) Es scheint nahezuliegen, den Wunsch, den leiblichen Vater zu kennen,
als zentrales Anliegen des Beschwerdeführers zu betrachten, auch wenn
er diesen Punkt in der staatsrechtlichen Beschwerde nicht betont und ihn
auch früher nicht in den Vordergrund gerückt hat. Einem jungen Menschen
kann es offensichtlich sehr viel Mühe bereiten, nicht zu wissen, von wem
er abstammt; dies um so mehr, wenn er vermutet, hierüber lägen Akten in
seiner Griffweite, die klaren Aufschluss darüber gäben. Aus einer solchen
Situation heraus könnten sich unter Umständen sogar krankhafte Ideen
entwickeln. Von daher liegt es auf den ersten Blick nahe, die Behörden zur
Auskunftserteilung zu verpflichten, allenfalls unter gewissen Bedingungen
und Einschränkungen.

    c) Gegen eine solche Verpflichtung spricht indessen die
Entstehungsgeschichte des neuen Kindschaftsrechtes, die - wie die
nachfolgenden Ausführungen zeigen werden - in direktem Zusammenhang mit
der hier zu beurteilenden Frage steht.

    Altrechtlich bestand klarerweise die Möglichkeit, eine blosse
"Zahlvaterschaft" durch Urteil oder Vergleich zu begründen, wobei im
Vergleichsfalle der Name des Vaters nicht notwendigerweise genannt werden
musste. Für das neue Recht sah der Bundesrat vor, ein Kind, welches das 20.
Altersjahr noch nicht zurückgelegt habe, könne innert zwei Jahren nach
Inkrafttreten des neuen Rechts auf Feststellung des Kindesverhältnisses
zum Vater klagen (BBl 1974 II S. 100 ff. und S. 135). Der Ständerat
als Erstrat strich diese Bestimmung, d.h. er hielt dafür, alle noch
unter der Herrschaft des alten Rechts geborenen Kinder sollten an der
bereits getroffenen altrechtlichen Lösung nichts mehr ändern können. Der
Berichterstatter, Ständerat Arnold, führte als Beispiel an (Amtl.Bull. S
1975 S. 148), man wolle nicht, dass ein 40jähriger Mann gegen seinen
60jährigen "Zahlvater" noch auf Feststellung des Kindesverhältnisses
klagen könne (wie dies im deutschen Recht unter Einhaltung bestimmter
Fristen möglich ist). Im Nationalrat kam es gerade zu dieser
übergangsrechtlichen Bestimmung zu einer längeren Diskussion. Nationalrat
Cavelty beantragte Zustimmung zu der vom Ständerat vorgesehenen Fassung,
u.a. mit der Begründung, man wolle nicht die Möglichkeit schaffen,
"längst Erledigtes wieder aufzugreifen" (Amtl.Bull. N 1975 S. 1798):
"Wie viele Ehen würden dadurch gefährdet oder gar zerstört, oder zu
wieviel möglichen Drohungen bis Erpressungen gäbe die hier vorgesehene
Rückwirkung Anlass!" Auch Nationalrat Alder sprach sich dagegen aus,
eine Klage zuzulassen in Fällen, in denen keine Beziehung zwischen Vater
und Kind bestehe. Die Kommissionssprecher, Nationalrat Barchi und Frau
Nationalrätin Blunschy, vertraten demgegenüber eine Mittellösung zwischen
der absoluten Nichtrückwirkung, wie sie der Ständerat beschlossen hatte,
und dem Antrag des Bundesrates. Dieser Zwischenlösung, mit welcher die
Möglichkeit des Kindes, auf Feststellung des Kindschaftsverhältnisses zu
klagen, auf das 10. Altersjahr und zwei Jahre nach Inkraftsetzung des
neuen Rechts befristet wurde, schloss sich Bundesrat Furgler "schweren
Herzens" an. Der Nationalrat stimmte dem Kompromiss mit grosser Mehrheit zu
(Amtl.Bull. N 1975 S. 1798-1801).

    Die Debatte wurde bei der Differenzbereinigung im Ständerat
wiederaufgenommen. Die Kommissionsmehrheit, vertreten durch Ständerat
Arnold, beantragte, am Streichungsbeschluss festzuhalten, d.h. überhaupt
keine Rückwirkung des neuen Rechts zuzulassen. Er wurde unterstützt
durch Ständerat (heute Bundesrichter) Amstad (Amtl.Bull. S 1976 S. 95):
"Mit der Lösung des Nationalrates erklären wir Verträge, die von
der Vormundschaftsbehörde genehmigt wurden, und gerichtliche Urteile
plötzlich als anfechtbar." Ständerat Amstad wies weiter darauf hin,
dass die Angst vor Gefährdung später begründeter Familien das Gesetz
in der Volksabstimmung gefährden könnte. Demgegenüber setzten sich
Ständerat (heute Bundesrat) Aubert und Bundesrat Furgler vehement für den
nationalrätlichen Kompromiss ein, mit Betonung auf dem Grundgedanken des
Vorrangs des Kindesinteresses, wenigstens für eine kurze Übergangszeit.
Diese Lösung wurde mit 15:14 Stimmen angenommen und ist heute Gesetz
(Amtl.Bull. S 1976 S. 93-96).

    Insbesondere bei verhältnismässig jungen Gesetzen darf der Wille
des historischen Gesetzgebers nicht übergangen werden. Die zitierten
Ratsprotokolle zeigen eindrücklich, dass ein Kompromiss gesucht wurde;
dem Gesetz wäre nicht zugestimmt worden, wenn eine Lösung verlangt
worden wäre, die eine alters- und fristunabhängige Unterstellung aller
altrechtlichen Zahlvaterschaften unter das neue Recht zugelassen hätte
(selbst eine nicht so weit gehende Variante des Bundesrates wurde ja -
wie erwähnt - abgelehnt). Das hinsichtlich Rückwirkung viel weiter gehende
"deutsche Modell" wurde offenbar nur in der Expertenkommission diskutiert,
in den Räten aber nicht einmal mehr zur Debatte gestellt (vgl. zu diesem
deutschen System: CYRIL HEGNAUER, Die Übergangsbestimmungen zum neuen
Kindesrecht, Festgabe für Henri Deschenaux, Freiburg 1977, S. 169 oben).

    Es ist klar, dass das Parlament damit nicht einen Entscheid über das
Akteneinsichtsrecht des Kindes gefällt hat. Doch geht aus der geschilderten
Entstehungsgeschichte hervor, dass es die Eingriffe in altrechtliche
Vaterschaftsverhältnisse stark limitieren und ein unbeschränktes Aufrollen
weit zurückliegender Verhältnisse unter allen Umständen vermeiden
wollte. Die historische Betrachtungsweise verbietet die Überlegung,
der Grundgedanke des neuen Kindesrechtes, die Abstammungsverhältnisse
immer so gut als möglich abzuklären und das rechtliche Verhältnis dem
natürlichen anzugleichen, müsse auch bei der Lösung von Konflikten der
vorliegenden Art massgebend sein.

    d) Wird die Entstehungsgeschichte des neuen Kindesrechtes, wie sie
vorstehend dargelegt wurde, bei der hier vorzunehmenden Interessenabwägung
berücksichtigt, so drängt sich der Schluss auf, dass Zurückhaltung auch
bei der Akteneinsicht dem Willen des Gesetzgebers entspricht. Man wollte
nicht nach Jahren - oder hier nach Jahrzehnten - Fragen aufrollen lassen,
die doch recht tief in die inneren Beziehungen später gegründeter Ehen
eingreifen können. Dies muss wohl auch heute noch anerkannt werden,
obschon sich die moralischen Auffassungen über die aussereheliche Zeugung
von Kindern stark liberalisiert haben. Der Beschwerdeführer übersieht,
dass seine Biographie, wo sie ihm unbekannt ist oder lückenhaft erscheint,
mit den Lebensumständen seiner frühkindlichen Bezugspersonen auf das
engste verknüpft und verwoben ist. Die Gewährung der Akteneinsicht hätte
deshalb notwendigerweise die Preisgabe von biographischen Informationen
über Dritte an ihn zur Folge.

    Es geht zwar nicht an, in einem Fall wie dem vorliegenden das
Akteneinsichtsrecht rundweg zu versagen. Es ist aber sachgemäss, es nicht
generell zu gewähren, sondern - wie mit Bezug auf die bundesgerichtliche
Rechtsprechung bereits ausgeführt worden ist (oben E. 5b) - vom Nachweis
eines konkreten Interesses abhängig zu machen.

    Ein konkretes Interesse daran, Einsicht in alle ihn betreffenden
Vormundschaftsakten zu erhalten und damit auch den Namen seines
Vaters zu erfahren, hat der Beschwerdeführer indes nicht hinlänglich
dargetan. Vielmehr hat er sein schon im Jahre 1980 und dann erneut 1984
bekundetes Interesse an der Akteneinsicht immer wieder anders begründet,
so dass letztlich nicht ersichtlich ist, welches sein eigentliches
Interesse ist: Zuerst wollte er anhand der Vormundschaftsakten prüfen,
ob er gegenüber Vater oder Mutter noch Ansprüche finanzieller Art
geltend machen könne. In einem späteren Zeitpunkt wollte er über einen
Vaterschaftsprozess orientiert sein. Ein anderes Mal machte er geltend,
seine Mutter habe noch in Basel gegen Pflegeeltern Strafanzeige wegen
Körperverletzung erstattet, und er möchte mehr darüber erfahren. Auf alle
in diesem Zusammenhang gestellten Fragen wurde dem Beschwerdeführer von
den Organen der Verwaltung entweder bestimmt und zuverlässig Auskunft
erteilt, oder er bzw. sein Rechtsvertreter vermochte aus den Antworten
irrtumsfrei und zwanglos zu schliessen, wie es sich damals verhielt. Erst
im Rekurs an das Justizdepartement Basel-Stadt vom 8. Oktober 1984 gab
der Beschwerdeführer zu verstehen, er sei damit beschäftigt, seine
Jugendzeit, die ihn noch heute stark belaste, aufzuarbeiten; es sei
dies für ihn eine lebenswichtige Aufgabe, denn nur wenn es ihm gelinge,
Vorgänge und Anordnungen, deren Ursachen ihm heute noch unklar seien,
rational zu erhellen und zu verarbeiten, sei er imstande, die Lasten und
Schatten seiner Jugend zu bewältigen. Diese Behauptung wird aber durch
die Akten auch nicht im entferntesten belegt. Vielmehr wurde sie, wie das
Justizdepartement Basel-Stadt in seinem Entscheid vom 12. Dezember 1984 zu
Recht ausführt, wörtlich dem im "Schweizerischen Beobachter" vom 15. März
1984 abgedruckten Entscheid in Sachen R.H. entnommen. Aus diesem Entscheid
vermag der Beschwerdeführer indes nichts zu seinen Gunsten abzuleiten,
denn er hat nie auch nur behauptet, geschweige denn glaubhaft gemacht,
die Kenntnis der Vormundschaftsakten sei z.B. für die Durchführung einer
Psychoanalyse oder Psychotherapie erforderlich. Entsprechend kann die
Frage offenbleiben, wie es sich verhielte, wenn etwa ein Psychiater die
Notwendigkeit der Kenntnisgabe der Akten bejahen würde.

    e) Offensichtlich ist, dass der Beschwerdeführer keinen Anspruch hat,
über das Privatleben seiner Mutter um die Zeit der Zeugung informiert
zu werden. Hier spricht ein ethisches Moment für grösste Zurückhaltung
bei der Abwägung der Interessen. Insbesondere die Mutter hat ein durchaus
berechtigtes, schutzwürdiges Interesse daran, dass der Beschwerdeführer
von den sie betreffenden Aufzeichnungen keine Kenntnis erhält. Ihr
Geheimhaltungsinteresse geht dem Interesse des Beschwerdeführers an
Akteneinsicht, jedenfalls so wie er es begründet hat, deutlich vor.

    f) Etwas weniger eindeutig stellen sich die Verhältnisse hinsichtlich
der verschiedenen Pflegeeltern dar. Deren Geheimhaltungsinteresse ist
im allgemeinen doch wohl geringer einzustufen als dasjenige von Mutter
und Vater, und man könnte sich fragen, ob die Vormundschaftsbehörde dem
Beschwerdeführer nicht in etwas weiterem Masse hätte behilflich sein
können, namentlich durch Anfrage bei den Betroffenen. Aber auch dem lässt
sich entgegenhalten, dass das Interesse an der verlangten Akteneinsicht
sehr mangelhaft substantiiert ist. Das Suchen nach Kinderphotos vermag
kein hinreichendes Interesse zu begründen, und was die einmal geltend
gemachten Schläge betrifft, so wäre ein allfälliger Schadenersatz-
oder Genugtuungsanspruch längst verjährt (eine allfällige Unterlassung
seitens des Vormundes müsste sich der Beschwerdeführer selbstverständlich
entgegenhalten lassen).

    g) Die Interessen von Vater, Mutter und Pflegeeltern an der
Geheimhaltung der sie betreffenden Angaben wiegen somit schwerer als
das vom Beschwerdeführer bloss behauptete, aber nicht hinreichend
substantiierte Interesse daran, über die ihm bereits (zum grössten
Teil) bekanntgegebenen Angaben hinaus Einsicht in die gesamten, ihn
betreffenden Vormundschaftsakten erhalten zu können; die die Gegenseite
betreffenden Angaben lassen sich nicht ohne weiteres aus den Akten trennen,
so dass dem Beschwerdeführer verwehrt bleiben muss, diese einzusehen.
Demnach ist festzustellen, dass die vom Appellationsgericht vorgenommene
Interessenabwägung der Verfassungsrüge standhält.

Erwägung 7

    7.- Aus Art. 8 EMRK vermag der Beschwerdeführer ebenfalls nichts
zu seinen Gunsten abzuleiten, weil das Privat- und Familienleben auch
auf der andern Seite (Vater, Mutter und Pflegeeltern) tangiert wird
und die Konvention über die Lösung des Interessenkonfliktes nichts
aussagt. Im übrigen besteht hier auf gleicher Ebene (des Europarates)
eine spezielle Konvention "über die Rechtsstellung der unehelichen Kinder"
vom 15. Oktober 1975, welche für die Schweiz am 11. August 1978 in Kraft
getreten ist (SR 0.211.221.131). Zwar ist dieser Konvention für die hier
zu entscheidende Frage nichts zu entnehmen, wohl aber dem zugehörigen
"Rapport explicatif". Darin heisst es in Note 20 zu Art. 3, die Bestimmung
der klageberechtigten Personen und der Fristen, innert welcher solche
Klagen angehoben werden könnten, bleibe der jeweiligen landesinternen
Gesetzgebung anheimgestellt. Verhält es sich aber so, dann lässt sich
nicht sagen, die EMRK verleihe einen Anspruch auf Kenntnisnahme von der
Person des Vaters und von den Umständen der Feststellung der Vaterschaft
ohne jede Rücksicht auf den Zeitablauf.