Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 IA 1



112 Ia 1

1. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 20.
Januar 1986 i.S. Y gegen Bezirksanwaltschaft X und Direktion der Justiz
des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV, rechtliches Gehör.

    Ist aufgrund der Rechtsmitteleingabe noch mit einer rechtzeitigen
Ergänzung zu rechnen, dann läuft eine vorweggenommene Erledigung auf eine
unzulässige Verkürzung der gesetzlich zwingend geregelten Rechtsmittelfrist
hinaus und verletzt damit das rechtliche Gehör. Dies gilt jedenfalls
dann, wenn die Rechtsmittelinstanz nicht bereit ist, ihren Entscheid ohne
weiteres in Wiedererwägung zu ziehen, falls der Einleger des Rechtsmittels
noch frist- und formgerecht eine Ergänzung nachliefert.

Sachverhalt

    A.- Die Bezirksanwaltschaft X bestrafte Y mit Verfügung vom 20. Juni
1985 mit einer Disziplinarstrafe von acht Tagen Arrest. Mit Telegramm
vom 22. Juni 1985 an die Justizdirektion des Kantons Zürich beantragte
Y, diesen Entscheid aufzuheben. Gleichzeitig stellte er ein Gesuch um
aufschiebende Wirkung. Die Rekursinstanz wies beide Anträge am 24. Juni
1985 ab. Auf eine am 8. Juli 1985 rechtzeitig nachgereichte Rekursergänzung
trat sie nicht ein.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Mit Disp. Ziffer III der angefochtenen Verfügung ist die
Justizdirektion auf die "Rekursbegründung" vom 8. Juli 1985 nicht
eingetreten. Sie hat erwogen, der Beschwerdeführer habe bereits mit
Telegramm vom 22. Juni 1985 Rekurs erhoben; diesen habe sie aber schon mit
Verfügung vom 24. Juni 1985 behandelt und abgewiesen. Der Beschwerdeführer
bestreitet die Zulässigkeit dieses Vorgehens und macht eine Verletzung des
rechtlichen Gehörs geltend. Er bringt vor, der telegraphisch angemeldete
Rekurs sei mangels Unterschrift (noch) nicht formgültig gewesen, rügt eine
Verkürzung der gesetzlichen Rechtsmittelfrist und wendet schliesslich ein,
die Verfügung der Justizdirektion vom 24. Juni 1985 sei ihm, d.h. seinem
Anwalt, nie gültig zugestellt worden.

    a) Soweit sich der Beschwerdeführer auf die Ungültigkeit
des telegraphisch eingereichten Rekurses beruft, ist ihm nicht
beizupflichten. Wer bei der Einreichung eines Rechtsmittels einen formellen
Fehler begeht, kann sich nach Treu und Glauben nicht darüber beklagen, dass
die Rechtsmittelinstanz über den Fehler hinwegsieht und das Rechtsmittel
gleichwohl behandelt.

    b) Wie es sich mit der Zustellung des Entscheides vom 24. Juni 1985
verhält, kann dahingestellt bleiben. Eine allfällige Nichtzustellung
könnte jedenfalls nicht zur Aufhebung des Entscheides als solchen führen;
übrigens scheint der Anwalt des Beschwerdeführers dessen Inhalt zu
kennen. Entscheidend ist die Frage, ob die Justizdirektion den am 22. Juni
1985 telegraphisch angemeldeten Rekurs sofort materiell behandeln und
ihren Entscheid dem fristgerecht eingereichten schriftlichen Rekurs vom
8. Juni 1985 entgegenhalten durfte.

    c) Der Umfang des rechtlichen Gehörs bestimmt sich in erster
Linie nach den kantonalen Verfahrensvorschriften. Wo sich jedoch der
kantonale Rechtsschutz als ungenügend erweist, greifen die unmittelbar
aus Art. 4 BV folgenden Verfahrensregeln zur Sicherung des rechtlichen
Gehörs Platz. Im vorliegenden Fall behauptet der Beschwerdeführer
nicht, das Vorgehen der Justizdirektion verletze irgendwelche kantonalen
Verfahrensvorschriften. Es ist daher einzig - und zwar mit freier Kognition
- zu prüfen, ob unmittelbar aus Art. 4 BV folgende Regeln missachtet wurden
(BGE 110 Ia 81 E. 5b, 85 E. 3b, 101 E. 4a; mit Hinweisen).

    Das rechtliche Gehör dient einerseits der Sachaufklärung, andererseits
stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines
Entscheides dar, der in die Rechtsstellung des Einzelnen eingreift (BGE
111 Ia 104 E. 2b mit Hinweis; vgl. auch THOMAS COTTIER, Der Anspruch auf
rechtliches Gehör, Art. 4 BV, in recht 1984, S. 1 ff.).

    Dieses Normprogramm verwirklicht sich nur, wenn die Behörde
die Vorbringen des Betroffenen auch tatsächlich hört, sorgfältig und
ernsthaft prüft und in der Entscheidfindung berücksichtigt. Der Anspruch
bezieht sich auf alle form- und fristgerechten Äusserungen, Eingaben
und Anträge des Betroffenen, die zur Klärung der konkreten Streitfrage
geeignet und erheblich sind (JÖRG PAUL MÜLLER/STEFAN MÜLLER, Grundrechte,
Besonderer Teil, Bern 1985, S. 239 ff.; vgl. auch THOMAS COTTIER, aaO
S. 10; ARTHUR HAEFLIGER, Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich,
Bern 1985, S. 129). In diesem Sinn verlangt auch das Bundesgesetz über
das Verwaltungsverfahren vom 20. Dezember 1968 in Art. 32 Abs. 1, dass
die Behörde alle erheblichen und rechtzeitigen Vorbringen der Parteien
würdigt, bevor sie verfügt (vgl. dazu BGE 99 V 188; PETER SALADIN, Das
Verwaltungsverfahrensrecht des Bundes, Basel/Stuttgart 1978, S. 141).

    Aufgrund dieses allgemeinen verfassungsrechtlichen Anspruches lässt
sich allerdings keine generelle Regel darüber aufstellen, ob über ein
Rechtsmittel vor Ablauf der Rechtsmittelfrist entschieden werden darf
oder nicht. Diese Frage ist vielmehr im Blick auf den genannten Zweck des
rechtlichen Gehörs und seinen allgemeinen Gehalt unter Berücksichtigung
aller Umstände des Einzelfalles und der Interessen der Beteiligten zu
beantworten. Es sind durchaus Fälle denkbar, in denen ein rasches Vorgehen
berechtigt ist und sogar im Interesse des Rechtsmittelklägers liegt. Immer
aber ist sorgfältig zu prüfen, ob eine als abschliessend verstandene
Rechtsmitteleingabe vorliegt oder ob mit einer Ergänzung zu rechnen
ist. Trifft das zweite zu, so läuft eine vorweggenommene Erledigung
auf eine unzulässige Verkürzung der gesetzlich zwingend geregelten
Rechtsmittelfrist hinaus und verletzt damit das rechtliche Gehör. Dies
jedenfalls dann, wenn die Rechtsmittelinstanz nicht bereit ist, ihren
Entscheid ohne weiteres in Wiedererwägung zu ziehen, falls der Einleger
des Rechtsmittels noch frist- und formgerecht eine Ergänzung nachliefert.

    Im vorliegenden Falle werden im telegraphischen Rekurs vom 22. Juni
1985 zunächst die Anträge gestellt, wobei derjenige auf Erteilung der
aufschiebenden Wirkung dem Hauptantrag auf Aufhebung der angefochtenen
Verfügung vorangestellt ist. Sodann folgen die Worte: "Vorläufige
Begründung." Daran schliesst sich eine Kurzbegründung an, von der sich
vier Sätze auf die angefochtene Verfügung selbst und zwei auf die
Art und Weise ihres Vollzuges beziehen. Schon die Worte "vorläufige
Begründung" boten genügend Anlass, daran zu zweifeln, dass das Telegramm
als abschliessende Rekursbegründung zu verstehen sei; sie brachten in
deutlicher Weise zum Ausdruck, eine weitere Eingabe sei zu erwarten. Hinzu
kommt der gesamte Sachzusammenhang: Die Bezirksanwaltschaft X hatte einem
allfälligen Rekurs in der Verfügung vom 20. Juni 1985 die aufschiebende
Wirkung in Anwendung von § 60 Abs. 2 der zürcherischen Verordnung über
die Bezirksgefängnisse (BezGV) vom 19. April 1972 vorsorglich entzogen,
und der Beschwerdeführer hatte die Arreststrafe bereits angetreten. Die
Rekursinstanz hätte deshalb annehmen müssen, es gehe dem Verteidiger in
erster Linie um die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung und er
begründe den Rekurs einstweilen nur insoweit, als dies im Hinblick auf den
entsprechenden Antrag unbedingt notwendig war. Diesem Zweck entsprach auch
die gewählte Form des Telegramms, die für Rechtsmittelbegründungen unüblich
ist. Wenn die Justizdirektion in ihrer Vernehmlassung ausführt, es sei
der Verteidigung darum gegangen, durch Einreichung eines formungültigen
Rechtsmittels eine Erstreckung der gesetzlichen Frist zu erlangen,
so kann dem nicht beigepflichtet werden. Nachdem der Verteidiger das
Telegramm abgesandt hatte, standen ihm noch 19 Tage der gesetzlichen
Rechtsmittelfrist zur Verfügung. Er hat von dieser denn auch Gebrauch
gemacht. Indem die Rekursinstanz nach Eingang des Telegramms statt nur über
das Gesuch um aufschiebende Wirkung sofort auch in der Sache selbst befand
und dann den damals getroffenen Entscheid im Sinne einer res iudicata der
frist- und formgerecht eingereichten Rekursbegründung entgegenhielt, hat
sie den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör verletzt. Die
Beschwerde erweist sich somit in diesem Punkt als begründet. Die
Justizdirektion wird über den Rekurs hinsichtlich der disziplinarischen
Bestrafung des Beschwerdeführers materiell zu entscheiden haben, und zwar
ohne Rücksicht darauf, dass in der Zwischenzeit der Vollzug erfolgt ist.