Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 IA 161



112 Ia 161

28. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 3. September 1986 i.S. X. gegen Bezirksanwaltschaft Zürich und
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Persönliche Freiheit; Art. 3 EMRK.

    Zwangsrasur. Die Anordnung der Bartrasur zwecks Konfrontation des
Beschuldigten mit Zeugen eines ihm vorgeworfenen schweren Verbrechens
stellt keinen besonders schweren Eingriff in die körperliche Integrität
dar (E. 3), verfügt unter dem Gesichtspunkt der Willkür in den §§ 145
und 146 StPO/ZH über eine hinreichende gesetzliche Grundlage (E. 4a),
ist angesichts des dringenden Tatverdachts verhältnismässig (E. 4b) und
hält mithin vor dem ungeschriebenen Grundrecht der persönlichen Freiheit
stand (E. 4c).

    Die Massnahme stellt auch keine erniedrigende Behandlung dar und
verletzt somit Art. 3 EMRK nicht (E. 5).

Sachverhalt

    A.- Die Bezirksanwaltschaft Zürich verdächtigt X., zusammen mit Y. in
Zürich eine Bankfiliale überfallen zu haben. Bei seiner Verhaftung
kurz nach dem Überfall trug der Verdächtigte keinen Bart. In der
Untersuchungshaft liess er sich einen Vollbart wachsen. Am 26. Mai
1986 verfügte die Bezirksanwaltschaft Zürich, dass X. die Entfernung
seines Bartes zu dulden habe, damit er mit den Augenzeugen des
Überfalls konfrontiert werden könne. X. rekurrierte hiegegen an die
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, die den Rekurs mit Verfügung vom
18. Juni 1986 abwies. Gegen diesen Entscheid führt X. mit Eingabe vom
24. Juni 1986, ergänzt am 22. August 1986, staatsrechtliche Beschwerde beim
Bundesgericht. Er rügt im wesentlichen eine Verletzung der persönlichen
Freiheit, des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit und des Art. 3 EMRK. Das
Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer sieht in der umstrittenen Anordnung, die
Entfernung seines Bartes dulden zu müssen, eine Verletzung seines Rechts
auf persönliche Freiheit und körperliche Unversehrtheit.

    a) Die Garantie der persönlichen Freiheit ist ein ungeschriebenes
Grundrecht der Bundesverfassung, das nicht nur die Bewegungsfreiheit und
die körperliche Integrität, sondern darüber hinaus alle Freiheiten schützt,
die elementare Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung darstellen
(BGE 109 Ia 279 E. 4a mit Hinweisen). Das Recht der persönlichen Freiheit
gilt indessen nicht absolut. Beschränkungen sind zulässig, wenn sie auf
gesetzlicher Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und
verhältnismässig sind; zudem darf die persönliche Freiheit weder völlig
unterdrückt noch ihres Gehalts als Institution der Rechtsordnung entleert
werden (BGE 109 Ia 281 E. 4a mit Hinweisen).

    b) Im vorliegenden Fall geht es um die zwangsweise Entfernung des
Bartes des Beschwerdeführers. Damit steht ein Eingriff in seine körperliche
Unversehrtheit in Frage (vgl. BVerfGE 47, 239, auch veröffentlicht in:
EuGRZ 1978, S. 96 ff.). Ist ein solcher Eingriff in die persönliche
Freiheit als schwer zu betrachten, so ist nach der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung die Auslegung und Anwendung des kantonalen Rechts frei
zu prüfen. Steht dagegen ein leichter Eingriff in Frage, so hat das
Bundesgericht Auslegung und Anwendung des kantonalen Rechts nur auf Willkür
hin zu prüfen (BGE 108 Ia 66 E. 2a; 107 Ia 140 E. 4a, je mit Hinweisen).

    Die Entfernung des Bartes kann die Erscheinung einer Person stark
verändern. Wird sie gegen den Willen des Betroffenen durchgesetzt, so
greift die entsprechende Anordnung erheblich in sein Recht auf körperliche
Unversehrtheit ein. Gleichwohl kann nicht von einem schweren Eingriff im
Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung gesprochen werden. Zunächst
unterscheidet sich die Bartrasur erheblich vom Kahlscheren des Kopfes;
es handelt sich um eine Massnahme der Gestaltung des körperlichen
Erscheinungsbildes, wie sie die überwiegende Mehrzahl der Schweizer Männer
und zeitweise sogar der Beschwerdeführer selbst auszuführen pflegt. In
der Regel wird daher auch kaum von einer Entstellung die Rede sein
können, was beim Kahlscheren des Kopfes eher der Fall sein dürfte. Aus
diesem Grund vermag die Berufung des Beschwerdeführers auf ein Werk
der Strafrechtsliteratur nicht durchzudringen, wonach das "objektiv in
erheblichem Masse entstellende Kahlscheren" als Körperverletzung bezeichnet
wird (GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil,
Band 1, Bern 1973, S. 58). Sodann hat die zwangsweise Bartrasur lediglich
vorübergehenden Charakter; nach durchgeführter Gegenüberstellung des
Beschwerdeführers mit den Augenzeugen des Banküberfalls wird er den Bart
ohne weiteres wieder wachsen lassen können. Es wird von ihm lediglich
verlangt, für kurze Zeit wieder so aufzutreten, wie er es früher schon
freiwillig getan hat. Die streitige Anordnung bewirkt somit lediglich einen
relativ geringfügigen Eingriff (vgl. BVerfGE 47, 248, auch veröffentlicht
in: EuGRZ 1978, S. 97/98).

    Hieran ändert auch die Befürchtung des Beschwerdeführers nichts, dass
er mit grosser Wahrscheinlichkeit bei der zwangsweisen Rasur verletzt
werde. Eine sachgerechte Entfernung des Bartes ist erfahrungsgemäss ohne
Verletzung möglich. Sollte der Beschwerdeführer jedoch deshalb verletzt
werden, weil er sich handgreiflich der Rasur entziehen möchte, so hätte
er sich das entgegen seiner Ansicht selbst zuzuschreiben.

    Ebenfalls zu keiner andern Beurteilung der Intensität des Eingriffs
führen die Behauptungen des Beschwerdeführers, die Anordnung der Bartrasur
mache ihn lächerlich, erniedrige ihn, habe Prangerwirkung und bedeute
für ihn eine psychische Schmach. Ob ein Eingriff als schwer oder als
leicht zu werten ist, entscheidet sich nach objektiven Kriterien. Wie
die vorstehenden Ausführungen zeigen, kann von derart schwerwiegenden
Nebenwirkungen der streitigen Anordnung nicht ernsthaft die Rede
sein. Abgesehen davon dürfte der Beschwerdeführer auch subjektiv nicht
übermässig unter der Anordnung leiden, ist er doch noch vor kurzer Zeit
selbst freiwillig ohne Bart aufgetreten.

    Nicht zu Gunsten eines schweren Eingriffs spricht schliesslich die
Annahme des Beschwerdeführers, die streitige Anordnung wiege mindestens
gleich schwer wie die Blutprobe. So hat das Bundesgericht im Jahre
1984 festgestellt, bei der Blutentnahme könne offensichtlich nicht
von einem schweren Eingriff in die persönliche Freiheit gesprochen
werden (unveröffentlichtes Urteil vom 18. Mai 1984 i.S. X. gegen
Staatsanwaltschaft und Anklagekammer des Kantons St. Gallen, E. 2a).

Erwägung 4

    4.- a) Der Beschwerdeführer sieht zunächst darin eine Verletzung des
Grundrechts der persönlichen Freiheit, dass sich die umstrittene Anordnung
zur Bartrasur nicht auf eine gesetzliche Grundlage zu stützen vermöge. Wie
es sich damit verhält, ist nach dem Gesagten nur auf Willkür hin zu prüfen
(E. 3).

    Die Staatsanwaltschaft erblickt die gesetzliche Grundlage der
streitigen Anordnung in § 145 StPO. Jedenfalls sinngemäss sieht sie diese
auch in § 146 StPO. Diese beiden Vorschriften lauten:

    § 145. Müssen dem Zeugen zum Zwecke der Anerkennung Personen
   vorgestellt oder Sachen vorgelegt werden, so ist er vorher aufzufordern,
   sie so gut als möglich zu beschreiben.

    § 146. Zur Hebung von Widersprüchen kann jeder Zeuge dem anderen oder
   dem Angeschuldigten gegenübergestellt werden.

    Es versteht sich von selbst, dass die Vorschriften von §§ 145 und 146
StPO bei der Gegenüberstellung von Angeschuldigtem und Zeugen zum Zweck
der Erkennung nur dann sinnvoll anwendbar sind, wenn der Angeschuldigte
dabei so erscheint, wie er zur Zeit der ihm vorgeworfenen Tat vermutlich
ausgesehen hat. Wäre es anders, könnte der Angeschuldigte den Zweck
der Gegenüberstellung vereiteln, indem er sein Aussehen verändern
würde. Gestatten aber die §§ 145 und 146 StPO die Gegenüberstellung
ausdrücklich, so durften die Zürcher Behörden ohne Willkür in diesen
Vorschriften auch die gesetzliche Grundlage sehen, den Beschwerdeführer zur
Duldung der Bartrasur zu verpflichten, trug er doch bei seiner Verhaftung
kurze Zeit nach der Tat keinen Bart.

    Verhält es sich so, braucht auf die Ausführungen des Beschwerdeführers
zu den § 26, 31 sowie 156 StPO und zu § 41 KV nicht näher eingegangen
zu werden.

    b) Der Beschwerdeführer erachtet die umstrittene Anordnung zur
Entfernung seines Bartes sodann als unverhältnismässig. Er begründet
diese Rüge im wesentlichen damit, dass es an einem dringenden Tatverdacht
fehle, dass die Täter des Banküberfalls laut einem Zeitungsbericht
maskiert gewesen seien, weshalb die beabsichtigte Gegenüberstellung von
vornherein zwecklos sei, und dass ein Täterbild existiere, das sich von
ihm wesentlich unterscheide.

    Aus den polizeilichen Ermittlungen ist zu schliessen, dass jedenfalls
einer der Täter nicht während der ganzen Dauer des Banküberfalls
maskiert gewesen ist. Sodann haben einzelne Augenzeugen des Überfalls
bei der Fotokonfrontation den Beschwerdeführer als allenfalls möglichen
Täter bezeichnet. Es kann daher nicht gesagt werden, dass ein Täterbild
existiere, das sich wesentlich von der Erscheinung des Beschwerdeführers
unterscheide. Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer, der sich selbst
als mittellos bezeichnet, bei seiner Verhaftung rund Fr. 100'000.-- auf
sich getragen hatte. Dieser Betrag liegt in der Grössenordnung der beim
Überfall erlangten Beute. All diese Umstände rechtfertigen die Annahme
des dringenden Tatverdachts.

    Die umstrittene Anordnung bezweckt, die Strafuntersuchung durch eine
persönliche Gegenüberstellung zwischen Beschwerdeführer und Augenzeugen
des Banküberfalls zu ergänzen. Der Beschwerdeführer, der als der eine -
bartlose - Täter verdächtigt wird, trug bei seiner Verhaftung kurze Zeit
nach dem Überfall keinen Bart. Könnte er mit Vollbart an der beabsichtigten
Gegenüberstellung teilnehmen, hätte die Konfrontation offensichtlich
keinen Sinn. Die Anordnung der Bartrasur geht somit nicht weiter, als
es der Zweck der Gegenüberstellung gebietet. Sie dient der Aufklärung
eines schweren Verbrechens, woran ein gewichtiges öffentliches Interesse
besteht. Von einem unverhältnismässigen Eingriff in die persönliche
Freiheit des Beschwerdeführers kann daher keine Rede sein.

    c) Die umstrittene Anordnung durfte somit ohne Willkür auf die
§§ 145 und 146 StPO gestützt werden. Sie erweist sich im weitern als
verhältnismässig. Da der Beschwerdeführer mit Recht nicht geltend macht,
ihr fehle das öffentliche Interesse und sie wahre den Kerngehalt des
Grundrechts nicht, erweist sich die Rüge der Verletzung der persönlichen
Freiheit als unbegründet.

Erwägung 5

    5.- Der Beschwerdeführer rügt schliesslich eine Verletzung von Art. 3
EMRK, da er die zwangsweise Entfernung seines Bartes als erniedrigende
Behandlung empfindet.

    Diese Rüge ist offensichtlich unbegründet. Die umstrittene Anordnung
ist in keiner Weise erniedrigend. Sie verfolgt auch nicht im entferntesten
den Zweck, den Beschwerdeführer in irgendeiner Art zu demütigen. Sie dient
ausschliesslich dem Ziel, eine zur Aufklärung eines schweren Verbrechens
erforderliche und nicht anders durchführbare Gegenüberstellung des
Beschwerdeführers mit den Augenzeugen der Tat zu ermöglichen. Schliesslich
kann die angeordnete Bartrasur um so weniger als erniedrigend bezeichnet
werden, als der Beschwerdeführer schon früher freiwillig keinen Bart
getragen hat.