Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 111 V 99



111 V 99

22. Auszug aus dem Urteil vom 25. April 1985 i.S. Nüssli gegen
Ausgleichskasse des Kantons Zürich und AHV-Rekurskommission des Kantons
Zürich Regeste

    Art. 106 Abs. 1 OG. Postlagernd adressierte Briefsendungen gelten
in jenem Zeitpunkt als zugestellt, in welchem sie auf der Post abgeholt
werden; geschieht dies nicht innert der Aufbewahrungsfrist von einem Monat,
so gilt die Sendung als am letzten Tag dieser Frist zugestellt (Erw. 2).

    Art. 20 Abs. 2, Art. 11 Abs. 2 AHVG.

    - Allgemeine Verrechnungsgrundsätze (Bestätigung der
Rechtsprechung). Wenn die Verwaltung im Rahmen des Verrechnungsverfahrens
von Amtes wegen die finanziellen Verhältnisse des Beitragspflichtigen
abgeklärt und es sich herausgestellt hat, dass die Bezahlung des
Mindestbeitrages eine grosse Härte bedeutet, hat sie das in Art. 11
Abs. 2 AHVG umschriebene Verfahren des Erlasses von Beiträgen einzuleiten
(Erw. 3b).

    - Ergibt sich bei der Neuabklärung nach Rückweisung der Sache an die
Verwaltung, dass die Einkünfte des Beschwerdeführers in keinem Zeitpunkt
das betreibungsrechtliche Existenzminimum überstiegen, ist jede Verrechnung
ausgeschlossen und die Kasse hat die während des Beschwerdeverfahrens
bereits verrechneten Beträge zurückzuerstatten; stellt sich heraus,
dass die Kasse monatlich einen geringeren Betrag als den verfügten hätte
verrechnen dürfen, dass aber bei korrekter Verrechnung des niedrigeren
Betrages die Beitragsschuld im Zeitpunkt der Neuabklärung bereits getilgt
wäre, hat es bei der faktisch durchgeführten Verrechnung sein Bewenden
(Erw. 4b).

Sachverhalt

    A.- Josef Nüssli ist seit 1. Januar 1976 der Ausgleichskasse des
Kantons Zürich als Nichterwerbstätiger angeschlossen. Am 23. Juli 1981
setzte die Ausgleichskasse die Sozialversicherungsbeiträge für die Jahre
1976 bis 1980 und für die Monate Januar bis März 1981 in der Gesamthöhe von
Fr. 750.-- (Mindestbeiträge) fest. Beschwerden gegen die entsprechenden
Verfügungen blieben erfolglos (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts
vom 3. Januar 1983). Anfangs August 1983 wurde Josef Nüssli für die
ausstehenden Beiträge samt entstandenen Kosten erfolglos betrieben.

    Seit 1. April 1981 bezieht Josef Nüssli eine ordentliche
Ehepaar-Altersrente von monatlich Fr. 972.--. Mit Verfügung vom 18. August
1983 gab ihm die Kasse bekannt, dass sie den aus den erwähnten Beiträgen
von Fr. 750.--, den Mahngebühren und den Betreibungsspesen sich ergebenden
Gesamtbetrag von Fr. 948.-- in den Monaten September, Oktober und
November 1983 mit der Ehepaar-Altersrente in drei Teilbeträgen verrechnen
werde. In der Folge zog sie in den genannten drei Monaten je Fr. 316.--
von der Ehepaar-Altersrente ab.

    B.- Mit Entscheid vom 2. Juli 1984 wies die AHV-Rekurskommission
des Kantons Zürich eine gegen die Verfügung vom 18. August 1983 erhobene
Beschwerde ab.

    Auf Wunsch des Versicherten versandte die Rekurskommission
ihren Entscheid nicht an seine Wohnadresse, sondern eingeschrieben
"postlagernd". Die Sendung wurde bis 28. August 1984 nicht in Empfang
genommen, worauf sie die Post mit dem Vermerk "nicht abgeholt" an die
Vorinstanz zurückstellte. Diese unternahm am 29. August 1984 einen zweiten
Zustellungsversuch, wobei sie aber die Sendung nicht mehr eingeschrieben
aufgab.

    C.- Josef Nüssli führt mit Eingabe vom 22. September 1984
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, wobei er angibt, den vorinstanzlichen
Entscheid am 6. September 1984 entgegengenommen zu haben. Er stellt
sinngemäss den Antrag, die Verfügung vom 18. August 1983 sei aufzuheben.

    Ausgleichskasse und Bundesamt für Sozialversicherung beantragen
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 106 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 132 OG ist
die Verwaltungsgerichtsbeschwerde dem Eidg. Versicherungsgericht
innert 30 Tagen seit Eröffnung des vorinstanzlichen Entscheides
einzureichen. Diese Frist kann nicht erstreckt werden (Art. 33 Abs. 1
in Verbindung mit Art. 135 OG). Bei der Berechnung der Fristen wird
der Tag, an dem die Frist zu laufen beginnt, nicht mitgezählt (Art. 32
Abs. 1 OG). Nach Art. 32 Abs. 3 OG ist die 30tägige Frist nur gewahrt,
wenn die Verwaltungsgerichtsbeschwerde spätestens am letzten Tag der
Frist beim Eidg. Versicherungsgericht eingegangen oder zu dessen Händen
der schweizerischen Post übergeben worden ist.

    b) Eine eingeschriebene Postsendung gilt grundsätzlich in dem
Zeitpunkt als zugestellt, in welchem der Adressat sie tatsächlich in
Empfang nimmt. Wird der Adressat nicht angetroffen und wird daher eine
Abholungseinladung in seinen Briefkasten oder sein Postfach gelegt,
so gilt die Sendung in jenem Zeitpunkt als zugestellt, in welchem sie
auf der Post abgeholt wird; geschieht dies nicht innert der Abholfrist,
die sieben Tage beträgt (Art. 169 Abs. 1 lit. d und e Verordnung (1)
zum Postverkehrsgesetz, SR 783.01), so gilt die Sendung als am letzten
Tag dieser Frist zugestellt (BGE 104 Ia 466, 100 III 3, 97 III 10; ZAK
1974 S. 596; ARV 1980 Nr. 46 S. 113).

    Ein allfälliger zweiter Versand und die spätere Entgegennahme der
Sendung vermögen an diesem Ergebnis nichts zu ändern. Sie sind rechtlich
unbeachtlich (ZAK 1978 S. 97).

    c) Postlagernd adressierte Briefsendungen - ob eingeschrieben
oder nicht - lagern bei der Bestimmungspoststelle während eines Monats
(Art. 166 Abs. 2 lit. a Verordnung (1) zum Postverkehrsgesetz). Wenn
sie während dieser Aufbewahrungsfrist nicht ausgehändigt werden können,
werden sie ohne Verzug an den Aufgabeort zurückgesandt (Art. 169 Abs. 1
lit. g und Abs. 2 lit. b Verordnung (1) zum Postverkehrsgesetz).

    Was den Zeitpunkt der Zustellung anbetrifft, ist bei den postlagernden
Sendungen sinngemäss vorzugehen wie bei den eingeschriebenen Sendungen,
die in die Wohnung, das Geschäft oder an einen anderen Aufenthaltsort
bzw. an einen Postfachhalter adressiert sind. Die postlagernde Sendung
gilt in jenem Zeitpunkt als zugestellt, in welchem sie auf der Post
abgeholt wird; geschieht dies nicht innert der Aufbewahrungsfrist,
so gilt die Sendung als am letzten Tag dieser Frist zugestellt. Dass
die Aufbewahrungsfrist für postlagernde Sendungen, bedingt durch die
besonderen Anforderungen dieser Art von Zustellung, einen ganzen Monat
beträgt, während die Abholfrist für eingeschriebene Sendungen, die nicht
postlagernd zugestellt werden, auf sieben Tage begrenzt ist, vermag an
der grundsätzlichen Rechtslage nichts zu ändern.

    d) Nach dem Gesagten ist vorliegend der zweite Versand des
vorinstanzlichen Entscheides vom 29. August 1984 unbeachtlich. Es
ist vielmehr darauf abzustellen, dass die Vorinstanz die Sendung am
25. Juli 1984 postlagernd aufgegeben hat und dass die Sendung noch
am gleichen Tage bei der Bestimmungspoststelle eingegangen ist. Die
Aufbewahrungsfrist von einem Monat lief demzufolge am 25. August 1984
ab... Der vorinstanzliche Entscheid ist demnach als am 25. August 1984, dem
letzten Tag der Aufbewahrungsfrist, zugestellt zu betrachten. Demzufolge
ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 22. September 1984 in Wahrung
der durch Art. 106 OG bestimmten Frist von 30 Tagen eingereicht worden. Es
ist deshalb auf sie einzutreten.

Erwägung 3

    3.- a) (Kognition, vgl. BGE 104 V 6 Erw. 1)

    b) Gemäss Art. 20 Abs. 2 AHVG können die AHV-Beiträge mit fälligen
AHV-Renten verrechnet werden. Dabei ist davon auszugehen, dass Art. 20
Abs. 2 AHVG zwingenden Charakter hat und die Ausgleichskassen im Rahmen
der gesetzlichen Vorschriften nicht nur befugt, sondern auch verpflichtet
sind, geschuldete Beiträge mit fälligen Leistungen zu verrechnen (EVGE
1961 S. 29; ZAK 1971 S. 508; unveröffentlichtes Urteil Oberli vom
30. Juli 1982). In die Verrechnungsforderung können praxisgemäss auch die
Betreibungsspesen und die übrigen Verwaltungskosten miteinbezogen werden
(EVGE 1956 S. 190 f., 1953 S. 288; ZAK 1971 S. 508; unveröffentlichte
Urteile Fessler vom 12. März 1984 und Oberli vom 30. Juli 1982). Die
Verrechnung der geschuldeten Beiträge (ob diese rentenbildend sind
oder nicht) mit der Rente darf aber nur insoweit erfolgen, als der
Verrechnungsabzug an den monatlichen Renten das betreibungsrechtliche
Existenzminimum nicht beeinträchtigt (BGE 107 V 75 Erw. 2, 106 V 137).

    Wenn die Einkünfte des Versicherten das Existenzminimum nicht
übersteigen, ist eine Verrechnung ausgeschlossen. In diesem Falle
hat die Ausgleichskasse grundsätzlich die geschuldeten Beiträge und
Verwaltungskosten als uneinbringlich abzuschreiben (Art. 42 Abs. 1
AHVV). Hinsichtlich der Mindestbeiträge ist jedoch das durch Art. 11
Abs. 2 AHVG umschriebene Verfahren des Erlasses von Beiträgen (BGE 108
V 49 durchzuführen.

    Übersteigen hingegen die Einkünfte des Beitragspflichtigen
das Existenzminimum, darf in der Weise verrechnet werden, dass das
Existenzminimum nicht tangiert wird. Wenn die Verrechnung des vollen
Betrages auf einmal nicht möglich ist, sind entsprechende Teilbeträge
monatlich in Verrechnung zu bringen.

Erwägung 4

    4.- a) ...

    b) In der Vernehmlassung an die Vorinstanz hat die Ausgleichskasse
geltend gemacht, dass durch die Verrechnung des ausstehenden Betrages von
Fr. 948.-- mit Anteilen von Fr. 316.-- von den drei Monatsrenten (von je
Fr. 972.--) keine grosse Härte entstanden sei. Die Vorinstanz hält fest,
der Beschwerdeführer habe die Verletzung des Existenzminimums nicht
geltend gemacht und sei durch die Verrechnungsbeträge nicht übermässig
belastet. Diesen Feststellungen steht die Tatsache gegenüber, dass der
Beschwerdeführer im vorinstanzlichen Verfahren auf "Zahlungsunfähigkeit",
"spärlichen Verdienst", "Ergänzungsleistung" sowie "ausstehenden
Wohnungszins" hingewiesen hat und dass die Ausgleichskasse einen
Verlustschein des Beschwerdeführers von Fr. 890.-- auflegt. Es liegt
deshalb auf der Hand, dass die Vorinstanz - wie zuvor die Verwaltung -
bei der Annahme, die Voraussetzungen für die Verrechnung seien gegeben,
von einem offensichtlich unvollständigen Sachverhalt ausgegangen ist
(Art. 105 Abs. 2 OG). Der vorinstanzliche Entscheid und die Kassenverfügung
sind deshalb aufzuheben und die Sache ist zur Prüfung der Vorbringen des
Beschwerdeführers an die Verwaltung zurückzuweisen.

    Falls die Ausgleichskasse aufgrund ihrer weiteren Abklärung zum
Schluss gelangt, dass die Einkünfte des Beschwerdeführers zu keinem
Zeitpunkt das betreibungsrechtliche Existenzminimum überstiegen, wird
jede Verrechnung ausgeschlossen sein, und die Kasse wird die verrechneten
Fr. 948.-- zurückzuerstatten haben. Im übrigen hat sie vorzugehen, wie
das in Erw. 3b festgehalten ist.

    Übersteigen die Einkünfte des Beschwerdeführers das Existenzminimum,
dann darf verrechnet werden. Ergibt sich, dass die Kasse monatlich einen
geringeren Betrag als den verfügten hätte verrechnen dürfen, dass aber
bei korrekter Verrechnung des niedrigeren Betrages die Beitragsschuld
im Zeitpunkt der Neuabklärung bereits getilgt wäre, dann hat es bei
der faktisch durchgeführten Verrechnung sein Bewenden: Obwohl dem
Beschwerdeführer durch die vollzogene Verrechnung das Existenzminimum
nicht gewährleistet war, befindet er sich im Zeitpunkt der Neuüberprüfung
nicht in einer anderen Situation, als wenn korrekt verrechnet worden wäre.