Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 111 V 21



111 V 21

5. Auszug aus dem Urteil vom 25. Februar 1985 i.S. Bundesamt für
Sozialversicherung gegen Meier und AHV-Rekurskommission des Kantons
Zürich Regeste

    Art. 4 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 IVG, Art. 29 IVV. Begriff der
bleibenden Erwerbsunfähigkeit (Zusammenfassung und Bestätigung der
Rechtsprechung; Erw. 3). Art. 29 IVV ist gesetzmässig (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- Der 1932 geborene Versicherte ist wegen eines Krebsleidens
seit 7. Februar 1983 vollständig arbeitsunfähig. Mit Verfügung vom
12. Juli 1983 wies die Ausgleichskasse des Kantons Zürich sein Begehren
um Ausrichtung einer Invalidenrente zur Zeit ab, da nach der Variante 2
des Art. 29 Abs. 1 IVG noch kein Rentenanspruch bestehe.

    B.- Auf Beschwerde hin hob die AHV-Rekurskommission des Kantons
Zürich mit Entscheid vom 27. April 1984 die Verfügung vom 12. Juli 1983
auf und verpflichtete die Ausgleichskasse, dem Versicherten in Anwendung
der Variante 1 des Art. 29 Abs. 1 IVG ab 1. Februar 1983 eine ganze
Invalidenrente auszurichten.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt für
Sozialversicherung, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei
die Kassenverfügung wiederherzustellen; im weitern seien die Akten an
die Verwaltung zurückzuweisen, damit diese prüfe, ob der Rentenanspruch
inzwischen entstanden sei.

    Der Versicherte hat sich nicht vernehmen lassen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Die Invalidität umfasst nach Art. 4 Abs. 1 IVG einerseits
Gesundheitsschäden, die eine "voraussichtlich bleibende" Erwerbsunfähigkeit
verursachen, und anderseits Schäden, die eine "längere Zeit dauernde"
Erwerbsunfähigkeit zur Folge haben. Dementsprechend ist die Entstehung
des Rentenanspruchs nach Art. 29 Abs. 1 IVG verschieden geregelt. Im
ersten Fall entsteht der Rentenanspruch im Zeitpunkt, in welchem die
rentenbegründende Erwerbsunfähigkeit als bleibend vorausgesehen werden
kann (Variante 1), im zweiten Fall erst nach Ablauf der "längeren Zeit",
d.h. sobald der Versicherte während 360 Tagen ohne wesentlichen Unterbruch
durchschnittlich zur Hälfte arbeitsunfähig war und weiterhin mindestens
zur Hälfte erwerbsunfähig ist (Variante 2).

    b) Bleibende Erwerbsunfähigkeit (Variante 1) ist dann anzunehmen,
wenn ein weitgehend stabilisierter, im wesentlichen irreversibler
Gesundheitsschaden vorliegt, welcher die Erwerbsfähigkeit des Versicherten
voraussichtlich dauernd in rentenbegründendem Masse beeinträchtigen
wird. Als relativ stabilisiert kann ein ausgesprochen labil gewesenes
Leiden nur dann betrachtet werden, wenn sich sein Charakter deutlich in
der Weise geändert hat, dass vorausgesehen werden kann, in absehbarer
Zeit werde keine praktisch erhebliche Wandlung mehr erfolgen (BGE 99 V 98;
ZAK 1979 S. 358 Erw. 1 mit Hinweisen).

    c) Gemäss Art. 29 IVV liegt bleibende Erwerbsunfähigkeit vor, wenn
aller Wahrscheinlichkeit nach feststeht, dass sich der Gesundheitszustand
des Versicherten künftig weder verbessern noch verschlechtern wird.

Erwägung 3

    3.- Im vorliegenden Fall ist unbestritten und steht aufgrund der
medizinischen Akten fest, dass das Krebsleiden des Beschwerdegegners
die von Verordnung und Praxis verlangte Stabilität nicht hat. Nach
Auffassung der Vorinstanz erweist sich indessen die gestützt auf die
Rechtsprechung (vgl. Erw. 2b hievor) erfolgte Umschreibung des Begriffs
"bleibende Erwerbsunfähigkeit" in Art. 29 IVV als gesetzwidrig: Das
Gesetz setze die Stabilisierung des Gesundheitszustandes des Versicherten
nicht voraus. Bereits Art. 4 Abs. 1 IVG stelle in seiner Definition
des Invaliditätsbegriffs lediglich das Erfordernis voraussichtlich
bleibender Erwerbsunfähigkeit auf, und Art. 29 Abs. 1 IVG spreche vom
Versicherten, welcher bleibend erwerbsunfähig geworden ist, womit für die
Anwendung der Variante 1 eindeutig die Irreversibilität des ungünstigen
Krankheitsverlaufs als einzige Voraussetzung statuiert sei. Dass bleibende
Erwerbsunfähigkeit nur dann angenommen werden dürfe, wenn sich der
Gesundheitszustand weder verbessern noch verschlechtern werde, könne
daher dem Gesetzestext nicht entnommen werden.

    Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden.

    a) Art. 29 Abs. 1 IVG dient - wie Art. 12 Abs. 1 IVG - der Abgrenzung
der Invalidenversicherung von der sozialen Krankenversicherung. Der
Gesetzgeber wollte mit der Invalidenversicherung "grundsätzlich nur das
Risiko der dauernden Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit decken" und
dadurch eine Abgrenzung gegenüber der Krankenversicherung erreichen, indem
vorausgesetzt wurde, dass "die Invalidität voraussichtlich bleibenden
oder längere Zeit dauernden Charakter" habe (vgl. die bundesrätliche
Botschaft vom 24. Oktober 1958 zum Entwurf eines Bundesgesetzes
über die Invalidenversicherung, BBl 1958 II 1161). Dementsprechend
wurde die Entstehung des Rentenanspruchs auf zwei verschiedene Arten
geregelt. Einerseits soll der Versicherte sofort in den Genuss der Rente
gelangen, wenn seine Erwerbsunfähigkeit Dauercharakter angenommen hat
und weder Heil- noch Eingliederungsmassnahmen eine Besserung erwarten
lassen. Anderseits soll ein Rentenanspruch auch bei einem seit mindestens
einem Jahr ohne Unterbruch dauernden Leiden möglich sein, selbst wenn ein
Ende des Leidens abzusehen ist. Damit wurde ein weitgehender Anschluss
an die Leistungen der Krankengeldversicherung bezweckt (vgl. Botschaft,
aaO, S. 1199).

    b) Diesem Zweck entsprechend ging das Eidg. Versicherungsgericht
in EVGE 1962 S. 248 bei der Unterscheidung der beiden Varianten des
Art. 29 Abs. 1 IVG zunächst (vgl. die ausführliche Zusammenfassung der
Rechtsprechung in BGE 97 V 245 Erw. 2) davon aus, eine voraussichtlich
bleibende Erwerbsunfähigkeit liege vor, wenn wegen der Stabilität des
Zustandes zu erwarten sei, dass sie während der nach der Lebenserwartung
normalen Aktivitätsperiode des Versicherten bestehe und auch durch
Eingliederungsmassnahmen nicht mehr verbessert werden könne; bei labilem
pathologischem Geschehen, wie es bei akuten Krankheiten zutreffe, könne in
der Regel nicht von einer voraussichtlich bleibenden Erwerbsunfähigkeit im
Sinne der Variante 1 gesprochen werden (vgl. EVGE 1962 S. 351, 355, 359,
1963 S. 284, 293, 301; ZAK 1963 S. 391, 1964 S. 429). Diese Umschreibung
wurde später durch das Merkmal der Irreversibilität ergänzt (EVGE 1964
S. 110 Erw. 1) und somit ein weitgehend stabilisierter (und daher nicht
unabwendbar letaler), im wesentlichen irreversibler Gesundheitsschaden
vorausgesetzt (EVGE 1964 S. 174 Erw. 1). In EVGE 1965 S. 133 Erw. 2 hob
das Gericht unter Hinweis auf die bundesrätliche Botschaft nochmals hervor,
dass der Gesetzgeber die Variante 2 für längere Zeit dauernde Krankheiten
(evolutive Leiden) und die Variante 1 für jene Fälle vorgesehen habe,
in denen - nach wesentlichem Abklingen des labilen pathologischen
Geschehens - eine voraussichtlich bleibende Gesundheitsschädigung und
eine dadurch verursachte dauernde Erwerbsunfähigkeit gegeben seien; das
(zusätzliche) Merkmal der Irreversibilität sei notwendig, um eine objektive
Abgrenzung der beiden Varianten zu ermöglichen. Dabei wurde dem Merkmal
der Irreversibilität lediglich akzessorischer Charakter beigemessen und
verlangt, dass der Gesundheitsschaden weitgehend stabilisiert sei (EVGE
1965 S. 135, 1966 S. 126 Erw. 4b; ZAK 1968 S. 479).

    Anlässlich der Revision des Art. 29 Abs. 1 IVG vom 5. Oktober
1967 hielt der Gesetzgeber am bisherigen Begriff der bleibenden
Erwerbsunfähigkeit durch Übernahme der Lösung der Expertenkommission fest
(vgl. die bundesrätliche Botschaft vom 27. Februar 1967 zum Entwurf eines
Bundesgesetzes betreffend Änderung des IVG, BBl 1967 I 681). Insbesondere
widersetzte sich die Expertenkommission einem Vorschlag, "der eine
Änderung des Begriffes der bleibenden Invalidität in dem Sinne bezweckte,
als darunter auch unheilbare, nicht stabilisierte Krankheiten (wie
beispielsweise Krebs) zu subsumieren wären" (Bericht der Eidgenössischen
Expertenkommission für die Revision der Invalidenversicherung vom 1. Juli
1966, S. 76 f.).

    Das Eidg. Versicherungsgericht bestätigte in der Folge seine bisherige
Rechtsprechung mehrmals und hielt fest, dass das Kriterium der Stabilität,
allenfalls ergänzt durch dasjenige der Irreversibilität, für die Abgrenzung
des Anwendungsbereichs der 1. von dem der 2. Variante des Art. 29 Abs. 1
IVG vorbehaltlos massgebend sei; bei Fehlen dieser vorausgesetzten Merkmale
sei der Beginn eines allfälligen Rentenanspruchs stets nach Massgabe der
Variante 2 zu prüfen (BGE 97 V 245 Erw. 2 mit Hinweisen, 99 V 100; ZAK 1971
S. 467 Erw. 2, 1977 S. 119, 1979 S. 358 Erw. 1; vgl. auch BGE 96 V 44).

    c) Das Eidg. Versicherungsgericht hat keine Veranlassung, seine seit
Bestehen der Invalidenversicherung während mehr als 20 Jahren gehandhabte,
dem Zweck des Art. 29 Abs. 1 IVG entsprechende Praxis zu ändern. Es hat die
Anwendung der Variante 1 auf fortschreitende Krebsleiden stets abgelehnt
(EVGE 1965 S. 136, 1962 S. 248 und 356; ZAK 1971 S. 388, 1965 S. 462;
nicht veröffentlichtes Urteil Vicente vom 13. September 1977). Entgegen
der Auffassung der Vorinstanz geht es nach dem Gesagten nicht an, die
Voraussehbarkeit der bleibenden Erwerbsunfähigkeit bei Gesundheitsschäden
anzunehmen, "die nach erhärteten medizinischen Erfahrungen keine Tendenz
zur Besserung aufweisen" und bereits zu einer mindestens hälftigen,
voraussichtlich durch keine Eingliederungsmassnahmen verminderbaren
Erwerbsunfähigkeit geführt haben. Die kantonale Rekurskommission stellt
mit dieser Argumentation zu sehr auf den Wortlaut ab und verkennt dabei
den Zweck der Ordnung des Art. 29 Abs. 1 IVG (EVGE 1965 S. 133 Erw. 2;
ZAK 1971 S. 388 Erw. 1 in fine). Sie übersieht, dass als Hauptkriterium die
Stabilität gilt und sich dieses Erfordernis nicht auf die wirtschaftlichen
Auswirkungen, sondern auf den Gesundheitsschaden selbst bezieht (BGE 97 V
247). Im übrigen darf die bleibende Erwerbsunfähigkeit nur prognostisch,
nicht aber aufgrund retrospektiver Feststellungen beurteilt werden (EVGE
1964 S. 110 Erw. 1 in fine; vgl. auch BGE 96 V 135).

    d) Die Betrachtungsweise der Vorinstanz verunmöglicht letztlich eine
praktikable und rechtsgleiche Abgrenzung der Anwendungsfälle der Varianten
1 und 2 (ZAK 1971 S. 468). Sie hätte - wie die Ausgleichskasse zutreffend
ausführt - auch zur Folge, dass der an einem unheilbaren, voraussichtlich
in absehbarer Zeit zum Tode führenden Leiden erkrankte Versicherte in der
Invalidenversicherung bessergestellt würde als der Versicherte mit einer
langdauernden, voraussichtlich heilbaren Krankheit oder mit langwierigen
Unfallfolgen. Ein solches Ergebnis widerspräche dem Zweck des Art. 29
Abs. 1 IVG.

Erwägung 4

    4.- Mit Art. 29 IVV wurde "in Einklang mit der Rechtsprechung die
bleibende Erwerbsunfähigkeit" umschrieben, "weil in der Praxis die
gesetzliche Regelung unterschiedlich und oft zu grosszügig angewendet
wurde" (ZAK 1977 S. 17). Art. 29 IVV fasst - in verkürzter Weise - die
konstante Praxis des Eidg. Versicherungsgerichts im Hinblick auf eine
einheitliche Rechtsanwendung zusammen. Die Verordnungsbestimmung bringt
indessen weder inhaltlich etwas Neues, noch steht sie im Widerspruch zur
Rechtsprechung. Es kann daher keine Rede davon sein, dass Art. 29 IVV
gesetzwidrig wäre.

Erwägung 5

    5.- Aus dem Gesagten folgt, dass die Vorinstanz zu Unrecht den
Rentenanspruch des Beschwerdegegners nach der Variante 1 beurteilt hat und
mithin ihr Entscheid aufzuheben ist. Die Akten sind der Ausgleichskasse
des Kantons Zürich zuzustellen, damit sie prüfe, ob in der Zwischenzeit
der Rentenanspruch gemäss Variante 2 entstanden sei.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid der
AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich vom 27. April 1984 aufgehoben. Die
Akten werden der Ausgleichskasse des Kantons Zürich zugestellt, damit
sie im Sinne der Erwägung 5 verfahre.