Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 111 V 117



111 V 117

25. Urteil vom 17. Juni 1985 i.S. Schutz gegen Ausgleichskasse Basel-Stadt
und Kantonale Rekurskommission für die Ausgleichskassen, Basel Regeste

    Art. 18 Abs. 2 Satz 2 des schweizerisch-deutschen Abkommens über
Soziale Sicherheit, Art. 9 Abs. 3 lit. b IVG.

    - Insoweit die Verwaltungsweisungen des Bundesamtes für
Sozialversicherung zum schweizerisch-deutschen Abkommen verlangen, dass
das minderjährige Kind deutscher Staatsangehöriger mit Wohnsitz in der
Schweiz hier invalid geboren und (kumulativ) sich hier seit der Geburt
ununterbrochen aufgehalten haben muss, widersprechen sie Art. 18 Abs. 2
Satz 2 des Abkommens (Erw. 1a).

    - Grundsätze der Staatsvertragsauslegung bezüglich der in einem
Sozialversicherungsabkommen verwendeten Begriffe, welche für den Anspruch
auf Leistungen eines schweizerischen Versicherungsträgers massgebend sind
(Erw. 1b).

    - Was ist unter dem Begriff "in der Schweiz invalid geboren" im Sinne
von Art. 18 Abs. 2 des Abkommens und Art. 9 Abs. 3 lit. b IVG zu verstehen
(Erw. 1c, d und 2)?

Sachverhalt

    A.- Am 6. Mai 1983 meldete Wolfdietrich Schutz, deutscher
Staatsangehöriger, seinen am 5. Februar 1975 in Basel geborenen
Sohn Rupert wegen eines linksseitig seit Geburt auf 10% bis 20%
herabgesetzten Visus bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug
an. Die Invalidenversicherungskommission holte u.a. einen Bericht
der Frau Dr. med. B., Basel, vom 24. Juni 1983 ein, dem Atteste
der Universitäts-Augenklinik Basel vom 19. November 1979 und des
Dr. med. F., Nürnberg, vom 17. Juli 1978 beilagen. Aus den eingeholten
Berichten und einer Zuschrift des Vaters des Versicherten an die
Invalidenversicherungs-Kommission vom 2. August 1983 geht hervor,
dass Rupert Schutz mit seinen Eltern im November 1975 nach Deutschland
ausgereist und am 20. Juli 1978 in die Schweiz zurückgekehrt war, wo er
seither wieder wohnhaft ist; die erstmalige Behandlung des Augenleidens
war in Deutschland erfolgt.

    Mit Verfügung vom 10. August 1983 lehnte die
Ausgleichskasse Basel-Stadt aufgrund eines Beschlusses der
Invalidenversicherungs-Kommission vom 6. Juli 1983 das Leistungsbegehren
ab, weil die erforderlichen staatsvertraglichen Voraussetzungen nicht
erfüllt seien.

    B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde wies die Kantonale
Rekurskommission für die Ausgleichskassen Basel-Stadt ab (Entscheid vom
24. November 1983).

    C.- Rupert Schutz lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und
sinngemäss beantragen, es sei die Invalidenversicherung, unter Aufhebung
des vorinstanzlichen Entscheides, zu verpflichten, für das Geburtsgebrechen
medizinische Massnahmen zu erbringen und Hilfsmittel abzugeben.

    Die Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV)
schliessen auf Abweisung der Beschwerde.

    D.- Das Eidg. Versicherungsgericht holte beim BSV bezüglich der
Staatsvertragsverhandlungen eine ergänzende Stellungnahme ein, welche
den Parteien unterbreitet wurde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Streitig ist, ob der Beschwerdeführer die versicherungsmässigen
Voraussetzungen für die Zusprechung von Eingliederungsmassnahmen der
schweizerischen Invalidenversicherung erfüllt. Diese Frage prüft das
Eidg. Versicherungsgericht in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht frei
und ohne Bindung an die Parteibegehren (Art. 132 OG).

    a) Art. 18 Abs. 2 in der Fassung des Zusatzabkommens vom 9. September
1975 zum Abkommen vom 25. Februar 1964 zwischen der Schweizerischen
Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland über Soziale
Sicherheit sieht - nebst den Voraussetzungen des hier unbestrittenerweise
nicht zutreffenden Satzes 1 - einen Anspruch deutscher Kinder auf
Eingliederungsmassnahmen vor, wenn sie in der Schweiz Wohnsitz
haben und hier entweder invalid geboren sind oder seit der Geburt
ununterbrochen gewohnt haben (Satz 2). Dem Beschwerdeführer ist darin
beizupflichten, dass diese Bestimmung den Anspruch von zwei alternativen
Voraussetzungen abhängig macht. Insoweit die Verwaltungsweisungen des BSV
zum schweizerisch-deutschen Abkommen über Soziale Sicherheit in Rz. 35
verlangen, dass das minderjährige Kind deutscher Staatsangehöriger mit
Wohnsitz in der Schweiz hier invalid geboren und sich hier - kumulativ -
seit der Geburt ununterbrochen aufgehalten haben müsse, widersprechen
sie der staatsvertraglichen Regelung. Wie die Ausgleichskasse in
ihrer Vernehmlassung zu Recht einräumt, kann deshalb der Anspruch des
Beschwerdeführers nicht unter Hinweis auf Rz. 35 der Verwaltungsweisungen
verneint werden, an welche der Richter ohnehin nicht gebunden ist (BGE
110 V 267 f. mit Hinweisen).

    Da der Beschwerdeführer sich einerseits seit der Geburt nicht
ununterbrochen in der Schweiz aufhielt und anderseits bei Verfügungserlass
Wohnsitz in der Schweiz hatte, hängt der streitige Anspruch davon ab,
ob er "in der Schweiz invalid geboren" wurde (Art. 18 Abs. 2 Satz 2 in
fine des Staatsvertrages).

    b) Nach ständiger Rechtsprechung ist bei der Auslegung eines
Staatsvertrages in erster Linie vom Vertragstext auszugehen. Erscheint
dieser klar und ist seine Bedeutung, wie sie sich aus dem gewöhnlichen
Sprachgebrauch sowie aus Gegenstand und Zweck des Übereinkommens ergibt,
nicht offensichtlich sinnwidrig, so kommt eine über den Wortlaut
hinausgehende ausdehnende oder einschränkende Auslegung nur in Frage,
wenn aus dem Zusammenhang oder der Entstehungsgeschichte mit Sicherheit
auf eine vom Wortlaut abweichende Willenseinigung der Vertragsstaaten zu
schliessen ist (BGE 109 V 188 Erw. 3a und 226 Erw. 3b, 105 V 16 unten mit
Hinweisen, vgl. auch 110 V 77 Erw. 3b). In diesem Rahmen sind die in einem
Sozialversicherungsabkommen verwendeten Begriffe, welche für den Anspruch
auf Leistungen eines schweizerischen Versicherungsträgers massgebend sind,
nach schweizerischer Rechtsauffassung, d.h. nach innerstaatlichem Recht
auszulegen (EVGE 1969 S. 223 Erw. 2; ZAK 1972 S. 671).

    c) Im Lichte dieser Auslegungsgrundsätze ist vorliegend zu prüfen,
welche Bedeutung der Wendung "in der Schweiz invalid geboren" gemäss
Art. 18 Abs. 2 Satz 2 des schweizerisch-deutschen Staatsvertrages
zukommt. Den nämlichen Terminus "(in der Schweiz) invalid geboren" kennt
auch das Abkommen zwischen der Schweiz und Italien über Soziale Sicherheit
vom 14. Dezember 1962 in Art. 8 lit. a in fine (nunmehr Art. 8 lit. c in
fine gemäss 2. Zusatzvereinbarung vom 2. April 1980). Eine übereinstimmende
Formulierung findet sich schliesslich auch im schweizerischen Landesrecht
(Art. 9 Abs. 3 lit. b IVG). Das Eidg. Versicherungsgericht hat sich bisher
zum invaliditätsmässigen Gesichtspunkt dieser Begriffe nicht ausdrücklich
ausgesprochen. Im unveröffentlichten Urteil Zacchino vom 1. Oktober 1969
hat das Gericht (zu alt Art. 8 lit. a des schweizerisch-italienischen
Abkommens) lediglich festgehalten, dass die zeitlichen und örtlichen
Elemente der Wendung "in der Schweiz invalid geboren" schon vom Wortlaut
her dermassen klar bestimmt seien, dass sie keiner weiteren Auslegung
bedürften, was im nicht publizierten Urteil Lundquist vom 9. Dezember 1982
(in bezug auf Art. 9 Abs. 3 lit. b IVG) bestätigt wurde.

    Die Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 4 IVG in der Fassung vom
19. Juni 1959 (AS 1959 829), welcher dem seit 1. Januar 1968 geltenden
Art. 9 Abs. 3 IVG entspricht (AS 1968 31), gibt zur vorliegenden Frage
keinen hinreichenden Aufschluss. Insbesondere erscheint es aufgrund der
Materialien unklar, was der Gesetzgeber mit der nachträglichen Beifügung
des Wortes "invalid" - die bundesrätliche Botschaft vom 24. Oktober
1958 sprach lediglich von "in der Schweiz geboren" (BBl 1958 II 1294) -
bezwecken wollte (Sten.Bull. 1959 N 108 f., S 137). Wie sich aus der vom
BSV zusätzlich einverlangten Stellungnahme ergibt, sind sodann auch die
bundesamtlichen Protokolle über die Vertragsverhandlungen betreffend
die Sozialversicherungsabkommen mit der Bundesrepublik und Italien
diesbezüglich nicht aussagekräftig. Laut der Stellungnahme des BSV habe das
seinerzeitige Angebot der Schweiz, die Regelung von Art. 9 Abs. 3 lit. b
IVG in die Staatsverträge zu übernehmen, zu keinen Diskussionen Anlass
gegeben; soweit feststellbar, sei diese Regelung auch nicht Gegenstand
von Erläuterungswünschen der Vertragspartner gewesen.

    Der Standpunkt des Beschwerdeführers, die Vertragsstaaten hätten mit
dem Ausdruck "invalid geboren" all jene Kinder von den Leistungen der
schweizerischen Invalidenversicherung profitieren lassen wollen, die mit
einem angeborenen Leiden in der Schweiz zur Welt kommen, ist somit nicht
belegt und eine besondere Auffassung der vertragsschliessenden Parteien
hinsichtlich des Begriffes "invalid geboren" nicht feststellbar. Deshalb
ist dieser Wendung nach dem in Erw. 1b hievor Gesagten grundsätzlich jene
Bedeutung beizumessen, wie sie sich aus dem innerstaatlichen Recht ergibt.

    d) Als invalid im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG gilt, wer durch
einen körperlichen oder geistigen Gesundheitsschaden als Folge von
Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall voraussichtlich bleibend oder
während längerer Zeit dauernd erwerbsunfähig ist. Nicht erwerbstätige
Minderjährige mit einem körperlichen oder geistigen Gesundheitsschaden
gelten als invalid, wenn der Gesundheitsschaden wahrscheinlich eine
Erwerbsunfähigkeit zur Folge haben wird (Art. 5 Abs. 2 IVG). Die
Invalidität gilt als eingetreten, sobald sie die für die Begründung
des Anspruches auf die jeweilige Leistung erforderliche Art und Schwere
erreicht hat (Art. 4 Abs. 2 IVG; vgl. auch Art. 10 Abs. 1 IVG).

    Bei den medizinischen Eingliederungsmassnahmen gilt nach der
Rechtsprechung die Invalidität in dem Zeitpunkt als eingetreten, in dem
das festgestellte Gebrechen eine medizinische Behandlung oder ständige
Kontrolle objektiv erstmals notwendig macht, was dann zutrifft, wenn die
Behandlungs- oder Kontrollbedürftigkeit beginnt und keine Gegenindikation
besteht (BGE 105 V 60 Erw. 2a mit Hinweisen). Diese Grundsätze gelten
auch zur Bestimmung des Invaliditätseintritts bei minderjährigen
Versicherten, die an einem Geburtsgebrechen leiden (BGE 98 V 270). Die
neuere Rechtsprechung stellt somit den Invaliditätseintritt objektiv
aufgrund des Gesundheitszustandes fest, wobei zufällige externe Faktoren,
wie insbesondere die subjektive Kenntnis des Leistungsansprechers (oder
das bei Aufbringung der nötigen Sorgfalt zumutbare Erkennenmüssen) um
die invaliditätsbegründenden Tatsachen, unerheblich sind (BGE 108 V 62
Erw. 2b mit Hinweis, 103 V 131; anders noch BGE 100 V 169 Erw. 1 in fine
und 99 V 209 oben).

    Unter Weiterführung dieser Grundsätze im Bereich von Art. 18 Abs. 2
Satz 2 des schweizerisch-deutschen Abkommens (und der gleichlautenden in
Erw. 1c hievor erwähnten Bestimmungen) ist als "in der Schweiz invalid
geboren" zu betrachten, wer hier mit einem durch medizinische Massnahmen
zu behandelnden oder anderswie eingliederungsbedürftigen Geburtsgebrechen
zur Welt kommt. Dabei ist es unerheblich, ob die Behandlungs- oder sonstige
Eingliederungsbedürftigkeit bei der Geburt besteht oder darnach eintritt,
sofern in diesem späteren Zeitpunkt des Versicherungsfalles die übrigen
versicherungsmässigen Voraussetzungen (z.B. Wohnsitz; Art. 6 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 1 IVG und Art. 1 Abs. 1 lit. a AHVG) erfüllt sind.

Erwägung 2

    2.- Zu prüfen bleibt, ob der Beschwerdeführer im Sinne dieser
Grundsätze in der Schweiz invalid geboren worden ist.

    a) In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird vorgebracht, der am
5. Februar 1975 in Basel geborene Beschwerdeführer leide erwiesenermassen
an einem Geburtsgebrechen und sei deshalb in der Schweiz invalid
geboren. Diese Schlussfolgerung ist als solche nach dem in Erw. 1c und
d hievor Gesagten unzutreffend. Als der Beschwerdeführer in der Schweiz
geboren wurde und hier bis zur Ausreise mit seinen Eltern nach Deutschland
(November 1975) wohnhaft blieb, war er zwar mit einem Geburtsgebrechen
(Art. 2 Ziff. 423 GgV, gemäss Bericht der Frau Dr. med. B. vom 24. Juni
1983) behaftet; das heisst aber noch nicht, dass er nach den vorstehend
dargelegten Grundsätzen bereits in jenem Zeitraum Eingliederungsmassnahmen
benötigte. Anderseits kann, entgegen der Auffassung von Ausgleichskasse
und BSV, nach der Aktenlage nicht ohne weiteres bejaht werden, dass das
Augenleiden erst in Deutschland eine Behandlung erfordert habe, weswegen
die Invalidität erst nach der Wohnsitzaufgabe in Basel (November 1975)
eingetreten sei.

    b) Der Beschwerdeführer leidet unbestrittenermassen an einem
Geburtsgebrechen. Die medizinischen Unterlagen enthalten keine
Anhaltspunkte für ein nachträglich erworbenes Leiden. Wie aus der Zuschrift
des Vaters vom 2. August 1983 an die Invalidenversicherungs-Kommission
hervorgeht, stellten die Eltern während des Aufenthaltes in Deutschland das
Augenleiden ihres Sohnes fest. Diese Aussage deckt sich mit den Angaben
im Bericht der Universitäts-Augenklinik Basel vom 19. November 1979,
wonach der Strabismus convergens seit dem 1. Lebensjahr beobachtet
wurde. Diese subjektive Kenntnis um die invaliditätsbegründenden
Tatsachen und der Umstand, dass die Eltern ihren Sohn anscheinend erst
im Mai 1977 zu Dr. med. F. in Behandlung schickten, sind - als zufällige
externe Faktoren - nach dem in Erw. 1d hievor Gesagten für die zeitliche
Festlegung des Invaliditätseintrittes nicht ausschlaggebend. Entscheidend
ist vielmehr, ab wann das Geburtsgebrechen objektiv behandlungs- oder
zumindest kontrollbedürftig war. Die Annahme der Verwaltung, dies sei
vorliegend erst im Alter von ein oder zwei Jahren der Fall gewesen, ist
durch die medizinischen Unterlagen nicht hinreichend belegt. Ebenso
denkbar ist, dass ophthalmologische Geburtsgebrechen der vorliegenden
Art bereits in der Zeit nach der Geburt objektiv eine Behandlung oder
zumindest ärztliche Kontrolle erfordern. Diese Frage hat die Verwaltung
der Universitäts-Augenklinik Basel, wo der Beschwerdeführer seit seiner
Wiedereinreise in die Schweiz behandelt wird, zu unterbreiten.

Erwägung 3

    3.- Ergibt die Aktenergänzung, dass das Augenleiden objektiv bereits
eine ärztliche Behandlung oder zumindest Kontrolle bei der Geburt oder
in jenem Zeitraum erfordert hätte, als der Wohnsitz noch in der Schweiz
lag (bis November 1975), wäre auch die Versicherteneigenschaft bei
Invaliditätseintritt erfüllt (Art. 6 in Verbindung mit Art. 1 IVG und
Art. 1 Abs. 1 lit. a AHVG).

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltunsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass
der Entscheid der Kantonalen Rekurskommission für die Ausgleichskassen
Basel-Stadt vom 24. November 1983 und die Kassenverfügung vom 10. August
1983 aufgehoben werden und die Sache an die Ausgleichskasse Basel-Stadt
zurückgewiesen wird, damit diese, nach erfolgter Abklärung im Sinne der
Erwägung 2b, über den Leistungsanspruch erneut verfüge.