Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 111 IV 92



111 IV 92

23. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 20. September
1985 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen gegen
Sch. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 91 Abs. 1; 95 Ziff. 1 Abs. 1 SVG. Führen eines Motorfahrzeugs.

    Wer ein Auto auf ebener Strecke umparkiert, indem er es, ohne den Motor
anzulassen, neben der geöffneten linken Türe gehend, vorwärts schiebt,
führt nicht ein Motorfahrzeug im Sinne der genannten Gesetzesbestimmungen.

Sachverhalt

    A.- Als sich Sch. am frühen Morgen des 2. September 1984 zu seinem
auf einem öffentlichen Parkplatz in Stein am Rhein abgestellten Auto
begab und dabei erkennbar schwankte, untersagten ihm die Polizisten
einer Patrouille der Stadtpolizei die Wegfahrt unter Hinweis auf seinen
offensichtlich alkoholisierten Zustand; sie nahmen ihm den Führerausweis
und den Zündungsschlüssel ab. Kurz nachdem die beiden Polizeibeamten
weggegangen waren, setzte Sch. den Wagen in Bewegung, indem er die
Handbremse löste und ihn neben der geöffneten linken Türe gehend, auf
ebener Strecke vorwärts schob. Nach ca. 20 m Fahrt stiess das Fahrzeug
gegen einen anderen parkierten Personenwagen, ohne dass an diesem Schaden
entstand. Die Sch. nach dem Vorfall entnommene Blutprobe ergab einen
Alkoholgehalt von 1,36 bis 1,85 Gewichtspromille.

    B.- Das Kantonsgericht des Kantons Schaffhausen sprach Sch. am 7. März
1985 von den Anklagen des Führens eines Motorfahrzeugs in angetrunkenem
Zustand im Rückfall und trotz Entzugs des Führerausweises sowie von
derjenigen der einfachen Verletzung von Verkehrsregeln (Nichtbeherrschen
des Fahrzeugs) frei.

    Das Obergericht des Kantons Schaffhausen bestätigte am 14. Juni 1985
diesen Entscheid.

    C.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen führt
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts
sei aufzuheben und die Sache zur Verurteilung von Sch. wegen Führens
eines Motorfahrzeugs in angetrunkenem Zustand und trotz Entzugs des
Führerausweises sowie wegen Verletzung von Verkehrsregeln an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Zur Entscheidung steht die Frage, ob das vom Beschwerdeführer
unbestrittenermassen in angetrunkenem Zustand und trotz Entzugs des
Führerausweises vorgenommene Verschieben des Wagens, dessen Motor dabei
nicht angelassen war, ein Führen des Motorfahrzeugs im Sinne der Art. 91
Abs. 1 und 95 Ziff. 1 Abs. 1 SVG darstelle.

    a) Geht man vom Wort "führen" aus, so bieten sich unvermittelt als
sinnverwandte Begriffe die Worte "lenken" und "leiten" an. Bezogen auf ein
Fahrzeug setzen sie voraus, dass dieses in Bewegung sei bzw. in Bewegung
gesetzt werde; ein stillstehendes Fahrzeug kann nicht gelenkt oder geleitet
werden. Führen im Sinne der vorgenannten Bestimmungen heisst deshalb nach
der natürlichen Lesart, ein Fahrzeug im öffentlichen Verkehr in Bewegung
setzen (SCHULTZ, die Strafbestimmungen des SVG, S. 186) und dabei seine
Bewegungsrichtung bestimmen. Um das zu bewirken, muss mindestens ein Teil
der für die Fortbewegung und Lenkung vorgesehenen technischen Einrichtungen
betätigt werden. Entsprechend hat das Bundesgericht in einem frühern
Entscheid erklärt, Führer des Motorfahrzeugs sei normalerweise derjenige,
der am Steuerrad sitzt und die für die Fortbewegung des Fahrzeugs
erforderlichen Mechanismen auslöst (BGE 60 I 163). Diesen Normalbegriff
des Führers hat es indessen schon damals strafrechtlich als zu eng
befunden und jenem Fahrzeuglenker denjenigen als Führer gleichgestellt,
der tatsächlich einen Akt der Führung auf seine Verantwortung unternimmt,
wie z.B. der Mitfahrer, der von sich aus in die Führung eingreift. Später
wurde präzisiert, dass es für die Frage, ob der Täter ein Motorfahrzeug
geführt habe, belanglos sei, ob dieses durch die eigene Motorkraft oder
durch die Schwerkraft oder eine andere Kraft in Bewegung gesetzt wurde, und
dass auch der Lenker eines geschleppten oder gestossenen Motorfahrzeugs
"Führer" sei (BGE 91 IV 199 ff. unter Hinweis auf die Art. 71 und 72
VRV). Bei der letzteren Aussage ist allerdings das Bundesgericht vom Fall
des im Wagen sitzenden Führers ausgegangen. Auf die Frage, ob auch der
neben seinem Fahrzeug gehende, dieses mit eigener Muskelkraft schiebende
und dabei das Lenkrad durch die offene Seitentüre oder das Seitenfenster
betätigende Lenker Führer eines Motorfahrzeugs im Sinne des Gesetzes
sei, lässt sich in der bisherigen Rechtsprechung keine Antwort finden.
Auch dem schweizerischen Schrifttum ist zur Frage nicht wesentlich mehr
als der vorerwähnten Judikatur zu entnehmen.

    b) Deutsche Lehre und Praxis zu § 316 StGB, der Trunkenheit des
Führers eines Fahrzeugs im Verkehr unter Vergehensstrafe stellt (nicht zu
verwechseln mit § 315e StGB), nehmen an, dass Führen eines Kraftfahrzeugs
grundsätzlich Inbetriebsetzen desselben in eigener Verantwortung
voraussetze. Es wird jedoch als ausreichend erachtet, wenn der Lenker
mindestens einen Teil der für die Fortbewegung wesentlichen technischen
Vorrichtungen bestimmungsgemäss betätigt. Wer ein Motorfahrzeug schiebt,
um den Motor anzulassen, führt, und gleicherweise tut dies, wer ein
Motorfahrzeug unter Ausnützung seiner Schwerkraft über eine Gefällstrecke
lenkt; denn auch ohne Ingangsetzung des Motors können Kraftfahrzeuge
solcher Art als Beförderungsmittel dienen. Dagegen ist nach deutscher
Auffassung das blosse Geschobenwerden auf ebener Strecke unter Anwendung
von Muskelkraft, das nicht dem Anlassen des Motors dient, kein Führen;
nur die Vorgänge und Betätigungen seien als Führen eines Kraftfahrzeugs
erheblich, die Gefahren mit sich bringen, welche den Vergehenscharakter
des § 316 StGB rechtfertigten (JAGUSCH/HENTSCHEL, Strassenverkehrsrecht,
27. Aufl., N. 11 zu § 21 StVG und N. 2 zu § 316 StGB mit Hinweisen auf
die Praxis). Es macht sich deshalb nicht nach § 316 StGB strafbar, wer
unter erheblichem Alkoholeinfluss seinen PKW schiebt, indem er z.B. durch
das geöffnete Fenster von aussen das Lenkrad bedient (HENTSCHEL/BORN,
Trunkenheit im Strassenverkehr, S. 103 N. 336).

    c) Auch unter dem Gesichtspunkt des Art. 91 Abs. 1 SVG, der mit
Gefängnis oder mit Busse bedroht, wer in angetrunkenem Zustand ein
Motorfahrzeug führt, kann es nicht genügen, dass der Lenker ein an sich
mit einem Motor ausgestattetes Fahrzeug im öffentlichen Verkehr irgendwie
in Bewegung setzt. Nur wenn er dessen technische Einrichtungen mindestens
zum Teil in der Weise betätigt, dass die dem Betrieb eines Motorfahrzeugs
(s. Art. 7 SVG) innewohnenden erhöhten Gefahren entstehen können, soll
die Vergehensstrafe Platz greifen. Das ergibt sich auch aus der Tatsache,
dass der Gesetzgeber in Art. 91 Abs. 2 SVG den angetrunkenen Führer eines
nichtmotorischen Fahrzeugs bloss mit einer Übertretungsstrafe bedroht
hat. Der Grund liegt offensichtlich darin, dass das Inbewegungsetzen eines
solchen Fahrzeugs im öffentlichen Verkehr erheblich weniger hohe Gefahren
schafft als ein im öffentlichen Verkehrsraum geführtes Motorfahrzeug. Wer
deshalb in angetrunkenem Zustand ein Motorfahrzeug führt, ladet schwerere
Schuld auf sich, als wer angetrunken ein nichtmotorisches Fahrzeug in
Verkehr setzt.

    d) Bezogen auf den vorliegenden Fall ergibt sich, dass Sch., der
zwar die Handbremse seines Personenwagens gelöst, diesen dann neben
dem Fahrzeug gehend unter Aufwendung der eigenen Muskelkraft auf einem
öffentlichen Parkplatz in Bewegung gesetzt und durch die geöffnete
Seitentüre das Lenkrad betätigt hat, um den Wagen von einem Parkfeld
auf ein anderes zu verschieben, wohl einige für die Fortbewegung seines
Motorfahrzeugs wesentliche technische Verrichtungen vorgenommen, durch
diese aber in keiner Weise dem Betrieb eines Motorfahrzeugs spezifische
Gefahren für den Strassenverkehr ausgelöst hat. Bei einem solchen Manöver
kann das Fahrzeug auf ebener Fahrbahn notwendigerweise nur eine geringe
Geschwindigkeit erreichen und in aller Regel bloss über kurze Strecken
bewegt werden. Insoweit unterscheidet sich dieser Fall wesentlich
von demjenigen, in welchem ein Personenwagen mit ausgekuppeltem oder
abgestelltem Motor unter Ausnützung der Schwerkraft von dem im Fahrzeug
sitzenden Führer eine Gefällstrecke hinuntergesteuert wird. Dabei können
verhältnismässig rasch erhebliche Geschwindigkeiten erreicht werden,
und es sind die Anforderungen an den Führer annähernd die gleichen
wie beim Antrieb des Fahrzeugs durch den Motor (Entscheid des BGHSt
in NJW 1960 S. 1212). Nicht anders verhält es sich beim Abschleppen
eines Motorfahrzeugs, wenn nicht die Abschleppvorrichtung die Lenkung
gewährleistet (s. Schultz, aaO, S. 186 lit. c). Hier ist es die motorische
Kraft eines Fahrzeugs, die die Fortbewegung des anderen bewirkt, ihm
eine entsprechende Geschwindigkeit verleiht und damit an dessen Lenker
nicht geringe Ansprüche stellt (s. BGE 91 IV 200 E. 3). Diesem Fall wird
man auch denjenigen gleichstellen können, wo ein Motorwagen durch einen
anderen gestossen wird. Das geschieht in der Regel zum Anlassen des Motors
und damit zur bestimmungsgemässen Inbetriebsetzung des Motorfahrzeugs
(s. deshalb auch Art. 71 Abs. 3 VRV). Gerade das ist im vorliegenden
Fall nicht geschehen. Sch. hat das Motorfahrzeug nicht seiner Bestimmung
gemäss als Beförderungsmittel benutzt, sondern einen Tatbestand gesetzt,
der in seinen Auswirkungen höchstens dem Führen eines nichtmotorischen
Fahrzeugs gleichkommt.

    e) Ist dem aber so, ist auch kein zwingender Grund ersichtlich, warum
ein solches Manöver nur von einer Person sollte durchgeführt werden dürfen,
die im Besitze des Führerausweises ist. Das Erfordernis des Ausweises
über fahrerisches Können und Kenntnis der für Motorfahrzeugführer
geltenden Verkehrsregeln soll der Gefährdung der Sicherheit durch die
Inbetriebsetzung von Motorfahrzeugen im Strassenverkehr vorbeugen. Wo
indessen durch die Fortbewegung eines solchen Fahrzeugs im Verkehr jene
Gefahren auch nicht abstrakt geschaffen werden, muss es belanglos sein,
ob der Lenker im Besitze des Führerausweises war oder nicht. Wer ein
Manöver, wie es der Beschwerdegegner ausgeführt hat, trotz Entzugs des
Ausweises vornimmt, macht sich nicht des Führens eines "Motorfahrzeugs"
ohne Führerausweis im Sinne des Art. 95 Ziff. 1 Abs. 1 SVG schuldig.

    Die Vorinstanz hat deshalb den Beschwerdegegner zu Recht von der
Anklage des Führens eines Motorfahrzeugs in angetrunkenem Zustand (Art. 91
Abs. 1 SVG) und trotz Entzugs des Führerausweises (Art. 95 Ziff. 1 Abs. 1
SVG) freigesprochen.