Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 IA 275



112 Ia 275

43. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 13.
November 1986 i.S. Politische Gemeinde Sent gegen X. und Mitbeteiligte
und Regierung des Kantons Graubünden (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Gemeindeautonomie; Aufhebung von Privatgräbern.

    1. Rechtsnatur der Privatgräber (E. 4a); Tragweite wohlerworbener
Rechte (E. 4b); Voraussetzungen, unter denen solche Rechte beschränkt
oder entzogen werden können (E. 5a, b und d).

    2. Ist die kantonale Behörde von Gesetzes wegen verpflichtet,
den Sachverhalt von Amtes wegen zu ermitteln, so verletzt sie die
Gemeindeautonomie, wenn sie eine Bestimmung eines Gemeindereglementes
aufhebt, ohne die rechtserheblichen Verhältnisse abzuklären (E. 5c).

Sachverhalt

    A.- In der bündnerischen Gemeinde Sent bestand seit dem Jahre 1906
ein Reglement über die Bestattungen (Uorden da sunteri e funerals). Nach
diesem Gemeindeerlass wurde zwischen öffentlichen und privaten Gräbern
unterschieden. Für die Privatgräber, welche gegen eine Geldleistung von
ursprünglich Fr. 100.--, später Fr. 300.--, erworben werden konnten,
waren gewisse Teile des Gemeindefriedhofes reserviert.

    Da die Gemeinde Sent zur Auffassung gelangte, die Verhältnisse
auf dem Friedhof vermöchten den heutigen Anforderungen nicht mehr zu
genügen, liess sie durch eine Kommission einen Entwurf für eine neue
Friedhofordnung ausarbeiten, in welchem unter anderem die Aufhebung
der Privatgrabstätten vorgesehen war. Der Entwurf der Friedhofordnung
wurde mit dem zur Genehmigung zuständigen Sanitätsdepartement des Kantons
Graubünden besprochen und unter Berücksichtigung von dessen Anregungen
bereinigt. Am 10. Dezember 1984 hiessen die Stimmberechtigten von Sent das
neue Reglement gut, und am 17. Dezember 1984 erteilte ihm der Vorsteher
des Sanitätsdepartements des Kantons Graubünden die kantonale Genehmigung.

    Vierunddreissig Personen, die sich als an Privatgräbern in Sent
berechtigt betrachten, erhoben bei der Regierung des Kantons Graubünden
eine verfassungsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, das Friedhofreglement
der Gemeinde Sent vom 10./11. Dezember 1984 sei aufzuheben, soweit damit
Privatgrabrechte eingeschränkt oder aufgehoben würden. Nach Anhörung der
Gemeinde zur Sache selbst entschied die Regierung des Kantons Graubünden
am 21. April 1986 wie folgt:

    "1. Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Satz '...Id existan be
   fossas publicas...' in Art. 8 des 'Reglamaint da sepultüra e da sunteri
   dal cumün da Sent' vom 10. Dezember 1984 aufgehoben.

    2. Die Gemeinde Sent wird verpflichtet, die Aufhebung des Satzes
   '...Id existan be fossas publicas...' in Art. 8 des Reglementes vom 10.

    Dezember 1984 im amtlichen Publikationsorgan der Gemeinde Sent unter

    Mitteilung an das Sanitätsdepartement zu veröffentlichen.

    (3. und 4. Kosten- und Entschädigungsfolgen)."

    Die Begründung dieses Entscheides geht im wesentlichen dahin, die
Beschwerdeführer hätten sich als Konzessionäre an den Privatgräbern ihrer
Familien wohlerworbene Rechte verschafft. Der solche Rechte begründende
Akt sei unwiderruflich, soweit er nicht selbst oder eine schon bei der
Begründung des Rechtes geltende allgemeine Vorschrift unter bestimmten
Voraussetzungen den Widerruf zulasse. Im übrigen habe die Gemeinde
Sent nicht geltend gemacht, die Aufhebung der Grabkonzession liege im
öffentlichen Interesse oder der Entzug lasse sich unter dem Gesichtspunkt
der Verhältnismässigkeit rechtfertigen. Schliesslich sei für den
Entzug der Konzessionen auch keine Entschädigung vorgesehen. Ob auch
kulturhistorische Gründe gegen die Aufhebung der Privatgräber sprächen,
brauche bei dieser Sachlage nicht näher geprüft zu werden.

    Die Gemeinde Sent führt gegen diesen Beschluss staatsrechtliche
Beschwerde. Sie rügt eine Verletzung der Gemeindeautonomie und beantragt,
den angefochtenen Entscheid aufzuheben.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde der Gemeinde Sent im Sinne
der Erwägungen gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- a) Die Regierung hat hinsichtlich der Rechtsnatur von Privatgräbern
auf ihren Entscheid vom 18. November 1935 verwiesen, welcher die ständige
bündnerische Praxis zum Ausdruck bringe (veröffentlicht in Rekurspraxis
des Kleinen und Grossen Rates von Graubünden, Band VI, Nr. 5480).
Demnach sind die durch Erwerb eines Privatgrabes begründeten Ansprüche
nicht privatrechtlicher Natur, sondern in Anwendung öffentlichen Rechtes
eingeräumte Konzessionen, durch welche wohlerworbene Rechte begründet
werden. Es ist nicht erforderlich, diese Frage näher zu prüfen, da auch
die Beschwerdeführerin von diesem rechtlichen Standpunkt ausgeht. Er
entspricht zudem der Auffassung des Bundesgerichts, wie sie in einem Urteil
aus jüngster Zeit zum Ausdruck kommt (ZBl 86/1985, S. 498 ff.). Streitig
ist einzig, ob die Regierung aufgrund dieser Natur der Grabrechte die
Bestimmung der neuen Friedhofordnung von Sent, wonach künftig nur noch
öffentliche Gräber bestehen, als verfassungswidrig aufheben durfte.

    b) Die Tragweite des angefochtenen Entscheides ist nicht leicht
zu bestimmen. Er enthält Wendungen, die dafür sprechen, die Regierung
betrachte die umstrittenen Sondernutzungskonzessionen überhaupt als
unwiderruflich, weil sie selbst keinen entsprechenden Vorbehalt
enthalten und auch im Zeitpunkt ihrer Begründung keine geltende
allgemeine Vorschrift unter bestimmten Voraussetzungen ihren Widerruf
zugelassen habe. Andere Stellen könnten demgegenüber so ausgelegt
werden, dass die Regierung einen Entzug der Konzessionen bei Nachweis
eines überwiegenden öffentlichen Interesses, Einhaltung des Prinzips
der Verhältnismässigkeit und Zusicherung einer Entschädigung für
zulässig betrachten würde. Die erste Auffassung wäre klarerweise
bundesrechtswidrig. Eine Sondernutzungskonzession begründet zwar nach
herrschender Lehre ein wohlerworbenes Recht, welches unter dem Schutz
der Eigentumsgarantie steht. Aber auch dieses verfassungsmässige Recht
kann unter bestimmten Bedingungen eingeschränkt werden. Der Gedanke,
wohlerworbene Rechte seien schlechthin gesetzesbeständig und damit
unentziehbar, würde bedeuten, diese Rechte gingen in ihrer Tragweite
über die Eigentumsgarantie hinaus, was der übereinstimmenden neueren
Lehre sowie der Rechtsprechung widersprechen würde. Es sei hiefür auf
das bereits erwähnte, in ZBl 86/1985, S. 498 ff. veröffentlichte Urteil
des Bundesgerichts und auf die dort angeführte Literatur verwiesen.

Erwägung 5

    5.- a) In der Vernehmlassung bringt die Regierung zum Ausdruck, sie
betrachte die Konzessionen nicht als unwiderruflich, jedoch halte sie die
von Lehre und Rechtsprechung geforderten Voraussetzungen für ihren Entzug
hier nicht für erfüllt. Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Auffassung
bereits dem angefochtenen Entscheid selbst zugrunde lag; jedenfalls war
dies nicht klar ersichtlich. Auch so verstanden hält der Entscheid der
Prüfung unter dem Gesichtswinkel der Gemeindeautonomie nicht stand.

    b) Kann ein durch Sondernutzungskonzession erworbenes Recht nicht
weiter gehen als das Eigentum, so muss es - abgesehen vom Erlöschen
durch Fristablauf - auch unter denselben Voraussetzungen eingeschränkt
oder aufgehoben werden können wie dieses (vgl. ZBl 86/1985, S. 502
und aus der dort angeführten Literatur vor allem WALTER KÄMPFER, Zur
Gesetzesbeständigkeit "wohlerworbener Rechte", in: Mélanges Henri Zwahlen,
Lausanne 1977, S. 355). Eingriffe in solche Rechte sind somit in analoger
Anwendung der zu Art. 22ter BV entwickelten Grundsätze zulässig, wenn sie
auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen
und dafür volle Entschädigung geleistet wird, soweit der Eingriff einer
Enteignung gleichkommt (BGE 111 Ia 96 E. 2; 110 Ia 33 E. 4; 106 Ia 168
E. 1b). Ob dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit in diesem Zusammenhang
die Bedeutung einer weiteren selbständigen Eingriffsvoraussetzung zukommt
oder ob diesem nicht notwendigerweise bei der Abwägung der öffentlichen
Interessen am Eingriff gegenüber den privaten an dessen Unterlassung
Rechnung zu tragen sei, ist eine Frage von bloss formeller Tragweite,
die hier offenbleiben kann.

    c) Im angefochtenen Entscheid wird erklärt, die Gemeinde Sent
habe das Vorliegen eines öffentlichen Interesses und die Einhaltung
des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit nicht dargetan. Es trifft zu,
dass die Vernehmlassung der Gemeinde im kantonalen Beschwerdeverfahren
vom 6. März 1986 in dieser Hinsicht Lücken aufweist. Indessen war
die Regierung von Gesetzes wegen gehalten, den Sachverhalt von Amtes
wegen zu ermitteln (Art. 27 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 des
Gesetzes über das Verfahren in Verwaltungs- und Verfassungssachen vom
3. Oktober 1982; vgl. auch HANSJÖRG KISTLER, Die Verwaltungsrechtspflege
im Kanton Graubünden, Zürich 1979, S. 161 ff.). Sie durfte sich um so
weniger damit begnügen, die Vernehmlassung der Gemeinde als ungenügend zu
erklären, als die privaten Berechtigten in ihrer verfassungsrechtlichen
Beschwerde die wesentlichen Gründe, welche die Gemeindeversammlung zu
einer Neuregelung veranlasst hatten, selbst wenigstens in summarischer
Form dargelegt sowie beantragt hatten, weitere Sachverhaltsermittlungen
von Amtes wegen und eventuell einen Augenschein auf dem Friedhof von Sent
vorzunehmen. Zudem hatte die Gemeinde sowohl in ihrer Vernehmlassung vom
6. Februar wie in derjenigen vom 6. März 1986 ihre Bereitschaft bekundet,
die Angelegenheit im Sinne aller in schicklicher Weise erledigen zu helfen,
aber unter Wahrung der beidseitigen Interessen. Zieht man schliesslich
in Betracht, dass Reglemente wie andere generell-abstrakte Normen kaum
je eine Begründung aufweisen und dass andererseits eine Neuordnung der
vorliegenden Art von der Sache her nur mit Rücksicht auf das öffentliche
Interesse erfolgen konnte, so erscheint es als unzulässiger Eingriff in
die Gemeindeautonomie, wenn die Regierung den Satz der Friedhofordnung,
welcher die Aufhebung der Privatgräber zur Folge hat, ohne nähere Abklärung
der Verhältnisse strich. Sie wäre aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen
verpflichtet gewesen, die Gründe, die zur Neuregelung Anlass boten, zu
prüfen und sodann eine Abwägung der öffentlichen gegenüber den privaten
Interessen vorzunehmen.

    Die Gemeinde Sent macht auch geltend, die Frage der Privatgräber sei
zwischen ihr und dem Sanitätsdepartement diskutiert worden. Sowohl die
Regierung wie die privaten Beschwerdegegner bestreiten dies mit Hinweis
auf die Akten. Welche Sicht der Dinge den Tatsachen entspricht, lässt
sich aufgrund der dem Bundesgericht vorliegenden Unterlagen nicht klar
entscheiden. Dies ist aber auch nicht notwendig, denn selbst wenn die
Aufhebung der Privatgräber im Rahmen des Genehmigungsverfahrens nicht
besprochen wurde, so hätte dies die Regierung als Rechtsmittelinstanz
nicht davon entbunden, den rechtserheblichen Sachverhalt von Amtes wegen
abzuklären und eine umfassende Interessenabwägung vorzunehmen (vgl. dazu
BGE 110 Ia 86 E. 4b).

    d) Aus der Vernehmlassung ist zu schliessen, dass die Regierung sich zu
einer solchen Prüfung unter anderem deshalb nicht für verpflichtet hielt,
weil die Aufhebung der Privatgräber "nicht der geltenden Rechtsordnung
entspreche". Soweit damit das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage gemeint
sein sollte, geht der Einwand deshalb fehl, weil das kantonale Recht die
Gemeinden nicht verpflichtet, Privatgräber zuzulassen, sondern diese von
der Gemeinde Sent durch kommunales Recht geschaffen worden sind. Es muss
demgemäss auch genügen, wenn ein kommunaler Rechtssetzungsakt derselben
Stufe diese Regelung ändert (vgl. dazu BGE 108 Ia 184 E. 3d mit Hinweis;
105 Ib 81 E. 6a).

    Es scheint allerdings, dass die Regierung weniger diesen Punkt
beanstanden will als vielmehr das Fehlen gemeinderechtlicher Grundlagen für
die Entschädigung der Berechtigten an den aufgehobenen Privatgräbern. Auch
dieser Einwand ist jedoch unbegründet. Geht man davon aus, dass die
Konzessionäre eine mit dinglich Berechtigten vergleichbare Stellung
einnehmen, so darf allerdings die Konzession grundsätzlich nur gegen
Entschädigung aufgehoben werden. Über die Frage, ob ein bewertbarer
Schaden entstehe, wenn ja, für welche Personen und in welcher Höhe, ist
indessen nicht in diesem Verfahren zu entscheiden. Die Argumentation
der Regierung verkennt, dass die Entschädigung nicht Voraussetzung,
sondern Folge des Eingriffs in Rechte dinglicher oder verwandter Natur
darstellt. Die Verhältnisse lassen sich mit denjenigen bei Erlass eines
neuen Zonenplanes vergleichen, durch den ein bisher überbaubares und
einer Bauzone zugeteiltes Grundstück in eine nicht mehr überbaubare Zone
eingewiesen wird. Zwar kann es in diesen Fällen immer nur um materielle und
nicht um formelle Enteignung gehen; indessen muss auch vorliegend gelten,
dass die Zulässigkeit des Eingriffs zunächst nach den übrigen angeführten
Gesichtspunkten zu prüfen ist und die Frage der Enteignungsentschädigung
anschliessend in einem besonderen Verfahren durch die hiefür zuständigen
Behörden zu beurteilen bleibt (vgl. dazu BGE 98 Ia 595 E. 5; 97 I 626
E. 5). Anders wäre es höchstens, wenn das neue Reglement Entschädigungen
von vornherein für alle Fälle ausschlösse; allein dies ist nicht der
Fall, und die Gemeinde bemerkt in der staatsrechtlichen Beschwerde
sogar ausdrücklich, sie betrachte es als selbstverständlich, dass sowohl
genutzte wie nicht genutzte Grabrechte nur gegen Entschädigung abgelöst
würden. Schliesslich ist zu diesem Punkt beizufügen, dass eine generelle
Regelung der Entschädigungsfrage schon im Reglement wegen der grossen
Verschiedenheit hinsichtlich der einzelnen Gräber praktisch kaum möglich
wäre. Auch dieser Einwand ist somit nicht geeignet, die Nichtgenehmigung
des streitigen Satzes der Friedhofordnung von Sent zu rechtfertigen.

Erwägung 6

    6.- Aus allen diesen Gründen erscheint der Entscheid der Regierung
des Kantons Graubünden als unzulässiger Eingriff in den Autonomiebereich
der Gemeinde Sent und ist aufzuheben. Mit den von beiden Parteien
vorgetragenen materiellen Argumenten hat sich das Bundesgericht nicht zu
befassen. Es wird vielmehr Sache der Regierung sein, nach Vornahme der
notwendigen Erhebungen und allenfalls nach Durchführung eines Augenscheins
erneut darüber zu befinden, ob der vorgesehene Eingriff in wohlerworbene
Rechte der privaten Beschwerdegegner im öffentlichen Interesse liege und
verhältnismässig sei.