Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 IA 59



112 Ia 59

11. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 31. Januar 1986 i.S. Einwohnergemeinde Bern gegen Albrecht
Lüthi sowie Regierungsrat und Verwaltungsgericht des Kantons Bern
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde und staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Nachfleischschau (Art. 100 Abs. 1 und 2 sowie Art. 103 EFV),
Gemeindeautonomie.

    1. Beschwerdelegitimation einer Gemeinde nach Art. 103 lit. a OG? Im
konkreten Fall verneint.

    2. Gemeindeautonomie bei der Regelung der Voraussetzungen einer
Befreiung von der Nachfleischschau. Die bernischen Gemeinden sind auf
diesem Gebiet zur selbständigen Rechtssetzung nicht befugt.

Sachverhalt

    A.- Mit Eingaben vom 12. bzw. 15. März 1982 ersuchte der Steffisburger
Metzgermeister Albrecht Lüthi die zuständigen Behörden der Städte Bern
und Thun, ihn hinsichtlich seiner Fleischlieferungen an Gaststätten
und Kollektivhaushaltungen von der Pflicht zur Nachfleischschau zu
befreien. Beide Gemeinden lehnten die Gesuche im wesentlichen mit der
Begründung ab, die einschlägigen Gemeindereglemente (für die Gemeinde
Bern: Verordnung über das Einbringen von Fleisch und Fleischwaren
aus andern Gemeinden vom 1. April 1914) verlangten in solchen Fällen
eine lückenlose Kontrolle, weshalb eine Ausnahme von vornherein
ausgeschlossen sei. Die Landwirtschaftsdirektion des Kantons Bern,
bei der sich Albrecht Lüthi in der Folge beschwerte, hob die kommunalen
Entscheide auf und wies die Sache zur Neubeurteilung an die genannten
Gemeinden zurück. Sie erwog, die Gemeinden seien aufgrund von Art. 21 der
kantonalen Fleischschauverordnung (KFV) verpflichtet, in jedem einzelnen
Fall zu prüfen, ob die Voraussetzungen einer Ausnahmebewilligung erfüllt
seien. Diese Vorschrift lautet wie folgt:

    "1 Metzger, Fleisch- und Fleischwarenhändler, die an Kunden
   ausserhalb ihrer Wohngemeinde Fleisch und Fleischwaren zum privaten

    Gebrauch liefern, sind von den Bestimmungen der Art. 93, 94 und 100 der
   eidg. Fleischschauverordnung für diese Lieferungen befreit, insofern
   sie über behördlich genehmigte Räumlichkeiten verfügen und für diesen
   Verkehr eine jährlich zu erneuernde Bewilligung der Ortspolizeibehörde
   der

    Bestimmungsgemeinde besitzen.

    2 Desgleichen können die Bestimmungsgemeinden auswärtige Metzger,

    Fleisch- und Fleischwarenhändler, welche Betriebe des Gastgewerbes und
   kollektive Haushaltungen beliefern, von den Bestimmungen des Art. 100
   EFV (Nachfleischschau) befreien. Die Bewilligung darf nur an auswärtige

    Lieferanten erteilt werden, die über genehmigte Räumlichkeiten verfügen
   und die allgemeine Fleischhygiene streng beachten. Der

    Bewilligungsinhaber hat die Bewilligung von der Ortspolizeibehörde der

    Bestimmungsgemeinde jährlich erneuern zu lassen.

    3 Die zuständigen Fleischschauer haben diese Betriebe vermehrt zu
   kontrollieren."

    Diese Regelung stützt sich einerseits auf Art. 100 und anderseits
auf Art. 103 der Eidgenössischen Fleischschauverordnung (EFV, SR
817.191). Diese Bestimmungen haben folgenden Wortlaut:

    "Art. 100 Nachfleischschau

    1 Unter Vorbehalt der Absätze 4 und 5 dieses Artikels können die

    Kantone bestimmen, dass alle Sendungen von Fleisch und Fleischwaren bei
   ihrer Einfuhr in eine Gemeinde am Bestimmungsort der Nachfleischschau
   unterstellt werden.

    2 Die Gemeinden haben die Nachfleischschau zu ordnen. Sie können
   besondere Kontrollstationen errichten. Die Gebühren für die Vornahme der

    Nachfleischschau sind im Sinne der Artikel 25 und 44 dieser Verordnung
   festzusetzen, müssen jedoch niedriger sein als die für die betreffenden

    Gemeinden geltenden ordentlichen Schlacht- und Fleischschaugebühren
   zusammen. Die Nachfleischschaugebühren für Dauerfleischwaren sind
   niedriger zu halten als für Fleisch und andere

    Fleischwaren. Die Gebühren sind durch den Kanton zu genehmigen.

    ...

    Art. 103 Kundenbedienung ausserhalb der Gemeinde

    1 Metzger, Fleisch- und Fleischwarenhändler, die Fleisch und

    Fleischwaren in eine andere Gemeinde an Kunden zum eigenen Gebrauch
   liefern, sind von den Bestimmungen der Artikel 94 und 100 befreit,
   sofern sie über behördlich genehmigte Räume verfügen und für diesen
   Verkehr eine jährlich zu erneuernde Bewilligung der zuständigen
   Behörde des

    Bestimmungsortes besitzen. Für die Erteilung der Bewilligung kann eine
   durch die Kantone festzusetzende Gebühr verlangt werden, die jedoch
   lediglich den Charakter einer Kanzleigebühr haben darf.

    2 Den Kantonen bleibt es überlassen, zu bestimmen, ob und unter
   welchen Bedingungen Ausnahmen von den Vorschriften der Artikel 94 und
   100 auch für andere Fleisch- und Fleischwarenlieferungen gewährt werden
   können, wie solche von Hauptgeschäften an ihre Filialen oder von

    Metzgerei- und Fabrikationsbetrieben an Betriebe des Gastgewerbes
und des

    Detailhandels.

    3 Wenn sich aus diesem Verkehr Missstände ergeben oder wenn der

    Lieferant sich Widerhandlungen gegen bestehende Vorschriften zuschulden
   kommen lässt, so kann die Bewilligung eingeschränkt oder gänzlich
   zurückgezogen werden."

    Die Gemeinden Bern und Thun zogen den Entscheid der
Landwirtschaftsdirektion an den Regierungsrat des Kantons Bern weiter,
der die Beschwerden aber ebenso abwies wie das hierauf angerufene
Verwaltungsgericht des Kantons Bern.

    Die Einwohnergemeinde Bern ficht das Urteil des Verwaltungsgerichts
einerseits mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde und anderseits mit
staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung der Gemeindeautonomie an.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist gemäss Art. 103 OG
berechtigt, "wer durch die angefochtene Verfügung berührt ist und
ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung oder Änderung hat"
(lit. a), das zuständige Departement oder andere speziell bezeichnete
Bundesbehörden (lit. b) sowie "jede andere Person, Organisation oder
Behörde, die das Bundesrecht zur Beschwerde ermächtigt" (lit. c). Da keine
besondere bundesrechtliche Norm im Sinne von Art. 103 lit. c OG besteht,
welche den Gemeinden im Bereich des Fleischschauwesens die Befugnis
zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde einräumt und keine der unter Art. 103
lit. b OG aufgeführten Behörden Beschwerde führt, stellt sich die Frage,
ob der Gemeinde Bern das allgemeine Beschwerderecht gemäss Art. 103 lit. a
OG zukommt.

    b) Das allgemeine Beschwerderecht ist grundsätzlich auf Privatpersonen
zugeschnitten. Unter der Voraussetzung, dass sie sich in gleicher oder
ähnlicher Lage wie Private befinden, können sich aber ausnahmsweise auch
Gemeinden darauf berufen; so wurden unter anderem Gemeinden zugelassen,
die sich gegen Eingriffe in ihr Finanz- oder Verwaltungsvermögen zur Wehr
setzten (BGE 105 Ib 358 E. 5a, 103 Ib 216). Daneben muss sich aber auch
ein Gemeinwesen über ein hinreichendes Interesse an der Aufhebung oder
Änderung der angefochtenen Verfügung ausweisen, wobei jedoch das allgemeine
öffentliche Interesse an der richtigen Auslegung und Durchsetzung des
Bundesrechts nicht genügt (BGE 105 Ib 359).

    Die Stadt Bern strebt mit ihrer Beschwerde einen Entscheid
des Bundesgerichts über die vorinstanzliche Auslegung der
bundesrechtlichen Bestimmungen über die Nachfleischschau an. Dies
stellt indes kein hinreichendes Rechtsschutzinteresse dar. Daneben
mag indirekt auch die Befugnis der Beschwerdeführerin zur Erhebung von
Nachfleischschaugebühren auf dem Spiele stehen. Die Gebühren sind jedoch
eine blosse Nebenerscheinung des streitigen Rechtsverhältnisses und
gehören nicht zum Verfahrensgegenstand; auch in dieser Hinsicht geht
daher der Stadt Bern die Beschwerdelegitimation ab, weshalb auf ihre
Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht eingetreten werden kann. Im übrigen
wäre ihre Beschwerdelegitimation selbst dann zweifelhaft, wenn sich die
Gebührenfrage stellen würde, denn die Beschwerdeführerin handelte in einem
solchen Fall lediglich als Inhaberin öffentlicher Gewalt und wäre daher
nicht in gleichem Masse in ihrem Vermögen betroffen wie eine Privatperson
(vgl. Urteil vom 17. September 1982 i.S. Stadt Genf gegen Waegell).

Erwägung 2

    2.- Das angefochtene Urteil verpflichtet die Beschwerdeführerin
zur Prüfung der Frage, ob Albrecht Lüthi die Voraussetzungen für einen
Dispens von der Nachfleischschau bzw. für die Erteilung einer jährlich zu
erneuernden Ausnahmebewilligung erfüllt. Die Stadt Bern wird dadurch in
ihren hoheitlichen Befugnissen betroffen, weshalb sie berechtigt ist,
mit staatsrechtlicher Beschwerde eine Verletzung ihrer Autonomie zu
rügen. Ob und wieweit sie den angerufenen Schutz der Gemeindeautonomie
geniesst, prüft das Bundesgericht nicht beim Eintreten, sondern bei der
materiellen Beurteilung der Beschwerde (BGE 110 Ia 198 E. 1, 108 Ia 84
E. 1a mit Hinweisen).

Erwägung 3

    3.- a) Nach der Praxis des Bundesgerichts geniesst die Gemeinde einen
mit staatsrechtlicher Beschwerde durchsetzbaren Schutz ihrer Autonomie
auf jenen Gebieten, die das kantonale Recht nicht abschliessend
regelt, sondern ganz oder teilweise im Bereich der Gemeinde lässt
und dabei den Gemeindebehörden eine erhebliche Entscheidungsfreiheit
einräumt. Unter diesen Voraussetzungen kann die Gemeinde vom Rechtsmittel
der staatsrechtlichen Beschwerde Gebrauch machen, um unter anderem zu
erreichen, dass die kantonalen Rechtsmittelbehörden formell im Rahmen
der Kontrollbefugnis bleiben, die ihnen nach kantonalem Recht zusteht,
und materiell das massgebende Recht richtig anwenden. Unerheblich ist
dabei, ob eine Verletzung von Gemeinderecht, von kantonalem Recht oder
von Bundesrecht gerügt wird. Die Gemeinde kann sich zwar im Rahmen der
Autonomiebeschwerde nicht selbständig im Sinne eines Angriffsmittels auf
verfassungsmässige Individualrechte stützen; sie kann sich jedoch darauf
berufen, die kantonalen Rechtsmittelinstanzen hätten ein Grundrecht allzu
extensiv ausgelegt (hier die Tragweite der Handels- und Gewerbefreiheit)
und damit den selbständigen Wirkungsbereich der Gemeinde in unzulässiger
Weise beschränkt.

    b) Ob und wieweit eine Gemeinde in einem bestimmten Bereich autonom
ist, bestimmt sich nach dem kantonalen Verfassungs- und Gesetzesrecht. Die
Beschwerdeführerin stützt die Rüge der Verletzung der Gemeindeautonomie,
soweit sich diesbezüglich eine substantiierte, den Anforderungen von
Art. 90 Abs. 1 lit. b OG genügende Begründung überhaupt finden lässt
(vgl. BGE 110 Ia 3 f.), offenbar nicht auf kantonales, sondern direkt
auf Bundesrecht, indem sie behauptet, die ordnungsgemässe Erfüllung der
gesundheitspolizeilichen Aufgaben im Bereiche der Fleischschau setze
zwangsläufig den vom Bundesrecht abgesteckten Autonomiebereich der
Gemeinde voraus.

    Diese Ausführungen der Beschwerdeführerin stehen im Widerspruch zum
Grundsatz, wonach Gemeindeautonomie nur im Rahmen des kantonalen Rechts
besteht. Freilich kann ein selbständiger kommunaler Regelungsbereich auch
dadurch entstehen, dass der Kanton die ihm vom Bund übertragenen Befugnisse
seinerseits ganz oder teilweise an die Gemeinden delegiert. Ob und
inwieweit er dies allenfalls tun will, ist ihm indessen freigestellt. Eine
bundesrechtliche Verfassungsnorm, welche die Rechtssetzungskompetenz der
Kantone zugunsten der Gemeinden beschränken würde, existiert jedenfalls
nicht. Soweit die Bundesverfassung und die Bundesgesetzgebung auf die
Gemeinden Bezug nehmen, wird lediglich an die von den Kantonen geschaffene
innere Organisationsstruktur angeknüpft. So verhält es sich auf dem Gebiet
der Nachfleischschau.

    c) Art. 100 Abs. 1 EFV überlässt es den Kantonen, ob alle
Fleischsendungen bei der Einfuhr in eine Gemeinde der Kontrolle
unterliegen sollen, wobei gemäss Art. 103 Abs. 1 EFV Lieferungen zum
privaten Gebrauch bereits von Bundesrechts wegen befreit sind, sofern
die Absender über behördlich genehmigte Räume verfügen und für diesen
Verkehr eine jährlich zu erneuernde Bewilligung der zuständigen Behörde
des Bestimmungsortes besitzen. Hat ein Kanton die Nachfleischschau
eingeführt, so kann er gemäss Art. 103 Abs. 2 EFV bestimmen, ob und
unter welchen Bedingungen Ausnahmen von den Vorschriften der Art. 93,
94 und 100 EFV auch für andere Fleisch- bzw. Fleischwarenlieferungen zu
gewähren sind. Zum Gegenstand von Ausnahmebewilligungen können namentlich
Lieferungen von Metzgerei- bzw. Fabrikationsbetrieben an Betriebe des
Gastgewerbes und des Detailhandels gemacht werden. Im vorliegenden
Fall ist daher zu entscheiden, ob der Kanton Bern diese Ermächtigung
an die Gemeinden weitergegeben hat. Dies ist zu verneinen, denn Art. 21
Abs. 2 KFV eröffnet den Gemeinden keinen Spielraum bezüglich der Frage,
ob solche Lieferungen grundsätzlich befreit werden können. Im Rahmen
ihrer Vollzugsaufgaben haben sie lediglich die Kompetenz, im Einzelfall
zu prüfen, ob die gesetzlichen Ausnahmevoraussetzungen erfüllt sind.
Die Befugnis, eine solche Ausnahme von vornherein durch Reglement
auszuschliessen, steht ihnen jedenfalls nicht zu.

    d) Da mithin der Beschwerdeführerin in diesem Sachbereich keine
erhebliche Entscheidungsfreiheit zukommt, muss ihre Autonomiebeschwerde
abgewiesen werden. Die Behörden der Stadt Bern werden daher ohne Rücksicht
auf die städtische Verordnung vom 1. April 1914 prüfen müssen, ob der
Beschwerdegegner die Anforderungen für eine generelle Befreiung von der
Nachfleischschau im Sinne von Art. 21 Abs. 3 KFV i.V.m. Art. 103 Abs. 2
EFV erfüllt.