Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 111 IV 113



111 IV 113

29. Urteil des Kassationshofes vom 13. Dezember 1985 i.S. M. gegen
Generalprokurator des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 32 StGB. Waffengebrauch der Polizei.

    1. Bei der Frage der Rechtfertigung durch Amtspflicht ist neben
dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit auch das entsprechende kantonale
Dienstrecht zu beachten (E. 2).

    2. Ob die Körperverletzungen durch die Amtspflicht im Sinne des
einschlägigen Dienstreglements gerechtfertigt sind, ist eine vom
Bundesgericht frei zu überprüfende Rechtsfrage (E. 4).

    3. Der Verdacht, ein Fahrzeug könnte gestohlen oder entwendet sein,
rechtfertigt es nicht, den bei der Identitätskontrolle flüchtenden Lenker
durch Schüsse auf den Führersitzbereich vorsätzlich der Gefahr erheblicher
Körperverletzungen auszusetzen (E. 5).

Sachverhalt

    A.- Am 29. Februar 1984 gegen 11 Uhr kontrollierte M., Gefreiter
der Kantonspolizei, in Ausübung seiner dienstlichen Funktion vor der
in jenem Zeitpunkt nicht benützbaren Brücke in Büren a.A. einen ihm
verdächtig erscheinenden Lenker eines Personenwagens Marke Audi quattro
mit Genfer Schildern. Der berndeutsch sprechende Lenker des Fahrzeuges
konnte die Wagenpapiere nicht finden; er erklärte schliesslich, er habe
den Ausweis in Genf gelassen. M. verlangte dann irgendeinen Beleg über
die Identität (Identitätskarte, Brief usw.) und versuchte Funkverbindung
mit der Einsatzzentrale Biel herzustellen, um den verdächtigen Wagen
überprüfen zu lassen. Der Lenker des Genfer Autos, der bisher ruhig nach
dem gewünschten Papier gesucht hatte, gab nun plötzlich Gas und fuhr
weg. Nach einem Warnruf gab M. aus seiner Dienstpistole vier Schüsse auf
das rechte Hinterrad ab. Der Audi setzte die Flucht fort. M. verfolgte
ihn mit einem requirierten Fahrzeug. Auch eine zweite Serie von Schüssen
auf die Räder zeigte keine Wirkung. Schliesslich kam es zu einer dritten
Schussabgabe von M., als der flüchtende Wagen vor dem Polizeibeamten eine
Quartierstrasse überquerte. Jetzt zielte M. nicht mehr auf die Pneus,
sondern auf den unteren Teil des Fahrzeuges im Bereich der Fahrertüre. Er
rechnete damit, den Fahrer zu treffen, und wollte ihn so zum Anhalten
zwingen.

    H., der Lenker des Audi quattro, erlitt Schussverletzungen an
den Armen, seine Begleiterin, Frau W., wurde am linken Oberschenkel
getroffen. Nach dem Arztbericht handelt es sich bei H. um schwere
Verletzungen mit Invaliditätsfolgen (Beeinträchtigung der Beweglichkeit
der Arme).

    B.- M. wurde im Appellationsverfahren vom Obergericht des Kantons
Bern der vorsätzlichen einfachen Körperverletzung mit voraussehbarer
schwerer Folge (zum Nachteil des H.) gemäss Art. 123 Ziff. 2 StGB sowie
der vorsätzlichen einfachen Körperverletzung mit Waffe (zum Nachteil
der Frau W.) gemäss Art. 123 Ziff. 1 Abs. 2 StGB schuldig erklärt und
zu drei Monaten Gefängnis mit bedingtem Strafvollzug (Probezeit 2 Jahre)
verurteilt.

    C.- M. führt gegen diesen Entscheid des Obergerichts
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das angefochtene Urteil sei
aufzuheben, und die Sache sei zur Freisprechung an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- In tatsächlicher Hinsicht steht fest, dass M. durch die dritte
Serie von Schüssen, die er zur Verhinderung der Flucht des Audi abgab,
die Körperverletzungen verursachte, und dass in dieser Phase der Vorsatz
des Beschwerdeführers die Verursachung einfacher Körperverletzungen
mitumfasste. Auch die Voraussehbarkeit der eingetretenen schweren
Verletzungen von H. im Sinne von Art. 123 Ziff. 2 StGB ist unbestritten.

    Die Nichtigkeitsbeschwerde richtet sich ausschliesslich gegen die
rechtliche Folgerung der Vorinstanz, bei der gegebenen Sachlage sei der
Schusswaffengebrauch unangemessen gewesen, der Rechtfertigungsgrund der
Amtspflicht liege daher nicht vor.

Erwägung 2

    2.- Inwiefern die Amtspflicht eines Polizeibeamten den
Schusswaffengebrauch und die dadurch verursachten Verletzungen von
Rechtsgütern zu rechtfertigen vermag (Art. 32 StGB), wird regelmässig
in speziellen Bestimmungen (Dienstreglement, Verordnung, Polizeigesetz)
genauer umschrieben (REHBERG, in Kriminalistik 1976 S. 563 ff., 1977 S. 35,
81, 128; TH. HUG, Schusswaffengebrauch durch die Polizei, Diss. Zürich
1980, S. 28; HARALD HUBER, in Mélanges Grisel S. 442 ff.). Im vorliegenden
Fall ist das Obergericht richtigerweise von der Vorschrift ausgegangen,
welche für das bernische Polizeikorps den Waffengebrauch regelt
(Dienstreglement betreffend den Waffengebrauch für das Polizeikorps des
Kantons Bern vom 2. November 1964 mit Änderung vom 1. Mai 1981, Art. 4):

    "Die Polizei hat, wenn andere verfügbare Mittel nicht ausreichen, in
   einer den Umständen angemessenen Weise von der Waffe Gebrauch zu machen,

    1. wenn sie mit einem gefährlichen Angriff unmittelbar bedroht oder
   gefährlich angegriffen wird,

    2. wenn andere Personen mit einem gefährlichen Angriff unmittelbar
   bedroht oder gefährlich angegriffen werden,

    3. wenn die dienstlichen Aufgaben nicht anders als durch

    Waffengebrauch auszuführen sind, insbesondere

    a) wenn Personen, welche ein schweres Verbrechen oder ein schweres

    Vergehen begangen haben oder eines solchen dringend verdächtigt sind,
   sich der Festnahme oder einer bereits vollzogenen Verhaftung durch
   Flucht zu entziehen versuchen,

    b) wenn sie aufgrund erhaltener Informationen oder aufgrund
   persönlicher Feststellungen annehmen darf oder muss, dass Personen für
   andere eine unmittelbar drohende Gefahr an Leib und Leben darstellen und
   sich diese der Festnahme oder einer bereits vollzogenen Verhaftung durch

    Flucht zu entziehen versuchen,

    c) zur Befreiung von Geiseln,

    d) zur Verhinderung eines unmittelbar drohenden schweren Verbrechens
   oder schweren Vergehens an Einrichtungen, die der Allgemeinheit
   dienen oder die für die Allgemeinheit wegen ihrer Verletzlichkeit
   eine besondere

    Gefahr bilden."

    Diese Formulierung entspricht der von der Konferenz der kantonalen
Polizeikommandanten gutgeheissenen Muster-Dienstanweisung über den Gebrauch
der Schusswaffe durch die Polizei von 1976 (HUG, aaO, S. 78 f. sowie
Anhang 4). Die Frage der Rechtfertigung durch Amtspflicht ist unter
Beachtung der zitierten Regelung zu beurteilen, auch wenn grundsätzlich
die Angemessenheit von Handlungen kantonaler Beamter unabhängig von
kantonalen Vorschriften zu prüfen ist (BGE 94 IV 8, REHBERG, aaO, S. 566).

Erwägung 3

    3.- Von den möglichen Gründen zur Rechtfertigung des
Schusswaffengebrauchs kommt im konkreten Fall nach den gesamten Umständen
lediglich Ziff. 3 in Frage und zwar von den genauer umschriebenen typischen
Beispielen lit. a, eventuell lit. b. Eine Notwehr- oder Notstandsituation
(Ziff. 1/2) war in keiner Phase der Verfolgung vorhanden; auch die
besonderen Voraussetzungen von Ziff. 3 lit. c und d fallen ausser Betracht.

Erwägung 4

    4.- Ob die Körperverletzungen durch die Amtspflicht im Sinne von Art. 4
Ziff. 3 lit. a oder b des einschlägigen Dienstreglementes gerechtfertigt
sind, ist eine Rechtsfrage, deren Entscheidung auf Nichtigkeitsbeschwerde
vom Bundesgericht frei überprüft wird. Es ist dabei an die tatsächlichen
Feststellungen der Vorinstanz gebunden, nicht aber an deren Folgerungen
hinsichtlich der Frage, ob die festgestellten Umstände die Voraussetzungen
des Schusswaffengebrauchs gemäss lit. a oder b erfüllen und einen
rechtfertigenden Anlass zu einer die Körperverletzung zumindest in
Kauf nehmenden Schussabgabe bilden konnten. Entgegen der Auffassung des
Generalprokurators in seiner Vernehmlassung ist daher in diesem Verfahren
auf die Frage einzutreten, ob die festgestellten Tatsachen den konkreten
Schusswaffengebrauch als durch die Amtspflicht gedeckt erscheinen lassen.

Erwägung 5

    5.- Der Beschwerdeführer kannte den Lenker des Audi mit Genfer
Kennzeichen und dessen Begleiterin nicht. Er besass auch keine
Informationen, welche ihn zur Annahme berechtigten, er habe eine Person vor
sich, welche ein schweres Verbrechen oder ein schweres Vergehen begangen
habe oder eines solchen dringend verdächtigt sei. Schliesslich fehlte
auch jedes einigermassen schlüssige Indiz dafür, dass die Insassen des
flüchtenden Audi für andere eine unmittelbar drohende Gefahr an Leib und
Leben darstellen könnten; insbesondere besassen H. und seine Begleiterin,
soweit der Beschwerdeführer dies feststellen konnte, keine Waffen.

    Der Beschwerdeführer traf den Entschluss zum Schusswaffengebrauch
ausschliesslich aufgrund der persönlichen Feststellungen bei der konkreten
Begegnung: Der Berner Mundart sprechende Lenker des Genfer Sportwagens,
der dem Polizisten nicht recht in dieses Fahrzeug zu passen schien, gab
offenbar den Anlass zur Überprüfung der Identität. Das Fehlen irgendwelcher
Ausweispapiere war dann ein handfester Grund zum Verdacht, das Fahrzeug
könnte gestohlen oder entwendet sein. Die Flucht und deren Fortsetzung
trotz Warnung, wiederholter Schussabgabe und Behinderung durch andere
Fahrzeuge bestätigte den Verdacht, dass mit dem Sportwagen und seinem
Lenker etwas nicht in Ordnung sei.

    Die gezielte Schussabgabe auf die Pneus steht hier nicht in Frage
und braucht auf ihre Berechtigung und Angemessenheit nicht untersucht
zu werden. Es geht in diesem Verfahren ausschliesslich um die letzte
Serie von Schüssen, welche nicht auf die Räder, sondern auf das Fahrzeug
als solches gerichtet war, vor allem auch im Bereich des Führersitzes,
und - dem Eventualvorsatz entsprechend - erhebliche Körperverletzungen
verursachte. Im Zeitpunkt dieser Schüsse wusste der Beschwerdeführer über
die Insassen des Audi nicht mehr als am Anfang der Begegnung. Dazu kam
die Feststellung eines verbissenen Fluchtwillens. Dass ein Fahrer, der
sich zur Flucht entschliesst, um der polizeilichen Kontrolle zu entkommen
(z.B. wegen Angetrunkenheit, Fehlen eines Führerausweises, Entwendung des
Fahrzeuges, Entweichung aus einer Erziehungs- oder Strafanstalt usw.), die
Flucht nicht aufgibt, auch wenn (erfolglos) auf sein Fahrzeug geschossen
wird, dürfte verhältnismässig häufig sein. Die Intensität des Fluchtwillens
hängt vorwiegend von den persönlichen Eigenschaften des Lenkers ab, nicht
von der Schwere der zu verbergenden Verfehlung. Es entwickelt sich in
solchen Fällen eine Art Zweikampf zwischen Verfolger und Verfolgtem, wobei
weniger vernunftmässige Überlegungen als instinktive, durch "sportlichen"
Ehrgeiz und Krimi-Szenen geprägte Reaktionen das Verhalten bestimmen. Auf
jeden Fall darf nicht - ohne weitere gewichtige Anhaltspunkte - aus der
blossen Tatsache des Wegfahrens oder der hartnäckigen Fortsetzung einer
einmal begonnenen, zuerst erfolgreichen Flucht auf schwere Delikte oder
auf besondere Gefährlichkeit des Flüchtenden geschlossen werden (vgl. dazu
REHBERG, aaO, 1977 S. 130 f.).

    Im vorliegenden Fall konnte der Beschwerdeführer die Unrechtmässigkeit
des Fahrzeug-Besitzes als höchstwahrscheinlich annehmen. Für andere Delikte
fehlte jeder konkrete Hinweis. Die Wahrscheinlichkeit eines Auto-Diebstahls
verbunden mit der Hartnäckigkeit der Flucht gab dem Beschwerdeführer
aber keinen Grund zur Annahme, der mutmassliche Rechtsbrecher habe ein so
schweres Verbrechen oder Vergehen begangen, dass er mit allen Mitteln -
selbst mit dem Risiko einer schweren Körperverletzung oder gar Tötung
- an der Flucht gehindert werden müsse. Der sehr gefährliche Einsatz
der Schusswaffe bei der dritten Serie war nach den konkreten Umständen
offensichtlich unverhältnismässig.

    Würde man der Argumentation des Beschwerdeführers folgen, dann wären
stets, wenn ein Fahrzeuglenker sich der Identitätskontrolle zu entziehen
versucht und die Flucht auch nach Schüssen gegen die Pneus nicht aufgibt,
ohne weiteres Schüsse gegen den Fahrer zulässig mit dem Ziel, durch
Körperverletzung die Weiterfahrt zu hindern. Selbst wenn der Verdacht eines
schweren Deliktes vorliegt, muss der Gebrauch der Schusswaffe stets den
Umständen angemessen, d.h. verhältnismässig sein. Auch die in Ziff. 3 (des
zitierten Art. 4 des Berner Dienstreglementes) enthaltene Generalklausel,
wonach Waffengebrauch erlaubt ist, wenn dienstliche Aufgaben nicht anders
erfüllt werden können (Einleitungssatz), gilt selbstverständlich nur
unter dem strikten Gebot der Verhältnismässigkeit. Das Risiko erheblicher
Körperverletzungen steht beispielsweise in einem Missverhältnis zum
Interesse an der raschen Abklärung des Verdachts von Vermögensdelikten, die
ohne Gewalt oder Drohung erfolgten. Auch das Interesse an der Festnahme
eines entwichenen Strafgefangenen, der unbewaffnet ist und nicht als
gefährlich erscheint, wird in der Regel einen Schusswaffengebrauch mit
Gefahr für Leib und Leben (des Betroffenen oder anderer Personen) nicht
rechtfertigen. Lässt sich das Risiko schwerer Körperverletzungen praktisch
ausschliessen (z.B. gezielte Schüsse auf Pneus), so dürfte der Einsatz der
Schusswaffe auch bei blossen Vermögensdelikten eher zu verantworten sein.

    Der angefochtene Entscheid des Obergerichtes hat die Kriterien
des polizeilichen Schusswaffengebrauchs in zutreffender Weise auf den
konkreten Fall zur Anwendung gebracht und dabei Art. 32 StGB nicht
verletzt. Überdies wurde bei der Strafzumessung den Besonderheiten
der Situation im Rahmen von Art. 64/65 StGB sehr weitgehend Rechnung
getragen. Die Nichtigkeitsbeschwerde erweist sich als unbegründet.