Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 111 IV 127



111 IV 127

33. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 19. November 1985 i.S. H.
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 139 Ziff. 3 StGB. Lebensgefahr des Opfers.

    Raub unter Einsatz scharf geladener Schusswaffen (Bestätigung der
Rechtsprechung).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- In tatsächlicher Hinsicht ist von folgendem unbestrittenen
Sachverhalt auszugehen: H. betrat am 29. November 1984 mit seiner in
der Jackentasche versteckten Dienstpistole ein Lebensmittelgeschäft in
Basel in der Absicht, einen Raubüberfall zu begehen. Als der Ladeninhaber
den Betrag für die von H. behändigten Zigaretten an der Kasse einfordern
wollte, zog dieser die Pistole und spannte den Hahn. Er richtete die mit
acht Schuss geladene Waffe aus kurzer Distanz auf den Ladeninhaber und
verlangte von ihm die Herausgabe sämtlichen Notengeldes. Nach Erhalt von
ca. Fr. 2000.-- zwang er das Opfer mit vorgehaltener Pistole, sich auf
den Boden zu legen, worauf er flüchtete. Während des Überfalls blieb die
Waffe gesichert und es wurde daran keine Ladebewegung ausgeführt.

    Mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde wird geltend gemacht, der
vorgenannte Sachverhalt sei unter Art. 139 Ziff. 1bis StGB (Mitführen
einer Schusswaffe), statt unter den von der Vorinstanz in Anwendung
gebrachten Art. 139 Ziff. 3 StGB (Lebensgefahr des Opfers) zu subsumieren;
die entsprechende bundesgerichtliche Rechtsprechung sei angesichts der
hiezu publizierten Kritik seitens der Lehre zu überprüfen.

Erwägung 2

    2.- In seiner Rechtsprechung zum früheren Raubtatbestand des Art. 139
Ziff. 2 Abs. 2 StGB bejahte das Bundesgericht den Qualifikationsgrund
der Bedrohung mit dem Tode, wenn der Täter die Todesdrohung objektiv
unmittelbar verwirklichen konnte und das Opfer nach den Umständen,
insbesondere nach der Art der Drohung, tatsächlich einer erheblichen,
akuten Lebensgefahr ausgesetzt war. Eine solche Todesgefahr wurde
angenommen, wenn der Täter beim Raub eine scharf geladene Waffe auf
kurze Distanz auf das Opfer richtete, auch wenn die Waffe gesichert oder
nicht durchgeladen war (BGE 108 IV 18, 107 IV 110, 105 IV 300, 102 IV 18
mit Verweisungen). Am 1. Oktober 1982 trat der revidierte Art. 139 StGB
in Kraft, der für den qualifizierten Raub nicht mehr das Kriterium der
"Bedrohung mit dem Tode", sondern als neues Qualifikationsmerkmal die
Verursachung einer konkreten, unmittelbaren "Lebensgefahr" des Opfers
enthält (Art. 139 Ziff. 3 StGB). Mit Urteil vom 26. Mai 1983 legte das
Bundesgericht die Neufassung des qualifizierten Tatbestandes gemäss der
bisherigen Rechtsprechung zu Art. 139 Ziff. 2 Abs. 2 StGB aus, der wie
der revidierte Art. 139 Ziff. 3 StGB eine Mindeststrafe von fünf Jahren
Zuchthaus androhte (BGE 109 IV 106). Diese Praxis wurde in der Folge
mehrmals in nicht veröffentlichten Entscheiden bestätigt.

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer zielt unter Hinweis auf die zwischenzeitlich
publizierte Kritik von Schultz und neuere Meinungen in der Doktrin auf
eine Änderung der mit BGE 109 IV 106 begründeten Praxis.

    a) Was den sinngemässen Vorwurf betrifft, das Bundesgericht habe sich
mit dem genannten Entscheid über den "wirklichen" Willen der seinerzeitigen
Expertenkommission hinweggesetzt, ist zunächst festzuhalten, dass -
selbst wenn die Protokolle der Kommissionsberatungen klare und konkrete
Vorschläge zur Begriffsbestimmung der "Lebensgefahr" enthalten hätten -
diese für den zur Diskussion stehenden Bundesgerichtsentscheid nicht allein
massgebend sein konnten. Die erwähnten Protokolle lassen indessen eine
konkrete Umschreibung des Inhalts der neuen Qualifikation vermissen;
was eine "echte" Lebensgefahr für das Opfer (Gerber, Protokoll S.
220; Noll, Protokoll S. 221) mit Bezug auf den damals wie heute im
Mittelpunkt des Interesses stehenden Raub unter Einsatz von Schusswaffen
im einzelnen ausmachen sollte, blieb offen. Entgegen der Behauptung des
Beschwerdeführers liegen auch seitens des Gesetzgebers keine konkreten
Hinweise dafür vor, dass er das neue Qualifikationsmerkmal der Lebensgefahr
gegenüber der bundesgerichtlichen Auslegung des früheren Gesetzestextes
enger begrenzen wollte (vgl. BGE 109 IV 109 E. 2b).

    b) Wohl wird in einem Teil der Lehre die Auffassung vertreten, die
Lebensgefahr des Opfers sei beispielsweise bei der "Bedrohung mit einer
entsicherten Waffe zu bejahen (STRATENWERTH, BT I, 3. Aufl. S. 219)",
bzw. die neue Fassung habe "allenfalls insofern eine kleine Einengung
gebracht, als nicht schon das Drohen mit der geladenen, sondern erst
das Drohen mit der geladenen und entsicherten Waffe für die Bejahung der
Lebensgefahr genügt", wobei eine solche (allfällige) Verschiebung gleich
anschliessend als eine "geringfügige und zudem zweifelhafte" bezeichnet
wird (ARZT, ZStrR 100/1983 S. 269).

    Der Versuch, die Grenze zwischen der abstrakten und konkreten Lebens-
bzw. Todesgefahr mit dem Kriterium der Waffensicherung zu ziehen,
lässt jedoch ausser acht, dass eine geladene Waffe in der Regel in
Sekundenschnelle und ohne Mühe entsichert oder durchgeladen werden kann
(BGE 109 IV 109, 107 IV 112, 105 IV 302 E. 2). Auch können Aufregung,
unvorhergesehene Reaktion des Opfers, Eingreifen eines Dritten usw. gerade
bei Gelegenheitsdelinquenten zu einer plötzlichen Fehlreaktion und damit
zur Schussabgabe führen, und zwar selbst dann, wenn der Täter vorher
beabsichtigt hatte, von der Waffe keinen Gebrauch zu machen. Dazu kommt -
ebenso wie bei der Frage der Verwirklichungsbereitschaft (vgl. BGE 105
IV 302 E. 2) - die praktische Überlegung, dass im Falle der Bestreitung
schwer nachzuweisen wäre, ob die Waffe tatsächlich gesichert war (BGE
109 IV 109). Die bezüglich der Waffensicherung geäusserten Lehrmeinungen
vermögen diese Erfahrungstatsachen nicht zu entkräften und sind daher
nicht geeignet, das Bundesgericht zur Änderung seiner mit BGE 109 IV 106
begründeten Praxis zu Art. 139 Ziff. 3 revStGB zu veranlassen.

    c) Zu einer Änderung dieser Praxis besteht auch aus kriminalpolitischer
Sicht kein Grund. Die in der Lehre (vgl. SCHULTZ in ZStrR 101/1984
S. 120, ZBJV 121 S. 42/43) gezogenen Vergleiche zum deutschen Recht,
welches bereits für das Mitführen einer Schusswaffe ein Strafminimum
von fünf Jahren Freiheitsentzug vorsieht (§ 250 Abs. 1 Ziff. 1 dStGB)
und dabei genügen lässt, dass die Waffe "einsatzbereit und tauglich
oder doch jederzeit einsatzfähig zu machen" ist, überzeugen nicht
(SCHÖNKE/SCHRÖDER/ESER, 21. Aufl., Rn 4 S. 1482/83). Die Parallele zu § 250
Abs. 1 Ziff. 3 dStGB, der ebenfalls ein Strafminimum von 5 Jahren androht,
wenn der Täter "durch die Tat einen anderen in die Gefahr des Todes oder
einer schweren Körperverletzung bringt", ist insoweit nicht stichhaltig,
als diese Bestimmung als Schutzgut einen weiteren Personenkreis
erfasst. Art. 139 Ziff. 3 revStGB nennt ausdrücklich die Lebensgefahr des
"Opfers" und will damit der speziellen Spannungssituation zwischen dem
Täter und denjenigen Personen, bei denen die Wegnahme erzwungen werden
soll, bzw. deren besonders intensiven Gefährdung, Rechnung tragen. Bei §
250 Abs. 1 Ziff. 3 dStGB dagegen braucht der gefährdete andere weder der
Beraubte selbst noch eine Person zu sein, von der Widerstand geleistet
oder erwartet wird; vielmehr genügt auch die Gefährdung Unbeteiligter
(z.B. bei der Abwehr Dritter oder die bei Flucht des Täters mit seinem
Auto für Passanten entstehende Gefährdung; SCHÖNKE/SCHRÖDER/ESER, aaO,
Rn 22/23 S. 1485).

    Was in der Beschwerde - auch im Hinblick auf die zum neuen Art. 139
Ziff. 3 StGB geäusserten Lehrmeinungen - vorgetragen wird, enthält
demnach nichts Stichhaltiges oder wesentlich Neues, so dass kein Grund
zur Praxisänderung besteht.