Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 111 V 402



111 V 402

71. Auszug aus dem Urteil vom 10. Dezember 1985 i.S. Bundesamt für
Industrie, Gewerbe und Arbeit gegen Forster und Rekurskommission des
Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung Regeste

    Art. 71 Abs. 3 AVIG, Art. 95 Abs. 1 und 81 Abs. 3 AVIV.
Reicht der Versicherte das Gesuch um einen Pendlerkosten- oder
Wochenaufenthalterbeitrag gemäss Art. 69 bzw. Art. 70 AVIG ohne
entschuldbaren Grund erst nach dem auswärtigen Arbeitsantritt ein, werden
die Leistungen ab Zeitpunkt der Gesuchseinreichung bzw. pro rata temporis
ausgerichtet. Art. 95 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 81 Abs. 3 Satz 2 AVIV
ist gesetzmässig.

Sachverhalt

    A.- Der in Andhausen-Berg wohnhafte Versicherte stand in einem
Arbeitsverhältnis in Klingnau, welches ihm infolge Umstrukturierung des
Betriebes auf Ende Februar 1984 gekündigt wurde. Die Suche nach einer neuen
Stelle blieb vorerst erfolglos, bis er vorübergehend bei einer Firma in
Basel eine vom 1. August 1984 bis 7. Februar 1985 dauernde Anstellung
fand. Da ihm diese Firma aber keine Beschäftigung auf Dauer anbieten
konnte, trat er in der Folge eine Stelle im Ausland an. Mit Gesuch
vom 8. Februar 1985 ersuchte er das Arbeits- und Berufsbildungsamt des
Kantons Thurgau um einen Beitrag an die während seiner Anstellung in Basel
entstandenen Reise- und Unterkunftsspesen im Betrag von Fr. 4422.--. Mit
Verfügung vom 8. Mai 1985 wurde das Begehren abgelehnt mit der Begründung,
ein Gesuch um Pendlerkosten- und Wochenaufenthalterbeiträge müsse vor
Aufnahme der auswärtigen Arbeit bei der kantonalen Amtsstelle eingereicht
werden, was im vorliegenden Fall unterlassen worden sei.

    B.- Die Rekurskommission des Kantons Thurgau für die
Arbeitslosenversicherung hiess eine hiegegen erhobene Beschwerde mit
Entscheid vom 2. Juli 1985 gut und wies das Arbeits- und Berufsbildungsamt
an, die geltend gemachten Auslagen zu überprüfen und dem Beitragsgesuch
grundsätzlich zu entsprechen. Die Rekurskommission hielt es unter
Würdigung aller Umstände für entschuldbar, dass der Versicherte sein
Gesuch erst nach Beendigung seines Arbeitsverhältnisses mit der Firma in
Basel eingereicht habe.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt für
Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA) Aufhebung des vorinstanzlichen
Entscheides und Wiederherstellung der Verfügung vom 8. Mai 1985. Während
das kantonale Arbeits- und Berufsbildungsamt auf einen Antrag zur
Verwaltungsgerichtsbeschwerde verzichtet, schliesst der Versicherte auf
deren Abweisung.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Arbeitnehmern, denen in ihrer Wohnortsregion keine zumutbare Arbeit
vermittelt werden konnte und die zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit Arbeit
ausserhalb ihrer Wohnortsregion angenommen haben, kann nach Art. 68 Abs. 1
AVIG ein Pendlerkostenbeitrag (lit. a) oder ein Wochenaufenthalterbeitrag
(lit. b) zugesprochen werden. Der Pendlerkostenbeitrag deckt die
nachgewiesenen notwendigen Fahrkosten von Versicherten, die täglich
vom neuen Arbeitsort an ihren Wohnort zurückkehren (Art. 69 AVIG). Der
Beitrag an Wochenaufenthalter deckt Kosten, die dem Versicherten dadurch
entstehen, dass er nicht täglich an seinen Wohnort zurückkehren kann. Er
setzt sich zusammen aus einer Pauschalentschädigung für die auswärtige
Unterkunft und den Mehrkosten der Verpflegung sowie aus dem Ersatz der
nachgewiesenen notwendigen Kosten für eine Fahrt pro Woche vom Wohnort
an den Arbeitsort und zurück (Art. 70 AVIG).

    Gemäss Art. 71 Abs. 3 AVIG muss der Versicherte sein Gesuch um
Leistungen nach Art. 68 AVIG der kantonalen Amtsstelle einreichen, bevor
er auswärts Arbeit annimmt oder umzieht. Die vom Versicherten gewählte
Kasse darf die Leistungen nur mit Zustimmung der kantonalen Amtsstelle
ausrichten. Hinsichtlich der Modalitäten für die Einreichung des Gesuches
verweist Art. 95 Abs. 1 AVIV auf Art. 81 Abs. 3 AVIV, welcher sinngemäss
gilt. Danach muss das Gesuch spätestens zehn Tage vor Arbeitsbeginn
eingereicht werden. Reicht der Versicherte das Gesuch ohne entschuldbaren
Grund nach Arbeitsantritt ein, so werden die Leistungen erst von diesem
Zeitpunkt an ausgerichtet bzw. pro rata temporis gekürzt (Rz. 12 des
Kreisschreibens des BIGA über die individuellen Präventivmassnahmen,
Ausgabe Juli 1985).

Erwägung 2

    2.- Die Vorschrift gemäss Art. 95 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 81
Abs. 3 AVIV, wonach der Versicherte das Gesuch um einen Pendlerkosten-
oder Wochenaufenthalterbeitrag vor dem auswärtigen Arbeitsantritt
einreichen muss, stellt keine blosse Ordnungsvorschrift, sondern eine
formelle Anspruchsvoraussetzung dar. Dies hat zur Folge, dass bei
verspäteter Einreichung des Gesuches - sofern dafür kein entschuldbarer
Grund vorliegt - die Leistungen erst von diesem Zeitpunkt an bzw. pro
rata temporis ausgerichtet werden können. Der Zweck der Voranmeldung
besteht darin, der kantonalen Amtsstelle die Prüfung zu ermöglichen,
ob die im Gesetz umschriebenen strengen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt
sind. Namentlich soll bei der Erteilung der Zustimmung zur Ausrichtung der
Pendlerkosten- bzw. Wochenaufenthalterbeiträge (Art. 71 Abs. 3 Satz 2 AVIG)
den regionalpolitischen Umständen und Gegebenheiten Rechnung getragen
werden. Denn die - neben der beruflichen Mobilität - durch das AVIG
geförderte geographische Mobilität, mit welcher vorhandene Arbeitsreserven
besser ausgeschöpft werden sollen, darf nicht zur Entleerung von
Randregionen und zur Verstärkung der Ballungstendenzen führen und damit
erklärten regionalpolitischen Zielen zuwiderlaufen (BBl 1980 III 538
und 617). Wie das BIGA sodann in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
mit Recht darauf hinweist, würde eine andere Auslegung der erwähnten
Verordnungsvorschrift die in Art. 68 Abs. 1 AVIG verankerte Subsidiarität
der Pendlerkosten- und Wochenaufenthalterbeiträge gegenüber der vorrangigen
Vermittlung einer zumutbaren Arbeit in der Wohnortsregion illusorisch
machen, weil eine rückwirkende Vermittlung nicht möglich ist. Wenn der
Bundesrat gestützt auf Art. 71 Abs. 3 und 4 AVIG in Art. 95 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 81 Abs. 3 AVIV anordnete, dass die Beiträge bei
verspäteter Anmeldung - sofern dafür kein entschuldbarer Grund vorliegt -
erst vom Zeitpunkt der Einreichung des Gesuches an ausgerichtet werden,
so erweist sich diese Ordnung nach dem Sinn und Zweck der Voranmeldung
als notwendig, sachlich gerechtfertigt und mithin gesetzmässig (vgl. in
diesem Zusammenhang BGE 110 V 337 Erw. 3c in fine und 341, 109 V 141
Erw. 2b und 218 Erw. 5a).

Erwägung 3

    3.- Entgegen der Auffassung der Vorinstanz liegen für die verspätete
Einreichung des Gesuches keine entschuldbaren Gründe vor, wie das BIGA
zutreffend ausführt. Dass der Beschwerdegegner die Regelung nicht kannte,
wonach das Gesuch vor dem Arbeitsantritt gestellt werden muss, vermag
die verspätete Gesuchseinreichung rechtlich nicht zu entschuldigen. Denn
nach einem allgemeinen Grundsatz kann niemand Vorteile aus seiner eigenen
Rechtsunkenntnis ableiten (BGE 110 V 338 mit Hinweisen). Sodann stellen
weder das Alter des Beschwerdegegners noch der Umstand, dass dessen
Arbeitsbemühungen als vorbildlich bezeichnet werden können, entschuldbare
Gründe für die erst nachträgliche Einholung der Zustimmung der kantonalen
Amtsstelle im Sinne von Art. 71 Abs. 3 AVIG dar...

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid
der Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung
vom 2. Juli 1985 aufgehoben.