Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 IA 371



112 Ia 371

59. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 18.
Dezember 1986 i.S. X. gegen Z. sowie Obergericht (I. Strafkammer) und
Kassationsgericht des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV, Art. 6 Ziff. 2 EMRK (Unschuldsvermutung); Kostenauflage
und Parteientschädigung bei Freispruch wegen Zurechnungsunfähigkeit.

    Voraussetzungen, unter denen dem wegen Zurechnungsunfähigkeit
freigesprochenen Angeklagten im Lichte von Art. 6 Ziff. 2 EMRK
Gerichtskosten auferlegt werden dürfen.

    Es ist nicht willkürlich, den wegen Zurechnungsunfähigkeit
freigesprochenen Angeklagten in sinngemässer Anwendung von Art. 54
Abs. 1 OR aus Billigkeitserwägungen mit Gerichtskosten und einer
Parteientschädigung zu belasten.

Sachverhalt

    A.- Ende 1982 erhob Frau Z. Anklage gegen X. wegen Verleumdung,
eventuell übler Nachrede. Das zuständige Bezirksgericht sprach X.
mit Urteil vom 4. April 1984 der Verleumdung im Sinne von Art. 174 Ziff. 1
in Verbindung mit Art. 174 Ziff. 2 StGB schuldig. Es bestrafte ihn mit
einer bedingt vollziehbaren Freiheitsstrafe sowie mit einer Busse. Ferner
auferlegte es ihm die Gerichtskosten, und schliesslich verpflichtete es
ihn, der Anklägerin eine Parteientschädigung von Fr. 9'000.-- zu bezahlen.

    X. erklärte Berufung an das Obergericht des Kantons Zürich. Gestützt
auf ein psychiatrisches Gutachten billigte ihm das Gericht
Zurechnungsunfähigkeit im Sinne von Art. 10 StGB zu, erklärte ihn
demgemäss der eingeklagten Ehrverletzung nicht schuldig und sprach ihn
frei. Hinsichtlich der Kosten- und Entschädigungsfolgen verwies das Gericht
auf die §§ 293 und 189 Abs. 2 der Strafprozessordnung des Kantons Zürich
(StPO). Demnach ist ein Abweichen vom Grundsatz, wonach für die Regelung
der Kosten- und Entschädigungsfolgen der Prozessausgang massgebend ist,
dann zulässig, wenn besondere Verhältnisse dies rechtfertigen. Es ging
davon aus, X. habe durch objektiv ehrverletzende Äusserungen zur Klage
Anlass gegeben, wie auch immer seine Aussagen rechtlich zu würdigen
seien. Entsprechend seien ihm die Kosten beider Instanzen aufzuerlegen,
allerdings mit Ausnahme derjenigen der amtlichen Verteidigung, die gegen
seinen Willen angeordnet worden sei. Grundsätzlich habe er der Anklägerin
auch eine Parteientschädigung zu entrichten, die jedoch auf Fr. 5'000.--
herabzusetzen sei, da jene nicht mit allen ihren Anträgen obsiegt hätte.

    Eine von X. erhobene Nichtigkeitsbeschwerde wies das Kassationsgericht
des Kantons Zürich mit Beschluss vom 24. Juni 1986 ab.

    Mit staatsrechtlicher Beschwerde rügt X., der Entscheid, ihn mit
Prozesskosten zu belasten, verletze Art. 6 Ziff. 2 EMRK und Art. 4 BV.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss § 189 StPO werden dem Angeklagten bei Freispruch die
Kosten des Verfahrens auferlegt, wenn er die Einleitung der Untersuchung
durch ein verwerfliches oder leichtfertiges Benehmen verursacht oder ihre
Durchführung erschwert hat. Unter den nämlichen Voraussetzungen kann er
auch zu einer Entschädigung an den Geschädigten verurteilt werden.

    In dem die Schweiz betreffenden Urteil i.S. Minelli vom 25. März
1983 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ausgeführt,
diese Regelung als solche sei von ihm nicht zu überprüfen und scheine
an sich auch Art. 6 Ziff. 2 EMRK nicht zu verletzen; jedoch sei hierüber
nicht zu befinden, sondern nur über die Art und Weise, wie die Bestimmung
im gegebenen Falle angewendet worden sei. Er hat in diesem ebenfalls
die zürcherische Gerichtsbarkeit betreffenden Ehrverletzungsprozess,
der infolge Verjährung eingestellt wurde, die gegenüber dem Angeklagten
ausgesprochene Kostenauflage aufgehoben, weil sie damit begründet worden
war, der Beschwerdeführer wäre bei Fortführung des Prozesses sehr
wahrscheinlich verurteilt worden (Publications de la Cour européenne
des Droits de l'homme, Série A, vol. 62, S. 17, N. 34 und 35; deutsche
Übersetzung in: EuGRZ 1983, S. 479). Das Bundesgericht betrachtet seit
diesem Urteil Kostenauflagen bei Freispruch, die sich auf § 189 StPO
oder auf analoge Bestimmungen anderer kantonaler Strafprozessgesetze
stützen, nur unter bestimmten Voraussetzungen als zulässig. Es muss dem
Beschuldigten ein schuldhaftes Verhalten zur Last gelegt werden können,
wobei ein Verhalten dann als "schuldhaft" bezeichnet werden darf,
wenn es gegen zivilrechtliche oder ethische Regeln verstösst. Sodann
muss zwischen dem vorwerfbaren Verhalten und den entstandenen Kosten
ein Kausalzusammenhang bestehen (BGE 109 Ia 163 ff., 167 E. 2a,
237/238). Schliesslich ist Voraussetzung der Kostenauflage, dass sie
sich in tatsächlicher Hinsicht nur auf unbestrittene oder bereits klar
nachgewiesene Umstände stützen darf.

    b) Im vorliegenden Fall ist heute unbestritten, dass der
Beschwerdeführer im Zusammenhang mit den ihm zur Last gelegten
Ehrverletzungen nicht zurechnungsfähig und damit nicht schuldfähig war. Das
Bundesgericht hat somit hier ein etwas anderes Problem zu lösen als in
den vorstehend angeführten Fällen. Es kann dabei davon ausgehen, dass es
den Organen der EMRK bei der Auslegung von Art. 6 Ziff. 2 EMRK einzig
darauf ankommt, den guten Ruf des nicht verurteilten Angeschuldigten
zu schützen; weder im Urteilsdispositiv noch in den Erwägungen darf
der Eindruck erweckt werden, der Angeschuldigte könnte allenfalls eben
doch im Sinne des Strafrechtes schuldig sein. Die Kostenverlegung als
solche dagegen wird unter dem Gesichtswinkel der Konvention als weniger
erheblich betrachtet (vgl. dazu FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar 1985,
N. 115/116 zu Art. 6, und VOGLER, Internationaler Kommentar zur EMRK, N.
440 ff. zu Art. 6; ferner die Zusammenstellung der in dieser Richtung nach
dem Urteil i.S. Minelli ergangenen Entscheide der Europäischen Kommission
für Menschenrechte bei ROBERT LEVI, Schwerpunkte der strafprozessualen
Rechtsprechung des Bundesgerichtes und der Organe der Europäischen
Menschenrechtskonvention, in: ZStrR 1985 S. 365/366). Es rechtfertigt
sich daher, sich auch bei der Behandlung der vorliegenden Frage von diesen
Gesichtspunkten leiten zu lassen.

    Prüft man demnach, ob das angefochtene Urteil des Kassationsgerichtes
den Eindruck zu erwecken vermöge, der Beschwerdeführer sei - ungeachtet
seiner Freisprechung durch das Obergericht - der Ehrverletzung (in der
Form der Verleumdung oder in derjenigen der üblen Nachrede) schuldig,
so muss diese Frage klarerweise verneint werden. In Erwägung 3b betont
das Kassationsgericht, dass in Fällen der vorliegenden Art an Stelle des
Verschuldensprinzips Billigkeitserwägungen zu treten hätten. Anschliessend
verweist es zwar auf eine durch das Urteil i.S. Minelli und die seither
verschärfte bundesgerichtliche Rechtsprechung zum Teil überholte Arbeit
von ZINDEL (Kosten- und Entschädigungsfolgen im Strafverfahren des Kantons
Zürich, Zürcher Diss. 1972, S. 58/59 und 121), doch ergibt sich aus seinen
weiteren Erwägungen, dass das Kassationsgericht die von ZINDEL vertretene
These, es sei zu prüfen, wie das Urteil bei gegebener Zurechnungsfähigkeit
gelautet hätte, zu Recht nicht übernommen hat (vgl. E. 4 des zu prüfenden
Urteils, 2. Satz: "Das Obergericht hat sich gar nicht dazu geäussert,
ob der Beschwerdeführer bei gegebener Zurechnungsfähigkeit zu bestrafen
gewesen wäre, sondern hat lediglich festgehalten, seine Äusserungen über
die Beschwerdegegnerin seien objektiv ehrverletzend gewesen. Dies wird
in der Beschwerde nicht bestritten."). Ein Hinweis auf ein Verschulden
des Beschwerdeführers oder auf eine wahrscheinliche Verurteilung bei
Zurechnungsfähigkeit fehlt also völlig. Im Gegenteil wird festgestellt,
der Beschwerdeführer sei im vorliegenden Zusammenhang nicht schuldfähig;
und wer nicht schuldfähig ist, kann auch nicht schuldig sein.

    Etwas anders wäre die Rechtslage wohl, wenn das obergerichtliche
Urteil zu überprüfen wäre. Zwar enthält auch dieses keinen Hinweis auf
ein Verschulden des Beschwerdeführers, doch wird im letzten Absatz die
Herabsetzung der Prozessentschädigung damit begründet, dass die Anklägerin
"nicht mit allen ihren Anträgen obsiegt hätte". Es wäre allenfalls denkbar
gewesen, hieraus zu folgern, das Obergericht habe mittelbar zum Ausdruck
gebracht, dass der Beschwerdeführer bei gegebener Zurechnungsfähigkeit
hinsichtlich des grösseren Teiles der Anklage schuldig gesprochen
worden wäre. Allein eine solche Rüge hat der Beschwerdeführer vor
Kassationsgericht nicht vorgebracht und damit den kantonalen Instanzenzug
nicht erschöpft; im übrigen wird dieser Punkt auch in der staatsrechtlichen
Beschwerde nicht aufgegriffen, und er hätte im Hinblick auf die neue
Praxis zur Eintretensfrage (BGE 111 Ia 353 ff.) auch nicht aufgegriffen
werden können.

Erwägung 3

    3.- Der Schwerpunkt des Urteils des Kassationsgerichtes liegt darin,
dass nach schweizerischem Recht auch der Urteilsunfähige nach Billigkeit
dazu verurteilt werden kann, von ihm verursachten Schaden ganz oder
teilweise zu ersetzen (Art. 54 Abs. 1 OR). Der Beschwerdeführer beanstandet
zwar auch diese Erwägung, jedoch nicht mit einer im staatsrechtlichen
Beschwerdeverfahren zulässigen, sich auf die Bundesverfassung oder die
EMRK stützenden Begründung (vgl. Art. 90 Abs. 1 lit. b OG). Wenn er hier
und an anderer Stelle ausführt, es wäre nicht zu einer Kostenauflage
gekommen, wenn er den Wahrheitsbeweis für seine Äusserungen hätte antreten
können, so übersieht er, dass das Verfahren nach Feststellung seiner
Zurechnungsunfähigkeit überhaupt nicht mehr weitergeführt werden durfte;
er hat denn auch weder vor Obergericht noch vor Kassationsgericht geltend
gemacht, er sei zu Unrecht mangels Zurechnungsfähigkeit (und nicht aus
materiellrechtlichen Gründen) freigesprochen worden. Überdies entsprach
dieser Entscheid sinngemäss seinem im Berufungsverfahren gestellten Antrag,
er sei psychiatrisch begutachten zu lassen.

    Von der Sache her liesse sich übrigens die sinngemässe Anwendung
von Art. 54 Abs. 1 OR auf einen Sachverhalt der vorliegenden Art im
staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren nicht beanstanden. Der Hinweis des
Kassationsgerichtes auf diese Bestimmung beweist gerade, dass es der These,
wonach der Beschwerdeführer nicht schuldfähig gewesen sei, beipflichtete,
so dass ein Verstoss gegen Art. 6 Ziff. 2 EMRK auch aus diesem Grunde
nicht vorliegen kann. Unter dem sonst einzig noch denkbaren Gesichtswinkel
der Willkür ist die fragliche Rüge nicht hinlänglich begründet worden
(vgl. BGE 110 Ia 3/4 E. 2a). Übrigens wäre Willkür aus folgenden Gründen
zu verneinen:

    Die objektiv ehrverletzende Natur der Gegenstand des Prozesses
bildenden Äusserungen ist im kantonalen Verfahren nicht bestritten worden,
wie das Kassationsgericht zutreffend festgestellt hat. Sie liegt übrigens
so klar auf der Hand, dass auch eine Bestreitung dem Beschwerdeführer
nichts hätte zu helfen vermögen. Weiter ist unbestritten, dass der
zürcherische Ehrverletzungsprozess ein reines Privatstrafklageverfahren
darstellt, so dass eine völlige oder teilweise Kostenübernahme durch
den Staat ausser Betracht fällt (§ 293 StPO; vgl. auch ROBERT HAUSER,
Kurzlehrbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Auflage, S. 252
oben mit Hinweisen). Der Beschwerdeführer anerkennt dies vor Bundesgericht
sinngemäss, indem er in Ziff. 2 seiner Anträge eine Abänderung der
Kosten- und Entschädigungsentscheide nicht zulasten des Kantons Zürich,
sondern ausschliesslich zulasten der Beschwerdegegnerin verlangt. Die
Rechtslage ist somit so, dass die entstandenen Gerichts- und Anwaltskosten
entweder vom Beschwerdeführer oder von der Beschwerdegegnerin zu tragen
sind. Gestützt darauf sind die zürcherischen Gerichte zum Schlusse gelangt,
es wäre unbillig, eine Person, die von einer anderen, zurechnungsunfähigen
Person mit objektiv ehrverletzenden Äusserungen belegt worden ist,
mangels Verschuldens dieser Person mit den Prozesskosten einschliesslich
sämtlicher Anwaltskosten zu belasten; vielmehr liege es näher, den in
Art. 54 Abs. 1 OR festgehaltenen Gedanken der Billigkeitshaftung des
Urteilsunfähigen heranzuziehen. Dieser Entscheid ist zumindest nicht
unhaltbar und verstösst damit nicht gegen Art. 4 BV. Dass Art. 54 Abs. 1
OR willkürlich ausgelegt worden sei, indem z.B. dem Beschwerdeführer nach
dem Grundsatz der Billigkeit und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
nicht sämtliche Gerichtskosten oder nicht eine Prozessentschädigung in
der Höhe von Fr. 5'000.-- hätten überbunden werden dürfen, wird nicht
geltend gemacht.