Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 111 IV 68



111 IV 68

19. Urteil des Kassationshofes vom 19. April 1985 i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Zürich gegen F. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 210 StGB, Veröffentlichung von Gelegenheiten zur Unzucht.

    Eine Veröffentlichung von Gelegenheiten zur Unzucht ist nur dann
strafbar, wenn Wortlaut und/oder Aufmachung der Anzeige geeignet sind,
Anstoss zu erregen und das Anstands- und Sittlichkeitsgefühl des Lesers
zu verletzen (Präzisierung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Frau F. liess am 25. Januar 1984 in der Tageszeitung Blick ein
Kleininserat mit folgendem Wortlaut erscheinen:
                           "Melanie
                       Zch-Wollishofen
                        ...strasse ...
                           Parterre
                  Mo bis Fr 12 bis 20 Uhr."

    Die Anzeige erschien in einer Reihe auf der gleichen Seite
veröffentlichter einschlägiger Inserate, die teils mit weiblichen Vornamen,
mit Hinweisen wie "Contact-Service", "Salon XY", "Studio XY" überschrieben
waren und in einem Fall "hautnahen Kontakt zw. Mann + Frau" anpriesen.

    B.- Mit Strafverfügung vom 22. Februar 1984 büsste das Statthalteramt
des Bezirkes Zürich Frau F. wegen Veröffentlichung von Gelegenheiten zur
Unzucht (Art. 210 StGB) mit Fr. 800.--.

    Die Gebüsste verlangte gerichtliche Beurteilung, worauf sie durch
den Einzelrichter in Strafsachen des Bezirkes Zürich am 5. Juli 1984 von
Schuld und Strafe freigesprochen wurde.

    Gegen diesen Entscheid reichten die Staatsanwaltschaft des
Kantons Zürich und das Statthalteramt des Bezirkes Zürich kantonale
Nichtigkeitsbeschwerde ein, welche das Obergericht des Kantons Zürich am
11. Januar 1985 abwies.

    C.- Die Staatsanwaltschaft führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde
mit dem Begehren, der obergerichtliche Beschluss sei aufzuheben und die
Vorinstanz sei anzuweisen, Frau F. der Veröffentlichung von Gelegenheiten
zur Unzucht schuldig zu sprechen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Das Obergericht hält in seinem Beschluss fest, es sei unbestritten,
dass beim fraglichen Inserat die Tatbestandsmerkmale der Öffentlichkeit
und des auf Begünstigung der Unzucht gerichteten Vorsatzes gegeben
seien. Die Frage offenlassend, ob Art. 210 StGB überhaupt von einer die
Gewerbsunzucht ausübenden Person selbst erfüllt werden könne, führte es
aus, es ergebe sich aus den Materialien, dass der Gesetzgeber mit Art. 210
StGB nicht nur die Einschränkung der Werbung für die Prostitution bezweckt,
sondern auch das Schamgefühl des mit solcher Werbung Konfrontierten
habe schützen wollen. Das verklausuliert formulierte Inserat, das erst
nach Interpretation durch einen eingeweihten Leser als Veröffentlichung
von Gelegenheiten zur Unzucht erkennbar werde, könne unmöglich Anstoss
erregen oder das Schamgefühl des Lesers verletzen. Bei dem neutralen,
unverfänglichen Wortlaut würde eine Bestrafung nach Art. 210 StGB gegen
den wahren Sinn des Gesetzes verstossen.

    Gegen diese Auffassung opponiert die Beschwerdeführerin mit dem Hinweis
auf BGE 108 IV 174. Im übrigen könne höchstens ein besonders naiver Leser
den Zweck des Inserates nicht erfassen. Der Gesetzgeber habe gerade
die vorliegenden auffälligen und geballten Inserate für Massagesalons
in einer auch Kindern zugänglichen Tageszeitung verhindern wollen. Die
Werbung sei in casu denn auch als anstössig zu bezeichnen.

Erwägung 2

    2.- Zu der vom Obergericht offengelassenen Frage nach dem
möglichen Täterkreis hat das Bundesgericht in BGE 108 IV 174 eingehend
Stellung bezogen. Es ist dabei zum Schluss gelangt, dass Art. 210
StGB auch auf Personen anwendbar sei, die der eigenen Unzucht Vorschub
leisten. Stichhaltige Gründe, welche ein Abgehen von dieser Auffassung
nahelegen würden, sind nicht ersichtlich.

Erwägung 3

    3.- Welcher Sinn einer mündlichen oder schriftlichen Äusserung
beizulegen ist, beurteilt sich in aller Regel darnach, wie der unbefangene
Hörer oder Leser durchschnittlicher Intelligenz sie in guten Treuen
verstehen kann. Diese objektivistische Betrachtungsweise hat das
Bundesgericht im Rahmen verschiedener Straftatbestände angewendet, und
es hat entsprechend als Rechtsfrage frei geprüft, ob z.B. eine bestimmte
Äusserung ehrverletzend sei (BGE 105 IV 112 E. 2, 196 E. 2a u.a.m.),
ob ein Inserat die öffentliche Ankündigung einer zeitlich befristeten
Sondervergünstigung im Sinne der Ausverkaufsordnung enthalte (BGE 95 IV
158 E. 1), oder ob eine Anzeige gemäss Art. 13 lit. b UWG irreführend oder
unrichtig sei (BGE 106 IV 223 E. 4a, 94 IV 36 E. 1). Es besteht kein Grund,
bei Anwendung von Art. 210 StGB anders zu verfahren.

    Geht man aber solcherweise vor, unterliegt es keinem Zweifel, dass
das inkriminierte Inserat für sich und im Zusammenhang mit den übrigen
Anzeigen, unter welche es eingeordnet ist, nicht nur - wie die Vorinstanz
annahm - für den eingeweihten, sondern für jeden mit durchschnittlicher
Intelligenz und Lebenserfahrung bedachten Leser als Angebot einer Dirne
erkennbar war. Die Angabe von Adresse und Telefonnummer verbunden mit dem
Hinweis auf die Empfangszeiten bedurfte namentlich auch in dem Umfeld,
in welchem die Anzeige erschien, keiner besondern durch "Zuhilfenahme der
Phantasie" gestützten Interpretation, um dem Text einen Hinweis auf eine
Gelegenheit zur Unzucht zu entnehmen.

Erwägung 4

    4.- a) Die Vorinstanz folgert aus der Entwicklungsgeschichte des
Art. 210 StGB, es gehe bei dieser Bestimmung wie bei den Art. 206-209
StGB darum, die von der grundsätzlich erlaubten Prostitution ausgehenden
lästigen oder Anstoss erregenden Auswirkungen zu bekämpfen. Es sei
also die Veröffentlichung von Gelegenheiten zur Unzucht deswegen unter
Strafe gestellt worden, weil sie geeignet sei, Anstoss zu erregen
und das Sittlichkeitsgefühl des Lesers zu verletzen. Dass darin der
Sinn des Art. 210 StGB liege, könne auch aus heutiger Sicht nicht
zweifelhaft sein. Ein Verzicht auf das Erfordernis der Anstössigkeit der
Veröffentlichung würde zu einer Ausweitung der Strafbarkeit führen, die mit
der inzwischen erfolgten Lockerung der Anschauungen über Moral und Sitte
nicht vereinbar wäre. Zusammengefasst gelangt das Obergericht zum Schluss,
dass Art. 210 StGB einerseits nicht nur der Prostitution entgegenwirken,
sondern auch das Schamgefühl des einzelnen Lesers schützen wolle, und
dass er anderseits nur anwendbar sei, wenn die fragliche Veröffentlichung
beim Leser Ärgernis errege, d.h. sein Anstands- und Sittlichkeitsgefühl
verletze.

    b) Wie STRATENWERTH zu Recht bemerkt, ist die Schutzrichtung von
Art. 210 StGB wenig klar (BT II, Bern 1984, S. 57). Bei der Prüfung
dieser Frage ist davon auszugehen, dass nach eingehender Beratung in
den Kommissionen eine Strafbarkeit der heterosexuellen Prostitution im
Parlament nicht mehr zur Diskussion stand (s. EUGEN MEIER, Die Behandlung
der Prostitution im schweizerischen Strafrecht, Diss. Zürich 1948, S. 82,
90). Der Zweck der inkriminierten Bestimmung kann somit nicht darin
bestehen, die Gewerbsunzucht als solche zu bekämpfen und wenn möglich
zu verhindern (ebenso MEIER, aaO, S. 94/95). In der Zielrichtung von
Art. 210 StGB können lediglich gewisse unerwünschte Auswirkungen und
Begleitumstände liegen, zu deren Umschreibung zunächst die Materialien
heranzuziehen sind. Diese befassen sich mit der hier interessierenden
Frage jedoch nur am Rande und geben keine eindeutige Antwort.

    In seinem Bericht zum Vorentwurf von 1896 (2. Teil, 1901) reihte
STOOSS die Veröffentlichung von Gelegenheiten zur Unzucht unter die
Bestimmungen über die Verletzung und Gefährdung der öffentlichen
Schamhaftigkeit (S. 22). Der Artikel befand sich systematisch hinter
demjenigen über die unzüchtigen Schriften. STOOSS hielt wörtlich fest:
"Es sollen ... namentlich die Tagesblätter von Ankündigungen gereinigt
werden, die ein für jedermann verständliches Anerbieten zu Unzüchtigem
enthalten, so wenn sich Frauenzimmer unter Hinweis auf ihre Jugend oder
auf körperliche Vorzüge zu anscheinend unbedenklichen Dienstleistungen
bereit erklären (S. 29)." In den Erläuterungen zum Vorentwurf von 1908
führte ZÜRCHER aus, der Gesetzgeber habe es abgelehnt, die Prostitution
an sich für strafbar zu erklären; es könne sich also nur darum handeln,
diese in gewisse Schranken zu weisen; bei allen Verboten spiele die
Vermeidung öffentlichen Ärgernisses mit, letzteres verstanden im Sinne
der Verletzung des Anstands- und Sittlichkeitsgefühls als auch der Gefahr
einer Abstumpfung dieser Gefühle (S. 465 f.). An anderer Stelle erwähnte
er auch noch die "verführende Wirkung der Prostitution" (S. 469; s. dazu
unten E. 4c).

    Weil u.a. die Strafbarkeit der Prostitution zu ausführlichen
Diskussionen Anlass gab (vgl. MEIER, aaO, S. 73 ff.), blieb die
Detailberatung des damaligen Art. 263 in der 2. Expertenkommission eher
oberflächlich (vgl. Prot. 2. ExpKomm VII, S. 104-106). Man gab sich über
den genauen Gehalt der Bestimmung nicht klar und deutlich Rechenschaft,
was z.B. aus der abschliessenden Antwort Bundesrat Müllers auf eine
kritische Frage Langs hervorgeht, "regelmässig" werde es sich wohl um
das Vorschubleisten zugunsten Dritter handeln (aaO, S. 106).

    In der Botschaft des Bundesrates vom 23. Juli 1918 wird ausdrücklich
die Bekämpfung öffentlichen Ärgernisses in den Vordergrund gestellt und das
"Veröffentlichen" im übrigen sogar nur als Ergänzung der Kuppeleivergehen
kurz erwähnt (S. 71). Der deutschsprachige Berichterstatter der
Kommission führte vor dem Nationalrat aus, es sollten die stossenden Fälle
erfasst werden, die zu allgemeinem Ärgernis Anlass geben (Votum Seiler
Sten.Bull. NR 1929, S. 408). Auch der französischsprachige Referent
wies auf den Zielgedanken der "propreté publique" hin (Votum Logoz, aaO,
S. 414). Wenn er daneben noch die Einschränkung des "recrutement de
la prostitution" (Kundenwerbung) erwähnte, so ist nicht zu übersehen,
dass diese Blickrichtung zumindest in einem gewissen Widerspruch zur
Straflosigkeit der Gewerbsunzucht steht und auf deren Verhinderung abzielt
(s. unten E. 4c). Klarere Ausführungen zur Frage, ob das "Veröffentlichen
von Gelegenheiten zur Unzucht" schon an sich oder nur dann strafbar sein
soll, wenn es nach Form und Ausdruck Sitte oder Anstand verletzt, finden
sich in den Protokollen nicht.

    c) Zusammenfasssend ist festzuhalten, dass hinsichtlich der heute
zu untersuchenden Strafbestimmung immer wieder von "Ärgernis" oder
"Verletzung des Anstands- und Sittlichkeitsgefühls" die Rede ist. Nur in
zwei Bemerkungen wird einmal die verführende Wirkung der Gewerbsunzucht
erwähnt und das zweite Mal als Ziel die Einschränkung der Kundenwerbung
genannt (s.o.). Beide Hinweise vermögen jedoch nicht zu überzeugen,
da die Absicht eines wirkungsvollen Schutzes vor den "Verlockungen"
der Prostitution konsequenterweise das Verbot der letzteren hätte nach
sich ziehen müssen. Im Grunde genommen laufen beide Äusserungen darauf
hinaus, die - ausdrücklich straffreie - Gewerbsunzucht in ihrer Ausübung
einzuschränken, ohne dass näher begründet würde, welches Rechtsgut damit
konkret geschützt werden sollte.

    d) Die regelmässige Berufung auf Sitte und Anstand lässt zwei
Auslegungen zu: Zum einen ist es denkbar, dass die Veröffentlichung von
Gelegenheiten zur Unzucht grundsätzlich als Anstoss erregend qualifiziert
wurde; es ist andererseits aber auch möglich, dass Tathandlungen dieser Art
nur dann als strafwürdig erachtet wurden, wenn sie konkret geeignet sind,
allgemein das Anstands- und Sittlichkeitsgefühl zu verletzen. Eine Antwort
auf die Frage, welche Variante der Ansicht des historischen Gesetzgebers
entspricht, lässt sich den Materialien nicht eindeutig entnehmen. Schon
1895 stellte PROF. VON LILIENTHAL fest, bei der interessierenden
Strafnorm handle es sich um "keine sehr praktische Bestimmung", mit der
"erheblich über das Ziel hinaus geschossen worden" sei, "um so mehr als
ein öffentlicher Hinweis auf Gelegenheiten zur Unzucht wohl in allen
wirklich bedenklichen Fällen sich als unzüchtige Schrift darstellen wird"
(ZStrW 15/1895, S. 335). Es erscheint denn auch als gerechtfertigt, mit der
Vorinstanz die Strafbarkeit auf jene Fälle zu beschränken, in denen von
einer "anstössigen und das Schamgefühl verletzenden" Annonce gesprochen
werden muss. Zu Recht präzisiert das Obergericht, dass damit nicht nur
die im Sinne von Art. 204 StGB unzüchtigen Inserate erfasst werden;
aber es bedarf doch immerhin "einer gewissen Intensität des Ausdrucks,
damit die verpönte Wirkung erreicht wird".

    Anders ausgedrückt muss durch den Wortlaut und/oder die (z.B. durch
Abbildungen ergänzte) Aufmachung der Inhalt des Angebotes unzweideutig
mitgeteilt werden. Dies ist im von STOOSS erwähnten Beispiel
der Fall, in welchem sich eine Frau zu anscheinend unbedenklichen
Dienstleistungen bereit erklärt oder um ein Darlehen nachsucht, dabei
aber in eindeutiger Absicht besondere, mit dem übrigen Annoncentext in
keinem Zusammenhang stehende körperliche Vorzüge (gutes Aussehen, Figur
etc.) anpreist. Unverblümt ist die Aufforderung auch dann, wenn ohne nähere
Einzelheiten dem "solventen" oder "grosszügigen" Herrn ein Zusammensein
"in einer entspannten und diskreten Umgebung" versprochen wird (s. BGE
108 IV 173). In derartigen Fällen ist die Zielrichtung des Inserates
bzw. der Kleinanzeige schon aus der Formulierung mit einer derartigen
Deutlichkeit herauszulesen, die geeignet sein kann, beim Leser Anstoss
zu erregen. Dasselbe gilt auch dann, wenn die Annonce mit entsprechenden
Bildern (die noch nicht unzüchtig zu sein brauchen) versehen ist oder
gar eine Aufzählung der angebotenen Sexualpraktiken enthält. In diesem
Sinne ist die im erwähnten Bundesgerichtsentscheid begründete Praxis
zu präzisieren.

    e) Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass das angefochtene
Urteil nicht zu beanstanden ist. Das inkriminierte Inserat an sich ist
neutral, diskret und beim durchschnittlichen Betrachter nicht geeignet,
Ärgernis zu erregen. Auch wenn es entgegen der Ansicht der Vorinstanz kaum
der Phantasie bedarf, um die Bedeutung des Angebotes zu erkennen (s. oben
E. 3, so wird durch die blosse Angabe von Name, Adresse, Telefonnummer
und Empfangszeiten die Grenze von Sitte und Anstand nicht überschritten,
da nicht die geringste Beifügung die Absicht der Beschwerdegegnerin
verdeutlicht. Auf die Ansicht des besonders empfindsamen Bürgers kann es
hier nicht ankommen (BGE 96 IV 69; vgl. auch BGE 104 IV 88 unten).

    f) Wenn aber einer einzelnen derartigen Anzeige kein strafwürdiger
Charakter zukommt, dann ist nicht zu sehen, wieso sie diesen in einer
Rubrik mit analogen Inseraten erhalten sollte. Zwar mag eine solche Ballung
als aufdringlich erscheinen; an der rechtlichen Beurteilung der einzelnen
Anzeige ändert dies jedoch nichts. Wenn auch der Zweck der Annonce in einem
solchen Umfeld leichter erkennbar wird, bleiben Text und Aufmachung doch
neutral. Schliesslich ist der Hinweis der Beschwerdeführerin, wonach das
Inserat in einer Kindern zugänglichen Tageszeitung erschien, unbeachtlich,
da nicht zu sehen ist, wie Kinder durch derart neutrale Annoncen gefährdet
oder auch nur belästigt werden könnten.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft wird abgewiesen.