Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 111 V 251



111 V 251

48. Auszug aus dem Urteil vom 15. Oktober 1985 i.S. Andres gegen
Arbeitslosenkasse SMUV und Versicherungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Art. 24 AVIG, Art. 41a AVIV: Anrechnung von Zwischenverdienst. Art. 41a
AVIV (in Kraft seit 1. Juli 1985) ist insofern gesetzwidrig, als das
Einkommen aus einer Erwerbstätigkeit von insgesamt über drei Monaten nicht
als Zwischenverdienst, sondern als Einkommen aus Teilzeitbeschäftigung
behandelt wird.

Sachverhalt

    A.- Das Anstellungsverhältnis des Versicherten bei der Firma
O. AG wurde rezessionsbedingt auf Ende März 1983 aufgelöst, worauf ein
Sozialplan der ehemaligen Arbeitgeberin durchgeführt wurde. Am 1. März
1984 trat der Versicherte eine unbefristete Halbtagesstelle in der Firma
B. AG an. Von April bis Juni 1984 richtete ihm die Arbeitslosenkasse
SMUV Arbeitslosenentschädigungen auf der Basis eines Taggeldansatzes
von Fr. 131.20 aus, wobei das bei der Firma B. AG erzielte monatliche
Einkommen von Fr. 1500.-- in dieser Zeit als Zwischenverdienst im Sinne
von Art. 24 AVIG angerechnet wurde. Ab Juli 1984 qualifizierte die Kasse
dieses Einkommen nicht mehr als Zwischenverdienst, sondern als Entgelt für
eine Teilzeitbeschäftigung mit der Folge, dass die Taggelder entsprechend
reduziert wurden. Der Versicherte erhielt von dieser Änderung in der
Berechnung seiner Arbeitslosenentschädigung mit der Bezügerabrechnung
vom 8. August 1984 Kenntnis.

    B.- Beschwerdeweise beantragte der Versicherte, seine
Arbeitslosenentschädigung sei ab Juli 1984 gleich zu berechnen wie
während der ersten 3 Monate seiner Tätigkeit bei der Firma B. AG. Das
Versicherungsgericht des Kantons Bern wies die Beschwerde mit Entscheid
vom 16. Januar 1985 ab.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde erneuert der Versicherte
das vor der Vorinstanz gestellte Begehren. Die Arbeitslosenkasse und
das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA) schliessen auf
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) ...

    b) Die streitige Bezügerabrechnung ist nicht als Verfügung bezeichnet
und auch nicht mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen. Trotz des
Fehlens dieser formellen Verfügungsmerkmale hat diese Abrechnung jedoch
materiell gleichwohl Verfügungscharakter, weil damit durch behördliche
Anordnung die dem Versicherten zustehenden Arbeitslosentaggelder
verbindlich neu festgelegt wurden (vgl. BGE 100 Ib 432; GYGI,
Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., S. 131). Daher hat die Vorinstanz
richtigerweise das Vorliegen einer materiellen Verfügung und damit die
Anfechtbarkeit der Bezügerabrechnung bejaht.

Erwägung 2

    2.- a) Nach Art. 18 Abs. 1 AVIG richtet sich der Umfang des
Entschädigungsanspruches nach dem anrechenbaren Arbeitsausfall während
einer Kontrollperiode. Ein allfälliger Zwischenverdienst im Sinne von
Art. 24 AVIG wird berücksichtigt. Gemäss Art. 18 Abs. 2 AVIG gilt
als Kontrollperiode jeder Kalendermonat, für den der Arbeitslose
Entschädigungsansprüche geltend macht. Als Zwischenverdienst gilt
Einkommen aus unselbständiger oder selbständiger Erwerbstätigkeit, das der
Arbeitslose innerhalb einer Kontrollperiode erzielt. Ein Nebenverdienst im
Sinne von Art. 23 Abs. 3 bleibt unberücksichtigt (Art. 24 Abs. 1 AVIG). Der
Gesamtbetrag der Arbeitslosenentschädigung, auf den der Arbeitslose ohne
Zwischenverdienst während der Kontrollperiode Anspruch hätte, wird um
die Hälfte des Zwischenverdienstes gekürzt. Ein allfälliger Restbetrag
der Arbeitslosenentschädigung wird als Taggeld ausbezahlt, solange die
Höchstzahl der Taggelder (Art. 27 AVIG) nicht bezogen ist. Der ganze
Zwischenverdienst und die Taggelder dürfen jedoch zusammen 90 Prozent
des versicherten Monatsverdienstes nicht übersteigen (Art. 24 Abs. 2 AVIG).

    b) Im Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Bezügerabrechnung
(8. August 1984) hatte das provisorische Kreisschreiben des BIGA über
die Arbeitslosenentschädigung vom Februar 1984 Geltung, gemäss dessen
Ziff. 4.10 ein Einkommen aus unselbständiger Erwerbstätigkeit höchstens
während 3 Kontrollperioden als Zwischenverdienst anrechenbar und
danach als Entgelt für eine Teilzeitbeschäftigung zu behandeln ist. Im
Verlaufe des letztinstanzlichen Verfahrens trat auf den 1. Juli 1985
die Änderung der AVIV vom 25. April 1985 und damit der neue Art. 41a
AVIV in Kraft. Mit dieser Verordnungsbestimmung hat der Bundesrat die
Regelung im Sinne der erwähnten Weisung übernommen und Einkommen aus
einer Erwerbstätigkeit, die der Versicherte insgesamt länger als drei
Monate oder bereits bei Beginn der Arbeitslosigkeit ausübte, nicht
als Zwischenverdienst, sondern als Einkommen aus Teilzeitbeschäftigung
anrechenbar erklärt. Ebenfalls auf den 1. Juli 1985 hat das BIGA das
provisorische Kreisschreiben über die Arbeitslosenentschädigung vom
Februar 1984 durch ein neues ersetzt, wobei an der bisherigen Weisung
betreffend die Anrechenbarkeit von Zwischenverdienst festgehalten wurde
(Ziff. 4.10 Rz. 168, 170, 176; vgl. auch Ziff. 4.11 zur Abgrenzung
Zwischenverdienst/Teilzeitbeschäftigung).

    Nach der Übergangsbestimmung (Ziff. II der Änderung der AVIV vom
25. April 1985) gilt Art. 41a AVIV für alle bei Inkrafttreten nicht
rechtskräftig entschiedenen Fälle. Da im Sinne der folgenden Ausführungen
sowohl diese neue Verordnungsbestimmung als auch die erwähnten (bis Ende
Juni bzw. ab Juli 1985 geltenden) Verwaltungsweisungen, soweit es um die
Beschränkung der Anrechenbarkeit von Zwischenverdienst auf drei Monate
und somit um eine für den Versicherten ungünstigere Regelung geht, als
gesetzwidrig zu erachten sind, kann die Frage offengelassen werden, ob
die fragliche Übergangsbestimmung vor dem Prinzip der Nichtrückwirkung
neuen Rechts standhält (vgl. dazu IMBODEN/RHINOW, Schweizerische
Verwaltungsrechtsprechung, 5. Aufl., Bd. I,S. 106; GRISEL, Traité de
droit administratif, S. 148).

Erwägung 3

    3.- Die Vorinstanz vertritt die Auffassung, dass die Kasse das
Einkommen aus der Tätigkeit bei der Firma B. AG zu Recht nur während
3 Monaten als Zwischenverdienst im Sinne von Art. 24 AVIG und danach
als Einkommen aus Teilzeitbeschäftigung im Sinne von Art. 10 Abs. 2
AVIG behandelt hat. Dabei erachtete sie die vom BIGA in Rz. 4.10 seines
provisorischen Kreisschreibens vom Februar 1984 vorgesehene Regelung,
wonach ein Einkommen aus unselbständiger Erwerbstätigkeit höchstens
während 3 Kontrollperioden als Zwischenverdienst anrechenbar ist, im
Hinblick auf die Abgrenzung Zwischenverdienst/Teilzeitbeschäftigung aus
Praktikabilitätsgründen als sinnvoll. Dies hat gemäss vorinstanzlichem
Entscheid und angefochtener Bezügerabrechnung zur Folge, dass der
Gesamtbetrag der Arbeitslosenentschädigung, auf den der Beschwerdeführer
ohne Zwischenverdienst Anspruch hätte, lediglich in den Monaten April
bis Juni 1984 nur um die Hälfte des Zwischenverdienstes gekürzt wird
und dass der ganze Zwischenverdienst und die Taggelder zusammen nur für
diese 3 Monate zusammen 90% des versicherten Monatsverdienstes ausmachen
dürfen (Art. 24 Abs. 2 AVIG) statt 70% bzw. 80% bei einem verheirateten
Versicherten wie hier (vgl. Art. 22 Abs. 1 AVIG).

Erwägung 4

    4.- Wie indessen das Eidg. Versicherungsgericht im nicht
veröffentlichten Urteil Huguenin vom 19. Juni 1985 festgestellt hat,
erweist sich die erwähnte Weisung des BIGA insofern als gesetzwidrig, als
das Einkommen aus einer Erwerbstätigkeit von insgesamt über 3 Monaten nicht
als Zwischenverdienst, sondern als Einkommen aus Teilzeitbeschäftigung
zu behandeln ist. Das Gericht ging dabei von der Überlegung aus, dass
die Anrechenbarkeit von Zwischenverdienst, dem definitionsgemäss ein
Übergangscharakter zukommt, zwar grundsätzlich zu beschränken ist, es aber
naheliegend erscheint, die Begrenzung gleich wie diejenige der Höchstzahl
der Taggelder gemäss Art. 27 AVIG festzulegen. Dass diese Lösung sinnvoll
ist, ergibt sich nach jenem Urteil auch aus der Regelung von Art. 24
Abs. 2 Satz 2 AVIG, gemäss welcher ein allfälliger Restbetrag - d.h. ein
Differenzbetrag zwischen dem Gesamtbetrag der Arbeitslosenentschädigung,
auf den der Arbeitslose ohne Zwischenverdienst während den Kontrollperioden
Anspruch hätte, und dem Betrag, welcher dem Versicherten aufgrund der
(hälftigen) Anrechnung seines Zwischenverdienstes ausbezahlt wird -
in Form von Taggeldern auszubezahlen ist, solange der Versicherte die
Höchstzahl der Taggelder (Art. 27 AVIG) nicht bezogen hat. Ferner ist
beim vergleichbaren Institut des Differenzausgleiches bei Ersatzarbeit
im Sinne von Art. 25 AVIG der Anspruch des Arbeitslosen auf die Differenz
zwischen dem Lohn für die Ersatzarbeit und 90% des versicherten Verdienstes
auf höchstens 6 Kontrollperioden beschränkt (Art. 25 Abs. 2 AVIG), weshalb
anzunehmen ist, der Gesetzgeber hätte eine besondere zeitliche Begrenzung
bei der Anrechnung von Zwischenverdienst in Art. 24 AVIG ausdrücklich
angeordnet, wenn er dies gewollt hätte.

Erwägung 5

    5.- Aus dem Gesagten folgt, dass auch der zitierte, seit 1.
Juli 1985 in Kraft stehende und inhaltlich mit der genannten Weisung des
provisorischen Kreisschreibens vom Februar 1984 übereinstimmende Art. 41a
AVIV gegen Art. 24 AVIG (vgl. Erw. 2a) verstösst. Dasselbe trifft zu
für die entsprechenden gleichlautenden Weisungen des neuen, ab 1. Juli
1985 geltenden Kreisschreibens über die Arbeitslosenentschädigung gemäss
Ziff. 4.10 Rz. 168, 170 und 176 sowie für die diesbezüglichen Ausführungen
des BIGA zur Abgrenzung Zwischenverdienst/Teilzeitbeschäftigung in
Ziff. 4.11 seines Kreisschreibens. Mit der Ordnung von Art. 24 AVIG wollte
der Gesetzgeber die Annahme von Ersatzarbeit fördern. Wer mit einer solchen
Arbeit zu einem Zwischenverdienst kommt, "erzielt nicht nur ein höheres
Einkommen als der Arbeitslose, sondern hat damit gleichzeitig den Vorteil,
dass er damit weitere Beitragszeiten erwirkt, die im Hinblick auf eine
spätere Arbeitslosigkeit von Bedeutung sein können" (vgl. Botschaft
des Bundesrates zu einem neuen Bundesgesetz über die obligatorische
Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung vom 2. Juli 1980,
BBl 1980 III 579). Dabei kann weder dem Gesetzestext noch den Materialien
ein Hinweis dafür entnommen werden, dass der Anspruch des Arbeitslosen,
sich einen während der Kontrollperiode erzielten Zwischenverdienst nur
zur Hälfte auf sein Arbeitslosengeld anrechnen lassen zu müssen, und der
Vorteil, mit der Anrechnung des Zwischenverdienstes weitere Beitragszeiten
erwirken zu können, auf 3 Monate beschränkt sein soll. Mangels einer
entsprechenden Ermächtigung fehlte dem Bundesrat die Kompetenz, den
gesetzlich geschaffenen Anreiz zur Annahme von Ersatzarbeit in der Änderung
der Arbeitslosenversicherungsverordnung vom 25. April 1985 auf 3 Monate
zu beschränken. Wenn in Art. 41a AVIV bestimmt wird, dass das Einkommen
aus einer Erwerbstätigkeit, die der Versicherte insgesamt länger als 3
Monate ausübt, nicht als Zwischenverdienst, sondern als Einkommen aus
Teilzeitbeschäftigung gelte, so erweist sich diese Ordnung nach Sinn und
Zweck der "Anrechnung des Zwischenverdienstes" (vgl. Randtitel zu Art. 24
AVIG) auch aus Praktikabilitätsgründen nicht als notwendig, sachlich nicht
gerechtfertigt und mithin gesetzwidrig (vgl. in diesem Zusammenhang BGE 110
V 337 und 341, je mit Hinweisen). Mangels einer gesetzlichen Grundlage kann
jene einschränkende Verordnungsbestimmung nicht angewendet werden, soweit
sie vorsieht, die Anrechnung von Zwischenverdienst auf 3 Kontrollperioden
zu begrenzen.

Erwägung 6

    6.- Im vorliegenden Fall haben Kasse und Vorinstanz das vom
Beschwerdeführer bei der Firma B. AG erzielte Einkommen zu Unrecht
nur von April bis Juni 1984 als Zwischenverdienst behandelt. Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde erweist sich somit als begründet. Die Sache
ist an die Verwaltung zurückzuweisen, damit diese auch den ab Juli 1984
verdienten Lohn als Zwischenverdienst im Sinne von Art. 24 AVIG anrechne
und dementsprechend die dem Beschwerdeführer zustehenden Taggelder ab
Juli 1984 neu berechne.