Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 IA 332



112 Ia 332

51. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 12.
November 1986 i.S. Kritisches Forum Uri, Adriana Stadler, Alf Arnold, Reto
Gamma und Regula Wyss gegen Regierungsrat des Kantons Uri (staatsrechtliche
Beschwerde) Regeste

    Stimmrecht. Behördliche Intervention in den Abstimmungskampf.

    Die Veröffentlichung einer Informationsseite über Abstimmungsvorlagen
in zwei Zeitungen durch den Regierungsrat verletzt mangels triftiger
Gründe das politische Stimmrecht der Bürger (E. 4).

    Die Volksabstimmungen brauchen indessen dann nicht aufgehoben zu
werden, wenn ohne behördliche Intervention ein anderes Abstimmungsergebnis
nicht ernsthaft in Betracht gekommen wäre (E. 5).

Sachverhalt

    A.- Mit Abstimmungsdekret vom 3. Januar 1986 setzte der Regierungsrat
des Kantons Uri die kantonalen Volksabstimmungen über folgende Vorlagen
auf den 2. Februar 1986 fest:

    - Gesetz über Niederlassung und Aufenthalt der Schweizer;

    - Überführung eines Teils der Liegenschaft Coop, Altdorf, vom

    Finanz- ins Verwaltungsvermögen und Neuinvestitionen für die
Unterbringung
   des Staatsarchivs und der Kantonsbibliothek;

    - Kantonsbeitrag für die Lawinenverbauung Rinistock-Meien, Gemeinde

    Wassen.

    Der Regierungsrat liess die Botschaften zu diesen Abstimmungsvorlagen
im Sinne von Art. 30 Abs. 2 des Urner Gesetzes über die geheimen Wahlen,
Abstimmungen und die Volksrechte vom 21. Oktober 1979 (WAVG) Anfang Januar
1986 an alle Haushaltungen verteilen. Am 25. Januar 1986 veröffentlichte
er in den beiden Urner Zeitungen "Urner Wochenblatt" und "Gotthard Post"
je eine unentgeltliche Informationsseite über die Vorlagen.

    Am 26. Januar 1986 reichten das Kritische Forum Uri, Adriana Stadler,
Alf Arnold, Reto Gamma und Regula Wyss eine staatsrechtliche Beschwerde
beim Bundesgericht ein. Sie rügten eine Verletzung ihres politischen
Stimmrechts und beantragten, den Beschluss des Regierungsrates des Kantons
Uri aufzuheben, womit die Veröffentlichung je einer Informationsseite mit
dem Titel "Vor dem Urnengang" in zwei Urner Zeitungen angeordnet worden
war. Eventuell beantragten sie die Feststellung, dass der Regierungsrat
durch die beanstandete Veröffentlichung die politischen Rechte des
Stimmbürgers verletzt habe. Mit Verfügung vom 28. Januar 1986 wurde
das Gesuch abgewiesen, die Abstimmung bis nach dem Entscheid über die
staatsrechtliche Beschwerde zu verschieben.

    In der Volksabstimmung vom 2. Februar 1986 wurden alle drei Vorlagen
mit deutlichem Mehr angenommen:

    - das Gesetz über Niederlassung und Aufenthalt der Schweizer mit

    4296 Ja gegen 1317 Nein;

    - die Überführung eines Teils der Liegenschaft Coop, Altdorf, vom

    Finanz- ins Verwaltungsvermögen und Neuinvestitionen für die
Unterbringung
   des Staatsarchivs und der Kantonsbibliothek mit 4263 Ja gegen 1711 Nein;

    - der Kantonsbeitrag für die Lawinenverbauung Rinistock-Meien,

    Gemeinde Wassen, mit 5312 Ja gegen 743 Nein.

    Der Regierungsrat des Kantons erwahrte diese Abstimmungsergebnisse
am 17. Februar 1986.

    Am 27. Februar 1986 beantragte der Regierungsrat des Kantons Uri,
die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten
sei. Das Kritische Forum Uri und die vier Mitbeteiligten beantragten
mit Beschwerdeergänzung vom 14. April 1986 neu, den Beschluss des
Regierungsrates des Kantons Uri vom 17. Februar 1986 über die Erwahrung
der Ergebnisse der Volksabstimmung vom 2. Februar 1986 aufzuheben. Im
Eventualstandpunkt hielten sie an den beiden bereits am 26. Januar 1986
gestellten Anträgen fest. Der Regierungsrat des Kantons Uri erneuerte mit
Vernehmlassung vom 21. Mai 1986 den Antrag, die Beschwerde abzuweisen,
soweit darauf eingetreten werden könne.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab aus folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- In materieller Hinsicht werfen die Beschwerdeführer dem
Regierungsrat vor, mit der Veröffentlichung der Informationsseite in zwei
Urner Zeitungen die Abstimmungsfreiheit verletzt zu haben. Dadurch habe
der Rat ohne gesetzliche Grundlage in den Abstimmungskampf eingegriffen,
die Vorschrift von Art. 31 Abs. 1 WAVG missachtet und sich verwerflicher
Mittel bedient.

    a) Bei Stimmrechtsbeschwerden ist nicht nur die Auslegung und Anwendung
von Bundesrecht und kantonalem Verfassungsrecht frei zu prüfen, sondern
auch diejenige anderer kantonaler Vorschriften, die den Inhalt des Stimm-
und Wahlrechts regeln oder mit diesen eng zusammenhängen. Die Auslegung und
Anwendung anderer kantonaler Normen sowie die Feststellung des Sachverhalts
durch die kantonalen Behörden ist dagegen nur auf Willkür hin zu prüfen. In
ausgesprochenen Zweifelsfällen schliesst sich das Bundesgericht der von
der obersten kantonalen Instanz vertretenen Auffassung an; als solche
gelten das Parlament und das Volk (BGE 111 Ia 117/118 E. 2a, 194 E. 4a,
197 E. 2a, 202 E. 2; 109 Ia 47 E. 3b mit Hinweisen).

    b) Das vom Verfassungsrecht des Bundes gewährleistete politische
Stimmrecht gibt dem Bürger unter anderem Anspruch darauf, dass kein
Abstimmungsergebnis anerkannt wird, das nicht den freien Willen
der Stimmbürger zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt. Das
Abstimmungsergebnis kann namentlich durch eine unerlaubte Beeinflussung der
Willensbildung der Stimmbürger verfälscht werden. Das ist etwa der Fall,
wenn die Behörde, die zu einer Sachabstimmung amtliche Erläuterungen
verfasst, ihre Pflicht zu objektiver Information verletzt und über den
Zweck und die Tragweite der Vorlage falsch orientiert. Eine unerlaubte
Beeinflussung der Stimmbürger kann ferner vorliegen, wenn die Behörde in
unzulässiger Weise in den Abstimmungskampf eingreift und entweder positive,
zur Sicherung der Freiheit der Stimmbürger aufgestellte Vorschriften
missachtet oder sich sonstwie verwerflicher Mittel bedient (BGE 108 Ia
157 E. 3b; 106 Ia 22 E. 1, 199 E. 4a; 105 Ia 153 E. 3a; 89 I 443 E. 5).

    c) Nach dieser Rechtsprechung schliesst die Freiheit der
Meinungsbildung jedes Eingreifen der Behörden in einen Wahlkampf aus. Vor
Sachabstimmungen müssen sich die Auseinandersetzungen gleichfalls
frei und unbeeinflusst abspielen können (Urteil des Bundesgerichts vom
8. Juli 1964 i.S. Beuttner, E. 2, in: ZBl 66/1965, S. 247). Indessen
gilt es nach schweizerischer Rechtsauffassung als zulässig, dass eine
Behörde ihre Sachvorlagen den Stimmberechtigten zur Annahme empfiehlt und
Erläuterungen oder Berichte dazu beilegt (BGE 89 I 443/444 E. 6). Diese
Beschränkungen gelten jedoch nur für die Behörden als solche; dem einzelnen
Behördemitglied kann weder die Teilnahme am Wahl- und Abstimmungskampf
noch die freie Meinungsäusserung verboten werden (BGE 89 I 444 E. 6
mit Hinweisen).

    Eine andere Frage ist jedoch, ob und allenfalls inwieweit die Behörden
in den Abstimmungskampf über eigene Abstimmungsvorlagen eingreifen
dürfen. Das ist im folgenden zu prüfen.

    d) In der Literatur wird eine Intervention der Behörden im
Abstimmungskampf über ihre eigenen Abstimmungsvorlagen mehrheitlich
abgelehnt oder nur in Ausnahmefällen befürwortet. Dagegen ausgesprochen
haben sich unter anderem THEODOR BÜHLER (Ist eine amtliche Stellungnahme
bei Abstimmungen erwünscht?, in: ZBl 72/1971, S. 528/529), MARTIN
USTERI (Ausübung des Stimm- und Wahlrechts nach freiheitsstaatlichen
Prinzipien, in: ZSR 78/1959 II, S. 419a), PETER SALADIN (Bemerkungen
zur schweizerischen Rechtsprechung des Jahres 1965, in: ZSR 85/1966 I,
S. 461/462) und LUCAS DAVID (Schweizerisches Werberecht, Zürich 1977,
S. 351 ff.). Andere Autoren erachten ein behördliches Eingreifen nur dann
als zulässig, wenn die Umstände eine Intervention der Behörden dringend
nahelegen oder gebieterisch verlangen beziehungsweise wenn krasse Fehler
richtiggestellt werden müssen. Es sind dies WERNER STAUFFACHER (Die
Stellung der Behörden im Wahl- und Abstimmungskampf, in: ZBl 68/1967,
S. 387, 391/392), ULRICH WEDER (Die innenpolitische Neutralität
des Staates. Ihre Bedeutung in der Schweiz. Diss. Zürich 1981, S.
68 ff.) und JEAN-FRANÇOIS AUBERT (Traité de droit constitutionnel suisse,
Neuchâtel 1967, Bd. 2, Ziff. 1218, S. 448). Eine dritte Gruppe verlangt,
dass der Grundsatz der Verhältnismässigkeit gewahrt werden müsse. Dazu
gehören ANDREAS AUER (L'intervention des collectivités publiques dans les
campagnes référendaires, in: RDAF 41/1985, S. 203) und ETIENNE GRISEL
(L'information des citoyens avant les votations, in: Festschrift zum
70. Geburtstag von Hans Nef, Zürich 1981, S. 64).

    Das Bundesgericht hat in seiner Rechtsprechung eine solche Intervention
der Behörden im Abstimmungskampf über eigene Vorlagen nur als Ausnahme
zugelassen. Danach soll behördliches Eingreifen - soweit es nicht in
der Abgabe eines beleuchtenden Berichts an die Stimmbürger besteht -
nicht zur Regel werden, sondern sich auf jene Fälle beschränken, in
denen triftige Gründe für ein Tätigwerden der Behörden sprechen (in der
amtlichen Sammlung nicht veröffentlichte E. 3 des Urteils BGE 105 Ia
243 ff., publiziert in: ZBl 81/1980, S. 21; unveröffentlichte Urteile
vom 24. November 1982 i.S. Pfenninger, E. 3, und vom 20. November
1985 i.S. Ausfeld, E. 2b/aa). Diese Rechtsprechung wurde in Fällen
begründet, wo es um die Intervention einer Gemeinde in einen kantonalen
Abstimmungskampf ging. Dabei wies das Bundesgericht allerdings auf die
Literatur zur Frage der Parteinahme von Behörden des Gemeinwesens hin,
das die Abstimmung selbst durchgeführt hat. Es hatte dabei angenommen, dass
triftige Gründe dann vorliegen, wenn eine Gemeinde und ihre Stimmbürger am
Ausgang der Abstimmung ein unmittelbares und besonderes Interesse haben,
das jenes der übrigen Gemeinden des Kantons bei weitem übersteigt (BGE
108 Ia 160/161 E. 5a; 105 Ia 244 E. 4). Allerdings stellt sich die Frage
nach dem Vorliegen triftiger Gründe dort anders, wo es um die Parteinahme
von Behörden des Gemeinwesens geht, das die Abstimmung selbst durchführt
(vgl. BGE 108 Ia 159 E. 4b). Im erwähnten Urteil vom 24. November 1982
i.S. Pfenninger hat das Bundesgericht eine Plakataktion der Behörden
noch als Information gewertet und darin im Gegensatz zur Propaganda
keine unzulässige Beeinflussung des Stimmbürgers gesehen. Angesichts der
Komplexität des Abstimmungsgegenstandes hat es auch das Vorliegen wichtiger
Gründe für eine Zusatzinformation angenommen. Im ebenfalls erwähnten Urteil
vom 20. November 1985 i.S. Ausfeld hat das Bundesgericht triftige Gründe
für die nochmalige Veröffentlichung eines Teils der Abstimmungszeitung
deshalb als gegeben anerkannt, weil sich die Abstimmungszeitung noch mit
einem dahingefallenen Gegenvorschlag befasst hatte. Die ursprüngliche
Begründung des Elements der triftigen Gründe stützte sich auf die
Lehrmeinung, die sich kritisch bis ablehnend zur Frage der Intervention
von Behörden im Abstimmungskampf über eigene Vorlagen stellt, namentlich
auf WERNER STAUFFACHER (aaO, S. 392; unveröffentlichte E. 3 des Urteils
BGE 105 Ia 243 ff., publiziert in: ZBl 81/1980, S. 21, bestätigt in BGE
108 Ia 157/158 E. 3b). Nach der Auffassung dieses Autors können triftige
Gründe für eine behördliche Intervention dann vorliegen, wenn es darum
geht, krassen Verzerrungen und Verfälschungen in der Abstimmungspropaganda
entgegenzutreten oder grobe Fehler richtigzustellen, mithin eine freie
und unverfälschte Meinungsbildung zu gewährleisten. Kein triftiger Grund
kann in der Absicht gesehen werden, die Stimmbürger zur Annahme einer
Abstimmungsvorlage zu bewegen (vgl. WERNER STAUFFACHER, aaO, S. 392).

    Im vorliegenden Fall sind keine solchen triftigen Gründe ersichtlich,
welche die Veröffentlichung der streitigen Informationsseite in den
beiden Urner Zeitungen eine Woche vor dem Urnengang zu rechtfertigen
vermöchten. Das Bestreben des Regierungsrates, die Stimmberechtigten
in augenfälliger Form für die Abstimmungsvorlagen zu interessieren, ist
freilich anerkennenswert; doch kann es nicht als triftiger Grund für eine
nur ausnahmsweise zulässige Intervention anerkannt werden. Dem Anliegen,
die Stimmberechtigten besser anzusprechen, kann ohne weiteres dadurch
nachgelebt werden, dass die Abstimmungsbotschaften leserfreundlicher
gestaltet werden, was der Regierungsrat denn auch inskünftig zu tun
beabsichtigt. Ebenfalls nicht als triftiger Grund kann die Tatsache in
Frage kommen, dass ein Kredit für den Umbau des Coop-Gebäudes in Altdorf in
einer früheren Volksabstimmung verweigert worden war. Die Veröffentlichung
der Informationsseite war somit mangels eines triftigen Grundes mit dem
politischen Stimmrecht der Bürger nicht vereinbar.

    e) Erweist sich die streitige Intervention schon mangels eines
triftigen Grundes als unzulässig, so kann die Frage offenbleiben, ob
sie auch mangels gesetzlicher Grundlage oder wegen Unvereinbarkeit mit
Art. 30 Abs. 2 WAVG das politische Stimmrecht verletzt.

Erwägung 5

    5.- Zu prüfen bleibt, welche Folgen der unzulässigen Veröffentlichung
der Informationsseite zu geben sind. Die Auswirkungen der beanstandeten
Publikation lassen sich freilich nicht ziffernmässig ermitteln.
Das bedeutet indessen nicht, dass der Mangel schon deswegen als
erheblich zu erachten und die Abstimmungen aufzuheben seien. Vielmehr
ist nach den gesamten Umständen zu beurteilen, ob eine Beeinflussung des
Abstimmungsergebnisses möglich gewesen ist. Dabei ist namentlich auf die
Grösse des Stimmenunterschieds, die Schwere des festgestellten Mangels und
dessen Bedeutung im Rahmen der gesamten Abstimmung abzustellen. Erscheint
die Möglichkeit, dass die Abstimmung ohne den Mangel anders ausgefallen
wäre, als derart gering, dass sie nicht mehr ernsthaft in Betracht kommt,
so kann von der Aufhebung des Urnengangs abgesehen werden (BGE 105 Ia
155 E. 5b).

    Alle drei Abstimmungsvorlagen sind mit grossem Mehr angenommen worden;
die Ja-Stimmen machen ein Vielfaches der Nein-Stimmen aus. Die beanstandete
Veröffentlichung der Informationsseite stellt einen verhältnismässig
geringen Mangel dar. Es handelt sich im wesentlichen um denselben Inhalt,
wie ihn die amtlichen Erläuterungen aufweisen, die an alle Haushaltungen
verteilt wurden. Die Besonderheit besteht lediglich darin, dass die
Informationsseite in journalistischem Stil und damit augenfälliger
gestaltet ist. Sie ist aber informativ und keineswegs aufdringlich
gehalten. Schliesslich kann auch nicht gesagt werden, dass die Bedeutung
dieser Veröffentlichung überragend gewesen wäre. Unter diesen Umständen
erscheint die Möglichkeit, dass ohne die umstrittene Intervention des
Regierungsrates die Abstimmungsergebnisse anders ausgefallen wären,
als derart gering, dass sie nicht ernsthaft in Betracht kommt. Von einer
Aufhebung der Abstimmungen ist daher abzusehen, und die Beschwerde ist
abzuweisen, soweit sie nicht gegenstandslos geworden ist und soweit darauf
eingetreten werden kann.