Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 111 V 226



111 V 226

44. Auszug aus dem Urteil vom 26. August 1985 i.S. Bundesamt für
Sozialversicherung gegen Grünenfelder und Versicherungsgericht des
Kantons St. Gallen Regeste

    Art. 42 Abs. 2 IVG. Neben der (retrospektiv zu beurteilenden)
Wartezeit von 360 Tagen genügt es, dass die Hilflosigkeit analog zur
Variante 2 von Art. 29 Abs. 1 IVG bloss voraussichtlich "weiterhin"
andauert (Präzisierung der Rechtsprechung).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Streitig ist, ob die Beschwerdegegnerin Anspruch auf eine
Hilflosenentschädigung gemäss Art. 42 IVG hat. Dieser Anspruch entsteht
nach Art. 35 Abs. 1 IVV am ersten Tag des Monats, in dem sämtliche
Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Das Gesetz schreibt für den Anspruch
auf Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung weder bei Erwachsenen
nach Art. 42 Abs. 1 IVG noch bei Minderjährigen nach Art. 20 Abs. 1 IVG
eine Wartezeit vor. Da jedoch nach Art. 42 Abs. 2 IVG nur als hilflos gilt,
wer "dauernd" der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bzw. der
Dienstleistungen Dritter (Art. 36 Abs. 3 lit. d IVV) bedarf, ist dieses
Erfordernis nach ständiger Rechtsprechung und Verwaltungspraxis erfüllt,
wenn der die Hilflosigkeit begründende Zustand weitgehend stabilisiert
und im wesentlichen irreversibel ist, d.h. wenn analoge Verhältnisse
wie bei der Variante 1 von Art. 29 Abs. 1 IVG gegeben sind (Variante
1). Ferner ist das Erfordernis der Dauer als erfüllt zu betrachten,
wenn die Hilflosigkeit während 360 Tagen ohne wesentlichen Unterbruch
gedauert hat (Variante 2). Im Fall der Variante 1 entsteht der Anspruch
auf Hilflosenentschädigung im Zeitpunkt, in dem die leistungsbegründende
Hilflosigkeit als bleibend vorausgesehen werden kann (Art. 29 IVV; BGE
105 V 67 mit Hinweisen; ZAK 1983 S. 334).

    b) Gemäss der mit EVGE 1969 S. 114 begründeten und in EVGE 1969 S. 161
f. sowie ZAK 1970 S. 74 bestätigten Rechtsprechung setzt das Erfordernis
der Dauer im Sinne von Art. 42 Abs. 2 IVG - abgesehen von der "bleibenden"
Hilflosigkeit (Variante 1) - neben der (retrospektiv zu beurteilenden)
Wartezeit von 360 Tagen voraus, dass die relevante Hilflosigkeit
voraussichtlich noch mindestens 360 Tage lang dauern wird (Rz. 317
der Wegleitung über Invalidität und Hilflosigkeit, gültig ab 1. Januar
1979). Von dieser Rechtsprechung ist das Eidg. Versicherungsgericht mit
BGE 105 V 67 insofern abgewichen, als dieses Urteil für die Umschreibung
der prognostisch massgebenden Dauer der Hilflosigkeit ausdrücklich auf
die Variante 2 von Art. 29 Abs. 1 IVG Bezug nimmt und die Hilflosigkeit
danach voraussichtlich "weiterhin" andauern muss, was praxisgemäss nicht
360 Tage bedeutet (bestätigt in ZAK 1983 S. 334). Im Urteil Wenger vom
23. April 1985 (in BGE 111 V 207 nicht veröffentlichte Erw. 1c) wurde
die Frage offengelassen, ob an jenem Erfordernis der prognostischen
zweiten Periode von 360 Tagen festzuhalten oder ob die in Art. 42 Abs. 2
IVG vorausgesetzte Dauer schon als erfüllt zu betrachten ist, wenn diese
voraussichtlich weiterhin andauern wird.

    In EVGE 1969 S. 114 ging es darum, den Begriff der Hilflosigkeit
dahin zu konkretisieren, dass diese nicht "bleibend" sein muss,
sondern schon leistungsbegründend wirken kann, wenn sie längere Zeit
dauert. Damit wurde in Anlehnung an Art. 4 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1
IVG eine "bleibende" und eine "längere Zeit dauernde" Hilflosigkeit
anerkannt. Im Gegensatz zur Variante 2 des Art. 29 Abs. 1 IVG wurde
jedoch bei der längere Zeit dauernden Hilflosigkeit eine erschwerende
prognostische Anspruchsvoraussetzung von 360 Tagen verlangt. Daran
kann nicht mehr festgehalten werden. Aus Art. 42 Abs. 2 IVG lässt sich
die geforderte Weiterdauer der massgebenden Hilflosigkeit während
360 Tagen nicht ableiten. Es rechtfertigt sich auch nicht, bei der
"dauernden" Hilflosigkeit im Sinne der Variante 1 an Art. 29 Abs. 1 IVG
anzuknüpfen, bei der Variante 2 dagegen bezüglich der prognostischen
Dauer von dieser Bestimmung abzuweichen. Schliesslich sprechen auch
Gründe der Praktikabilität für eine Vereinheitlichung der Regeln über den
Anspruchsbeginn bei Renten und Hilflosenentschädigungen. Diese Auffassung
vertritt auch das Bundesamt für Sozialversicherung in der nachträglich
vom Eidg. Versicherungsgericht eingeholten Stellungnahme vom 15. April
1985. Demzufolge ist das Erfordernis der Dauer bei der Variante 2 der
Hilflosigkeit erfüllt, wenn diese nach Ablauf der 360tägigen Wartefrist
voraussichtlich weiterhin andauern wird, wie dies bereits in BGE 105 V
67 und ZAK 1983 S. 334 umschrieben worden ist.