Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 IA 5



112 Ia 5

2. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
30. April 1986 i.S. Gemeinde Samedan gegen X. und Verwaltungsgericht des
Kantons Graubünden (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV; Verweigerung des rechtlichen Gehörs durch verspätete
Einladung zu einem Augenschein.

    Lädt ein Gericht eine Partei erst am Morgen des Vortags zu einem
Augenschein ein mit der Folge, dass sich diese nicht ordnungsgemäss
vertreten lassen kann, so verweigert es ihr das rechtliche Gehör (E. 2).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführerin sieht sich dadurch in ihrem Anspruch auf
rechtliches Gehör verletzt, dass sie zu spät zum Augenschein eingeladen
worden sei und sich deshalb nicht durch einen Rechtsanwalt daran habe
vertreten lassen können.
   a) ...

    b) Der Umfang des Anspruchs auf rechtliches Gehör wird zunächst
von den kantonalen Verfahrensbestimmungen umschrieben; erst wo sich
dieser Rechtsschutz als ungenügend erweist, greifen die unmittelbar aus
Art. 4 BV folgenden bundesrechtlichen Minimalgarantien Platz. Da die
Beschwerdeführerin keine Verletzung kantonaler Verfahrensvorschriften
rügt, ist einzig und zwar mit freier Kognition zu prüfen, ob unmittelbar
aus Art. 4 BV folgende Regeln missachtet wurden (BGE 110 Ia 81/82 E. 5b,
85 E. 3b, je mit Hinweisen).

    c) Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist es ohne Belang,
ob es mangels entsprechender Parteianträge überhaupt nicht verpflichtet
gewesen wäre, einen Augenschein durchzuführen. Wenn eine Behörde zu
diesem Beweismittel greifen will, hat sie das in den verfassungsrechtlich
vorgeschriebenen Formen zu tun und die Grundsätze des rechtlichen Gehörs
zu beachten (BGE 104 Ib 122 E. 2c mit Hinweisen). Die an einem Verfahren
Beteiligten, zu denen hier auch die Gemeinde Samedan gehört, haben
Anspruch darauf, zu einem Augenschein gehörig beigezogen zu werden. Eine
Ausnahme würde nur gelten, wenn schützenswerte Interessen Dritter oder
des Staates oder eine besondere Dringlichkeit etwas anderes gebieten oder
wenn der Augenschein seinen Zweck nur erfüllen kann, wenn er unangemeldet
durchgeführt wird. In einem solchen Fall genügt es, wenn die betreffende
Partei nachträglich zum Beweisergebnis Stellung nehmen kann (BGE 105 Ia
49/50 E. 2a; 104 Ia 71 E. 3b; 104 Ib 121 E. 2a).

    Der erwähnte Anspruch auf gehörigen Beizug zu einem Augenschein
umfasst auch das Anrecht auf eine rechtzeitige Vorladung. Danach sind
die Adressaten so früh vorzuladen, dass sie rechtzeitig erscheinen
können. Diese unmittelbar aus dem Gehörsanspruch von Art. 4 BV ableitbare
Regel ergibt sich im übrigen auch aus dem bündnerischen Recht (Art. 29
des Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit im Kanton Graubünden
vom 9. April 1967 i.V.m. Art. 70 Abs. 2 der damals noch anwendbaren
Zivilprozessordnung des Kantons Graubünden vom 20. Juni 1954, heute:
Art. 56 Abs. 2 der Zivilprozessordnung des Kantons Graubünden vom
1. Dezember 1985). Der Anspruch auf rechtzeitige Vorladung muss
jedenfalls dann auch für den Rechtsvertreter eines Beteiligten gelten,
wenn Rechtsfragen zur Sprache kommen.

    d) Wie erwähnt, hat die Gemeinde Samedan die Vorladung zum
verwaltungsgerichtlichen Augenschein erst am Morgen des Vortags
erhalten. Der als Anwalt tätige Gemeindepräsident und auch die andern
ortsansässigen Anwälte waren an einer Teilnahme verhindert. Angesichts des
verbleibenden Zeitraums von einem knappen Tag war es der Beschwerdeführerin
nicht mehr zuzumuten, nach einem andern Anwalt zu suchen, der in der Lage
gewesen wäre, sich vorzubereiten und am Augenschein teilzunehmen. Sie
musste es deshalb bei einer Vertretung durch den kommunalen Baukontrolleur
bewenden lassen. Zwar hat die Beschwerdeführerin kein ausdrückliches
Verschiebungsgesuch gestellt; doch hat sie das Verwaltungsgericht zu Recht
darauf aufmerksam gemacht, dass ihr keine Nachteile entstehen dürften.

    Der Augenschein selbst diente entgegen den Vernehmlassungen von
Beschwerdegegnerin und Verwaltungsgericht nicht nur der Feststellung des
Sachverhalts. In bezug auf die vorgesehene Nutzung und die zu erwartende
Lärmbelastung wurden auch Rechtsfragen erörtert. So geht etwa unmittelbar
aus dem angefochtenen Entscheid hervor, dass der Vertreter der Bauherrin
ausgeführt habe, Starts und Landungen von der Bauparzelle aus seien von
Bundesrechts wegen verboten. Dabei handelt es sich um eine Rechtsfrage, von
deren Beantwortung durch den Vertreter der Bauherrin das Verwaltungsgericht
ausgegangen ist. Sodann führten verschiedene Aussagen des Vertreters
der Bauherrin über die Art der Nutzung der projektierten Baute und die
zu erwartenden Lärmimmissionen zu einer entsprechenden Behaftung. Dabei
handelt es sich nicht um die Feststellung objektiv gegebener Tatsachen,
sondern um die einseitige Darstellung des künftigen Zustandes durch eine
Prozesspartei. Diese Ausführungen wurden von deren Anwalt in Kenntnis
der massgebenden Vorschriften über den Immissionsschutz vorgetragen
und waren für den Ausgang des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht
entscheidend. Auch dieser Umstand hätte eine rechtskundige Vertretung
der Beschwerdeführerin geboten.

    Verhält es sich so, hätte die Beschwerdeführerin Gelegenheit haben
müssen, sich am Augenschein durch eine rechtskundige Person vertreten zu
lassen. Das war ihr angesichts der ausserordentlich kurzen Vorladungsfrist
kaum mehr möglich und deshalb nicht zuzumuten. Sie durfte sich unter
diesen Umständen darauf verlassen, dass ihr zumindest nachträglich die
Möglichkeit eingeräumt werde, zum Beweisergebnis und zu den Vorbringen des
Vertreters der Bauherrin Stellung zu nehmen. Mangels gehöriger Möglichkeit
einer nachträglichen Stellungnahme wurde ihr Anspruch auf rechtliches Gehör
verletzt. Die Beschwerde ist daher gutzuheissen, soweit darauf eingetreten
werden kann, und der angefochtene Entscheid ist aufzuheben. Dabei kommt
es nicht darauf an, ob Aussicht besteht, dass nach erneuter Prüfung des
Falls in einem korrekten Verfahren anders entschieden würde (BGE 105 Ia
51 E. 2c mit Hinweisen).