Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 111 V 357



111 V 357

65. Urteil vom 5. Juli 1985 i.S. Kantonalverband Thurgauischer
Krankenkassen gegen Bachmann und Schiedsgericht des Kantons Thurgau gemäss
Art. 25 KUVG Regeste

    Art. 16 Abs. 1 KUVG.

    - Von Gesetzes wegen hat das Karenzjahr gemäss Art. 16 Abs. 1 KUVG
jeder Nichtvertragsarzt zu bestehen (Erw. 3).

    - Nach dem Gesetz besteht grundsätzlich kein Anspruch auf Befreiung
vom Karenzjahr. Sehen die Vertragsparteien die Möglichkeit eines Erlasses
vor, so sind ihrer Gestaltungsfreiheit durch das Willkürverbot Schranken
gesetzt (Erw. 5).

    - Es ist einem Kassenverband unbenommen, eine grosszügige Erlasspraxis
aufzugeben und künftig strengere Massstäbe anzulegen; einer Vorankündigung
bedarf es hiefür nicht. Kein Vertrauensschutz für einen Nichtvertragsarzt,
der in der Annahme, es werde weiterhin eine grosszügige Erlasspraxis
gehandhabt, finanzielle Dispositionen getroffen hatte, die er in Kenntnis
einer Praxisänderung möglicherweise unterlassen hätte (Erw. 6).

Sachverhalt

    A.- Frau Dr. med. Elsbeth Bachmann ist Spezialärztin für Innere
Medizin FMH und Mitglied der Ärztegesellschaft des Kantons Thurgau. Sie
beabsichtigte, auf den 1. November 1984 in Frauenfeld eine Praxis zu
eröffnen. Im Juni 1984 ersuchte sie den Kantonalverband Thurgauischer
Krankenkassen (Kassenverband) um Erlass des Karenzjahres gemäss Art. 16
Abs. 1 KUVG. Mit Schreiben vom 9. Juli 1984 teilte ihr der Kassenverband
mit, er habe vor knapp einem Jahr beschlossen, dass das Karenzjahr nur
noch erlassen werde, wenn für die neue Praxis ein eindeutiger Bedarf
nachgewiesen werden könne. Da sich zurzeit auf dem Platze nicht weniger
als 24 freipraktizierende Ärzte - davon 6 Internisten - betätigten,
könne dem Erlassbegehren nicht entsprochen werden.

    B.- Hiegegen rief Frau Dr. Bachmann die Paritätische
Vertrauenskommission (PVK) des Thurgauischen Kantonalen Ärztevereins und
des Kantonalverbandes Thurgauischer Krankenkassen an. Mit Entscheid vom
28. August 1984 erachtete die PVK die Einhaltung einer Wartezeit als
Rechtens, reduzierte sie aber auf ein halbes Jahr mit der Begründung,
dass Frau Dr. Bachmann seinerzeit während sechs Monaten am Kantonsspital
Frauenfeld gearbeitet habe.

    Am 4. September 1984 erhob Frau Dr. Bachmann Klage beim Schiedsgericht
(Art. 25 KUVG) des Kantons Thurgau und machte im wesentlichen geltend, als
Mitglied der Ärztegesellschaft des Kantons Thurgau stehe sie automatisch
im Genusse der Rechte und Pflichten des Kollektiv-Vertrages zwischen
der Ärztegesellschaft des Kantons Thurgau und dem Kantonalverband
Thurgauischer Krankenkassen vom 16. Oktober 1980 (Ärztevertrag),
womit es ihrerseits keines Vertragsbeitritts mehr bedürfe. Sodann sei
das Karenzjahr gemäss Art. 16 Abs. 1 Satz 2 KUVG unter Berücksichtigung
der Handels- und Gewerbefreiheit als polizeilich begründete Vorkehr zum
Schutze der Öffentlichkeit vor Ärzten ohne ausreichende Berufspraxis zu
verstehen. Da die fachliche Kompetenz und Erfahrung im vorliegenden Fall
ausser Frage stünden, dürfe für die Zulassung zur Kassenpraxis keine
Wartezeit auferlegt werden. Auch bestehe auf dem Platze Frauenfeld ein
Bedürfnis nach einer weiteren Ärztin.

    In Gutheissung der Klage erkannte das Schiedsgericht mit Entscheid
vom 23. November 1984, dass Frau Dr. Bachmann die Wartezeit gemäss
Art. 16 Abs. 1 Satz 2 KUVG nicht zu bestehen habe. Nach den Bestimmungen
des Ärztevertrages schliesse die Zugehörigkeit zur Ärztegesellschaft
nicht von selbst die Unterstellung unter diesen Vertrag mit ein. Was das
Karenzjahr gemäss Art. 16 Abs. 1 Satz 2 KUVG angehe, so hätten bei den
Gesetzesberatungen zwei Motive eine Rolle gespielt. Den Krankenkassen
sei es darum gegangen, auf die Tarifanwendung Einfluss nehmen zu können,
was aber nur in Verträgen mit Ärzten möglich sei. Um die Ärzte zu solchen
Vereinbarungen bewegen zu können, habe man die Vertragsärzte gesetzlich
dadurch bessergestellt, dass für neuzuziehende Berufskollegen eine
Wartezeit eingeführt worden sei. Ferner habe der Gesetzgeber mit der
Wartezeit auch bezweckt, dass nur ausreichend ausgebildete und erfahrene
Ärzte zur Kassenpraxis zugelassen würden. Für das heutige Verständnis der
Karenzjahrregelung sei aber zu bedenken, dass zur Zeit des Inkrafttretens
des KUVG die Wartezeit den Arzt nicht stark getroffen habe, weil die
Krankenversicherung damals noch nicht sehr verbreitet gewesen sei. Heute
sei dagegen praktisch die ganze Bevölkerung krankenversichert, so dass
der eine Praxis eröffnende Arzt während des Karenzjahres sozusagen
keine Patienten und damit keine wirtschaftliche Existenzgrundlage haben
werde. Eine so einschneidende Einschränkung der freien ärztlichen
Berufsausübung habe der historische Gesetzgeber nicht gewollt. Der
Kassenverband habe sodann den Erlass des Karenzjahres von der Bedarfsfrage
abhängig gemacht. Damit gehe es ihm mit der Auferlegung der Wartezeit
nicht mehr um den Schutz der Vertragsärzte, sondern um die Bekämpfung
der Kostenexplosion im Gesundheitswesen, womit aber das Karenzjahr in
unzulässiger Weise eingesetzt würde. Denn das vom Kassenverband angewendete
Kriterium käme der Einführung einer Bedürfnisklausel gleich, die jedoch
mit dem Gedanken der Handels- und Gewerbefreiheit nicht vereinbar sei. In
zeitgemässer und verfassungskonformer Auslegung der Wartezeitregelung
gemäss Art. 16 Abs. 1 Satz 2 KUVG könne ein Erlass nur verweigert werden,
wenn es dem Gesuchsteller noch an der nötigen beruflichen Erfahrung
fehle. Indem der Kassenverband und die PVK für die Befreiung vom Karenzjahr
darauf abgestellt hätten, ob im Raume Frauenfeld ein Bedürfnis nach neuen
Ärzten bestehe oder nicht, hätten sie fehlerhaftes Ermessen walten lassen.

    C.- Der Kassenverband führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit den
Anträgen, der Entscheid des Schiedsgerichts des Kantons Thurgau vom
23. November sei aufzuheben und es sei Frau Dr. Bachmann ein Karenzjahr
aufzuerlegen bzw. sei sie erst ein Jahr nach Praxiseröffnung als
Kassenärztin zuzulassen.

    Frau Dr. Bachmann lässt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
beantragen. Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) schliesst auf
Gutheissung, gegebenenfalls unter Rückweisung der Sache an die Vorinstanz
zu ergänzenden Abklärungen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Kognition; vgl. BGE 103 V 149 Erw. 1)

Erwägung 2

    2.- Wenn eine Kasse ärztliche Behandlung gewährt, so soll jedem
erkrankten Mitglied die Wahl unter den an seinem Aufenthaltsort oder
in dessen Umgebung praktizierenden Ärzten freistehen (Art. 15 Abs. 1
KUVG). Die Kassen sind befugt, aufgrund der Tarife mit Ärzten oder
Vereinigungen von Ärzten Verträge abzuschliessen und ausschliesslich
diesen Ärzten die Behandlung der Mitglieder anzuvertrauen. Die Ärzte,
die seit mindestens einem Jahr regelmässig im Tätigkeitsgebiet der
Kasse praktizieren, können einem solchen Vertrage beitreten (Art. 16
Abs. 1 KUVG).

Erwägung 3

    3.- Streitig ist, ob der Kassenverband berechtigt war, die Zulassung
der Beschwerdegegnerin zur Kassenpraxis von der Einhaltung des Karenzjahres
gemäss Art. 16 Abs. 1 KUVG abhängig zu machen, oder ob er den Erlass dieser
Wartezeit bewilligen muss. Die Vorinstanz und die Beschwerdegegnerin
vertreten die Auffassung, die Kassen hätten nicht uneingeschränkt das
Recht, auf der Einhaltung des Karenzjahres zu bestehen. Da ein Karenzjahr
den Arzt heute faktisch der wirtschaftlichen Existenzgrundlage beraube
und sich der historische Gesetzgeber einer so einschneidenden Konsequenz
dieser Wartezeit nicht bewusst gewesen sei, bedürfe Art. 16 Abs. 1 KUVG in
diesem Punkte richterlicher Korrektur. Bei der Handhabung des Karenzjahres
sei heute darauf abzustellen, ob der sich um die Kassenpraxis bewerbende
Arzt genügend ausgebildet sei. Als wirtschaftspolizeiliche Massnahme stehe
das Karenzjahr so im Einklang mit der Handels- und Gewerbefreiheit. Die
Beschwerdegegnerin macht überdies geltend, dass Art. 16 Abs. 1 KUVG blosse
Kompetenznorm sei und die Ausgestaltung des Karenzjahres ungeregelt lasse.
Letzteres sei Sache der Vertragsparteien; die Bestimmung wolle lediglich
verhindern, dass im Tätigkeitsgebiet der Kassen praktizierende Ärzte
länger als ein Jahr von der Kassenpraxis ausgeschlossen würden.

    Dieser Betrachtungsweise kann aus den nachfolgenden Gründen nicht
beigepflichtet werden.

    a) Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen. Ist
der Text nicht ganz klar bzw. sind verschiedene Auslegungen möglich, so
muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung
aller Auslegungselemente, namentlich der Auslegung nach dem Zweck,
nach dem Sinn und nach den dem Text zugrundeliegenden Wertungen. Wichtig
ist ebenfalls der Sinn, der einer Norm im Kontext zukommt. Bei mehreren
Auslegungsmöglichkeiten ist die verfassungskonforme zu wählen. Auch wenn
das Eidg. Versicherungsgericht die Verfassungsmässigkeit von Bundesgesetzen
nicht überprüfen darf (Art. 113 Abs. 3 und 114bis Abs. 3 BV), so gilt
dennoch die Vermutung, dass der Gesetzgeber keine im Widerspruch zur
Bundesverfassung stehenden Gesetzesbestimmungen erlässt, es sei denn,
das Gegenteil gehe klar aus dem Wortlaut oder aus dem Sinn des Gesetzes
hervor (BGE 110 V 122, 109 V 33, 108 V 240 Erw. 4b, 107 V 215 Erw. 2b).

    aa) Der Wortlaut des Art. 16 Abs. 1 KUVG ist eindeutig. Die
Krankenkassen sind befugt, mit Ärzten Verträge einzugehen und
ausschliesslich diesen Ärzten die Behandlung ihrer Mitglieder
anzuvertrauen. Die mit den Kassen vertraglich nicht verbundenen Ärzte haben
jedoch das Recht, einem solchen Vertrag beizutreten. Der Anspruch besteht
aber nur unter der Voraussetzung, dass die Bewerber seit mindestens einem
Jahr regelmässig im Tätigkeitsgebiet der Kasse praktiziert haben. Aus dem
gesetzlichen Wortlaut ergibt sich auch nicht andeutungsweise, dass das
Karenzjahr nur in bestimmten - vertraglich begrenzten und geregelten -
Fällen und nicht generell zu bestehen wäre.

    bb) Auch die Systematik und die Rechtsprinzipien, auf welchen Art. 16
Abs. 1 KUVG gründet, sprechen dafür, dass die Kassen von Gesetzes wegen
uneingeschränkt auf der Einhaltung des Karenzjahres bestehen dürfen.

    In der Frage des Arztrechts standen sich bei der Schaffung des
Gesetzes zwei Forderungen gegenüber. Die Krankenkassen verlangten
im Interesse gesunder Finanzen, wie bis anhin mittels Verträgen frei
darüber bestimmen zu können, welche Ärzte zur Kassenpraxis zugelassen
werden sollten (Kassenarztsystem), und wünschten überdies, Einfluss auf
die Anwendung der Tarife nehmen zu können (Sten.Bull. 1910 N 421). Die
Ärzte forderten dagegen die grundsätzlich freie Arztwahl, womit sie
hauptsächlich verhindern wollten, dass die Kassen die Behandlung
einigen wenigen Ärzten übertragen und damit ein Behandlungsmonopol
einzelner Ärzte begründen könnten (SCHÄREN, Die Stellung des Arztes
in der sozialen Krankenversicherung, Diss. Zürich 1973, S. 196). Der
Gesetzgeber bekannte sich schliesslich grundsätzlich zum Prinzip der
freien Arztwahl (Art. 15 Abs. 1 KUVG), räumte jedoch den Krankenkassen
mit Art. 16 Abs. 1 KUVG das Recht ein, mittels Verträgen mit Ärzten
das Kassenarztsystem einzuführen. Das beinhaltet auch die freie
Wahl der Gegenpartei. Einschränkungen dieses Wahlrechts sind nur
aufgrund ausdrücklicher und klarer gesetzlicher Bestimmung möglich und
zulässig. Der Gesetzgeber hat in Art. 16 Abs. 1 KUVG diese Freiheit der
Kassen durch das Beitrittsrecht der Nichtvertragsärzte eingeschränkt
(nach SCHÄREN, aaO, S. 199, und GUYER, Die Honorarforderung der Ärzte
gegenüber den Krankenkassen, Diss. Bern 1948, S. 102 im Sinne eines
öffentlich-rechtlichen Kontrahierungszwangs). Nach dem unmissverständlichen
Wortlaut dieser Bestimmung besteht aber ein Rechtsanspruch auf Beitritt
zum Vertrag nur für Ärzte mit mindestens einjähriger regelmässiger Praxis
im Tätigkeitsgebiet der Kasse. Eine weitergehende Einschränkung müssen
sich die Kassen mangels gesetzlicher Grundlage nicht gefallen lassen.

    Auch der mit dem Beitrittsrecht verfolgte Zweck, nämlich die
Monopolstellung der Vertragsärzte in der sozialen Krankenversicherung zu
verhindern, bedingt keine Einschränkung der Kassenrechte beim Karenzjahr.

    cc) Der Antrag auf Einführung einer Karenzzeit wurde bei den
gesetzgeberischen Arbeiten von Kassenseite mit der Begründung eingebracht,
"dass ein in einer Gegend sich niederlassender Arzt von der Kasse nicht
sofort zugelassen werden müsse. Der betreffende Arzt solle eine gewisse
Beobachtungszeit durchmachen" (Antrag Scherrer in der nationalrätlichen
Kommissionssitzung vom 11. Oktober 1910). Auch in den parlamentarischen
Beratungen wurde dieser Zweck genannt. Es solle den Krankenkassen die
Möglichkeit gegeben werden, "dass sie sich die Ärzte zuerst in jeder
Beziehung besehen können, bevor sie genötigt werden, mit denselben
Verträge einzugehen" (Sten.Bull. 1910 N 419; siehe ferner Sten.Bull. 1911 S
40). In den Materialien findet sich nirgends ein Hinweis darauf, dass die
Kassen in gewissen Fällen von diesem Prüfungsrecht nicht Gebrauch machen
dürften und mithin nur eine bestimmte Kategorie von Nichtvertragsärzten
die Karenzzeit zu bestehen hätte. Vielmehr sollten Nichtvertragsärzte
generell erst dann einen Anspruch auf Beitritt zu einem Vertrag erheben
können, wenn sie die Wartezeit erfüllt haben.

    dd) Aus dem Gesagten erhellt, dass die Vorinstanz zu Unrecht
angenommen hat, das Karenzjahr ziele von den historischen Motiven her auf
einen befristeten Schutz der Vertragsärzte vor Neuzuzügern ab. Mag das
unter Umständen eine Folge der Wartezeit sein und von seiten der Ärzte
allenfalls auch so gedeutet werden, entstehungsgeschichtlicher Zweck war
dies (trotz Sten.Bull. 1910 N 414) nicht. Die Wartezeit ist zum Schutze
der Kassen eingeführt worden. Die Beschwerdegegnerin kann in Anbetracht
des klaren Wortlauts von Art. 16 Abs. 1 KUVG nicht daraus ableiten,
dass den der Wartezeit ursprünglich zugrundeliegenden Motiven heute nur
geringe Bedeutung und Aktualität beizumessen sein dürfte (BGE 108 Ia 37).

    b) Die Auslegung von Art. 16 Abs. 1 KUVG ergibt somit, dass die
Krankenkassen von Gesetzes wegen in jedem Fall auf der Einhaltung
der einjährigen Wartezeit bestehen können. Auch in der Literatur ist
keine gegenteilige Auffassung geäussert worden (MAURER, Schweizerisches
Sozialversicherungsrecht, Band II, S. 356; GREBER, Droit suisse de la
sécurité sociale, 1982, S. 396; BONER/HOLZHERR, Die Krankenversicherung,
1969, S. 79; HÜNERWADEL, Die Krankenversicherung, 1938, S. 86; EGLI, Die
rechtliche Stellung des Arztes in der Krankenversicherung, 1938, S. 65
ff.; SCHWEIZER, Die kantonalen Schiedsgerichte für Streitigkeiten zwischen
Ärzten oder Apothekern und Krankenkassen, Diss. Zürich 1957, S. 40; PELET,
Les relations juridiques entre médecins et caisses d'assurance-maladie,
Diss. Lausanne 1925, S. 53; GUYER, aaO, S. 102 ff.; SCHÄREN, aaO,
S. 203/214 ff.; BERTSCHINGER, Das direkte Forderungsrecht des Arztes
gegen die anerkannten Krankenkassen, Diss. Zürich 1965, S. 28 ff.).

    Da die Auslegung ein klares Ergebnis zeitigt und mithin kollidierende
Auslegungsgesichtspunkte fehlen, bleibt für die von der Vorinstanz
bezüglich der Handels- und Gewerbefreiheit vorgenommene verfassungskonforme
Auslegung kein Raum (BGE 108 V 240 Erw. 4b, 107 V 215 Erw. 2b). Der klare
Sinn einer Gesetzesnorm darf nicht durch eine verfassungskonforme Auslegung
beiseite geschoben werden (BGE 109 Ia 302).

    c) Was die von der Vorinstanz in Anspruch genommene
objektiv-zeitgemässe Interpretation von Art. 16 Abs. 1 KUVG angeht, so
darf einer Gesetzesnorm in Anwendung dieser Methode grundsätzlich ein
Sinn gegeben werden, der für den historischen Gesetzgeber infolge eines
Wandels der tatsächlichen Verhältnisse nicht voraussehbar war und in der
bisherigen Praxis auch nicht zum Ausdruck gekommen ist. Doch kann auf
einen solchen Sinn nur abgestellt werden, wenn er mit dem Wortlaut des
Gesetzes noch vereinbar ist (BGE 107 Ia 237 Erw. 4a), was im vorliegenden
Fall aber gerade nicht zutrifft. Abzulehnen ist ferner die von der
Beschwerdegegnerin geforderte richterliche Normenkorrektur, weil das
Karenzjahr heute die vom historischen Gesetzgeber nicht vorausgesehene
und angestrebte Folge habe, dass der Arzt bis zum Ablauf der Wartezeit
wirtschaftlich praktisch nicht existieren könne. Eine richterliche
Normberichtigung könnte erst erwogen werden, wenn die Anwendung des
Karenzjahres aufgrund veränderter Verhältnisse in Wertungen schlechthin
nicht mehr zu billigen und missbräuchlich wäre (MEIER-HAYOZ, N. 296 und 302
zu Art. 1 ZGB). Davon kann - insbesondere im Lichte der Erwägung 3a/bb -
hier nicht die Rede sein, zumal schon bei den Gesetzgebungsarbeiten darauf
hingewiesen wurde, dass der Ausschluss von der Kassenpraxis in ländlichen
Regionen mitunter auch die wirtschaftliche Existenz des Arztes tangieren
könnte (Sten.Bull. 1910 N 425, 1909 S 272 und 274, 1910 S 91).

    d) Im übrigen ist das vorinstanzliche Auslegungsergebnis,
wonach der Zweck des Karenzjahres heute im Schutze des Publikums vor
ungenügend ausgebildeten und erprobten Ärzten bestehen soll und die
Anwendung der Wartezeit deshalb auf solche Sachverhalte einzuschränken
sei, auch sachlich nicht haltbar. Zum Schutze der Öffentlichkeit vor
unzureichend ausgebildeten Ärzten wurde gestützt auf Art. 33 Abs. 2 BV ein
eidgenössischer Fähigkeitsausweis (Arztdiplom) geschaffen und damit die
Ausbildungsfrage in polizeilicher Hinsicht grundsätzlich abschliessend
geregelt. Entsprechend erachtet das KUVG das eidgenössische Diplom für
die Belange der sozialen Krankenversicherung als ausreichend (Art. 21
Abs. 1 KUVG). Die Auffassung der Vorinstanz ist auch deswegen wenig
verständlich, weil beim System der freien Arztwahl (Art. 15 Abs. 1 KUVG)
von Gesetzes wegen kein über das eidgenössische Diplom hinausgehender
Ausweis beruflicher Befähigung gefordert wird. Das gleiche gilt sinngemäss
hinsichtlich des Schutzes vor ungenügender Berufserprobung.

    Entgegen der Auffassung der Vorinstanz finden sich auch in den
Materialien keine Anhaltspunkte dafür, dass Sinn und Zweck des Karenzjahres
darin liege, unerfahrene Ärzte vorübergehend von der Kassenpraxis
fernzuhalten (ähnlich SCHÄREN, aaO, S. 215 N. 83, und GUYER, aaO,
S. 102). Die von der Vorinstanz erwähnten wichtigen Gründe betrafen nicht
die fachliche Qualifikation des Arztes. Die Räte gingen bei der Schaffung
des Gesetzes davon aus, dass sich die Kassen den Beitritt neuzuziehender
Ärzte nach Ablauf der Wartezeit nicht vorbehaltlos gefallen lassen
müssten, sondern das Recht haben sollten, die Aufnahme zu verweigern,
wenn wichtige Gründe dafür sprächen (Sten.Bull. 1910 N 414, 419 und 421,
1911 S 39/40). Gemeint waren im wesentlichen in der Person des Arztes
liegende Gründe wie beispielsweise ein anfechtbarer Lebenswandel oder eine
nicht zu rechtfertigende Ausbeutung der Patienten (Sten.Bull. 1910 N 425,
1911 S 40). Es handelt sich also um Gründe, wie sie schliesslich durch
den heutigen Art. 24 KUVG miterfasst wurden (Sten.Bull. 1911 S 40).

Erwägung 4

    4.- Der Kantonalverband Thurgauischer Krankenkassen hat am
16. Oktober 1980 mit der Ärztegesellschaft des Kantons Thurgau einen
Vertrag geschlossen und damit vom Recht gemäss Art. 16 Abs. 1 KUVG
Gebrauch gemacht. Diesem Vertrag kann die Beschwerdegegnerin nach dem
Gesagten grundsätzlich erst nach mindestens einjähriger regelmässiger
Praxis im Kanton Thurgau beitreten. Entgegen ihrer Auffassung ist Art. 16
Abs. 1 KUVG nach dem Gesagten nicht dahin zu verstehen, dass er bloss
zur Einführung einer Wartezeit berechtige und dass diese nicht länger als
ein Jahr sein dürfe. Die Pflicht zur Einhaltung des Karenzjahres besteht
von Gesetzes wegen, wenn ein Vertrag geschlossen worden ist, und bedarf
daher keiner besonderen vertraglichen Verankerung. Im übrigen hat die
Vorinstanz zutreffend erkannt und begründet, dass nach den Bestimmungen des
Ärztevertrages die Zugehörigkeit zur Ärztegesellschaft nicht von selbst
die Unterstellung unter diesen Vertrag miteinschliesse. Die Einwendungen
in der Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde vermögen daran
nichts zu ändern.

Erwägung 5

    5.- a) Nach dem KUVG hat der Arzt keinen Anspruch auf Befreiung
vom Karenzjahr. Doch kann es ihm laut dem Ärztevertrag erlassen werden,
wofür im vorliegenden Fall gemäss Art. 2 Abs. 2 beide Vertragspartner
einverstanden sein müssen (für die vertraglich nicht geregelte
Erlassfrage siehe SCHÄREN, aaO, S. 202 mit Hinweisen). Eine Pflicht
eines Vertragspartners, unter bestimmten Bedingungen einem Erlass
stattzugeben, ist vertraglich nicht statuiert und ebensowenig die von
der Beschwerdegegnerin behauptete Pflicht, der Kassenverband habe beim
Entscheid über die Verweigerung eines Erlasses mit der Ärztegesellschaft
zusammenzuarbeiten. Der Kassenverband kann somit grundsätzlich nicht
zum Erlass des Karenzjahres verhalten werden, und es steht ihm frei, zu
bestimmen, nach welchen Kriterien und unter welchen Voraussetzungen er
eine Befreiung vom Karenzjahr gewähren will. Die einzige Schranke liegt
im Willkürverbot.

    b) Der Kassenverband hat im vorliegenden Fall einen Erlass verweigert,
weil er für den Platz Frauenfeld keinen eindeutigen Bedarf nach weiteren
frei praktizierenden Ärzten der allgemeinen oder inneren Medizin
sah. Er macht damit den Erlass sinngemäss davon abhängig, dass die in
Frage stehende Region ärztlich unzureichend versorgt ist. Es ist nicht
ersichtlich, was an diesem Kriterium willkürlich sein könnte. Vielmehr
ist in den parlamentarischen Beratungen darauf hingewiesen worden, dass
die Kassen im Falle einer Unterversorgung gar genötigt sein können,
auf das Karenzjahr zu verzichten (Sten.Bull. 1910 N 414 und 421; EGLI,
aaO, S 67 f.). Es kann offensichtlich nicht von einer medizinischen
Unterversorgung auf dem Platze Frauenfeld gesprochen werden. Die
gegenteilige Feststellung der Vorinstanz ist unhaltbar und bindet daher
das Eidg. Versicherungsgericht nicht (Art. 105 Abs. 2 OG).

    c) Es ist auch zulässig, dass die Kassen den Erlass des Karenzjahres
unter dem Blickwinkel der Kosteneindämmung beurteilen, da zumindest das
Risiko besteht, dass mit zunehmender Ärztedichte der Umsatz medizinischer
Dienstleistungen steigt (SCHMID, Der Einfluss zunehmender Ärztedichte auf
die Kosten der Krankenversicherung, in: Schweizerische Krankenkassenzeitung
1984, S. 53). Das Karenzjahr hatte von jeher dem finanziellen Schutz der
Krankenkassen zu dienen, und darin liegt auch heute noch eines seiner
wesentlichen Ziele.

    d) Der Kassenverband erlässt das Karenzjahr praxisgemäss ferner, wenn
der Arzt während mindestens eines Jahres als Ober- oder Assistenzarzt
an einem Spital im Kanton Thurgau tätig war. Dieses Kriterium ist
vertretbar. Es vermag Härten, wie sie mit der gesetzlichen Regelung
des Karenzjahres verbunden sein können, wesentlich zu mildern. Auch
ist nicht zu beanstanden, dass der Verband der Beschwerdegegnerin die
halbjährige Ausbildungszeit am Kantonsspital Frauenfeld nicht anrechnete,
da diese Tätigkeit noch vor dem Abschluss des Medizinstudiums lag. Dabei
kann offen bleiben, ob die einjährige Praxistätigkeit nach dem Gesetz
nicht unmittelbar vor dem Vertragsbeitritt liegen muss, wie das frühere
Verwaltungspraxis war (VEB 22/1952 Nr. 115; vgl. SCHÄREN, aaO, S. 202;
BONER/HOLZHERR, aaO, S. 79; EGLI, aaO, S. 67; Juristische Kartothek des
Konkordats der Schweizerischen Krankenkassen, VIII/b1). An das Zugeständnis
des Kassenverbandes im Verfahren der Paritätischen Vertrauenskommission,
die halbjährige Ausbildungszeit am Kantonsspital Frauenfeld als Praxiszeit
anzurechnen, war der Verband zufolge Erhebung des Klageverfahrens durch
die Beschwerdegegnerin nicht mehr gebunden (BGE 110 V 350).

Erwägung 6

    6.- a) Die Beschwerdegegnerin macht sodann geltend, das Karenzjahr
sei im Kanton Thurgau in den letzten Jahren nicht mehr auferlegt worden;
der Kassenverband wende dieses Institut bei ihr neu an. Sie sei von dieser
unzulässigen Praxisänderung völlig überrascht worden und habe erhebliche
finanzielle Investitionen getätigt. Sie müsse in ihrem Vertrauen in den
Weiterbestand der alten Praxis des Verbandes geschützt werden.

    Der Kassenverband hatte laut seinem Schreiben vom 9. Juli 1984
ein knappes Jahr zuvor seine Erlasspraxis verschärft. Dazu war er
berechtigt, weil ihm nicht verwehrt werden kann, auf seine Rechte aus
Art. 16 Abs. 1 KUVG zurückzukommen und von diesen inskünftig vermehrt
Gebrauch zu machen. Die Wahrnehmung gesetzlich zustehender und bisher
nicht voll ausgeschöpfter Rechte unterscheidet sich wesentlich von einer
Praxisänderung, mit welcher einer Norm infolge besserer Erkenntnis oder
veränderter Verhältnisse eine neue Auslegung gegeben wird und die nur
aufgrund ernsthafter, sachlicher Gründe zulässig ist (BGE 108 Ia 125
Erw. 2b mit Hinweisen). Der Kassenverband war diesen Einschränkungen nicht
unterworfen und auch nicht gehalten, die Änderung voranzukündigen. Die
Beschwerdegegnerin behauptet sodann nicht, dass ihr vor oder nach der
Einführung der neuen Praxis vom Kassenverband der Erlass des Karenzjahres
zugesichert worden wäre. Über die gesetzliche Auflage des Karenzjahres
konnte die Beschwerdegegnerin nicht im Zweifel sein. Sie ging deshalb
ein Risiko ein, als sie vor einer abschliessenden Klärung der Erlassfrage
Dispositionen traf, die sie möglicherweise unterlassen hätte, wenn sie von
der Absolvierung der Wartezeit ausgegangen wäre. Daraus erwachsene Verluste
hat sie selber zu vertreten. Die blosse Erwartung, der Kassenverband
werde wie bis anhin eine grosszügige Erlasspraxis handhaben und sie ohne
weiteres zur Kassenpraxis zulassen, stellt ein Vertrauen dar, das keinen
Rechtsschutz geniesst (vgl. BGE 103 Ia 460).

    b) Das Recht des Kassenverbandes, in der Erlassfrage strenger
zu sein, bringt es notwendigerweise mit sich, dass die Neuzuzüger
im Vergleich zu den dem Ärztevertrag bereits beigetretenen Ärzten
schlechtergestellt werden. Darin liegt jedoch keine rechtswidrige
Ungleichbehandlung. Soweit die Beschwerdegegnerin eine Ungleichbehandlung
gegenüber diesen Berufskollegen geltend macht, erweist sich ihre Rüge
als unbegründet. Dass nach der Einführung der neuen Praxis wirklich
gleichartige Fälle vom Kassenverband in klarer Weise ungleich behandelt
worden wären, ist weder belegt noch auch nur glaubhaft dargetan. Mangels
hinreichender Verdachtsmomente ist deshalb von ergänzenden Abklärungen -
wie sie das BSV beantragt - abzusehen.

Erwägung 7

    7.- Aus dem Gesagten folgt, dass der Kassenverband mit der Verweigerung
des Erlasses des Karenzjahres gemäss Art. 16 Abs. 1 KUVG rechtmässig
gehandelt hat, womit der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben ist.
Der Entscheid der Paritätischen Vertrauenskommission vom 28. August
1984 bedarf keiner formellen Aufhebung, da er mit der Anrufung des
Schiedsgerichts hinfällig geworden ist (BGE 110 V 350).

Erwägung 8

    8.- (Kostenpunkt.)

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid
des Schiedsgerichts des Kantons Thurgau vom 23. November 1984 aufgehoben
und es wird festgestellt, dass der der Beschwerdegegnerin verweigerte
Erlass des Karenzjahres gemäss Art. 16 Abs. 1 Satz 2 KUVG rechtmässig war.