Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 111 IV 100



111 IV 100

25. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 19. April 1985 i.S. G.
gegen Generalprokurator des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG. Schwerer Fall bei Drogengemengen.

    Reicht eine gestreckte Betäubungsmittelmenge für eine Anzahl üblicher
Einzeldosen aus, mit der viele Menschen während eines die Gefahr
einer Abhängigkeit schaffenden Zeitraums versorgt werden können, ist
unabhängig vom Reinheitsgrad ein schwerer Fall anzunehmen (Präzisierung
der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Anfangs Februar 1983 gelangte M., der für einen andern ein
Betäubungsmittelgeschäft durchführte, an G. mit dem Ersuchen, ihm bei einer
Herointransaktion behilflich zu sein. Er stellte ihm als Gegenleistung Fr.
100.-- und etwas Kokain in Aussicht. G. sagte zu und zog einen Dritten
als Chauffeur bei. Am 15. Februar 1983 nahm er in Luzern von einer
Kurierin, die den Stoff von Italien gebracht hatte, ein Paket mit 99,7 g
Heroin entgegen, transportierte dieses nach Bern und übergab es daselbst
abmachungsgemäss M. Kurz darauf wurde G. verhaftet, wobei er noch 12,2 g
Heroin auf sich trug, die ihm M. zugesteckt hatte, damit er sie an einen
gewissen P. weitergebe. Die gesamthaft beschlagnahmte Drogenmenge von
99,7 g enthielt zwischen 7,6 und 8,3 Prozent bzw. max. 7,7 g reines Heroin.

    B.- Das Strafamtsgericht Bern sprach G. am 3. Februar 1984 der schweren
Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz (BetmG) schuldig und
verurteilte ihn wegen dieser und anderer Widerhandlungen gegen das genannte
Gesetz zu 17 Monaten Gefängnis, abzüglich 43 Tage Untersuchungshaft, und
zur Rückerstattung des unrechtmässigen Gewinns von Fr. 100.-- an den Staat.

    Am 28. Juni 1984 sprach das Obergericht des Kantons Bern G. im
vorgenannten Fall des vollendeten Versuchs einer schweren Widerhandlung
gegen das BetmG schuldig und bestätigte die von der ersten Instanz
ausgesprochene Strafe.

    C.- G. führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des
Obergerichts sei hinsichtlich des auf Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG und
Art. 22 StGB gestützten Schuldspruchs sowie der Strafzumessung und der
Verweigerung des bedingten Strafvollzugs aufzuheben und die Sache sei zu
neuer Entscheidung zurückzuweisen.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab

Auszug aus den Erwägungen:

                  aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Das Obergericht begründete seinen Schuldspruch nach Art.
19 Ziff. 2 lit. a BetmG in Verbindung mit Art. 22 StGB (vollendeter
Versuch einer schweren Widerhandlung) im wesentlichen mit der These, der
Tatbestand des schweren Falles sei bei 7,7 g reinem Heroin in objektiver
Hinsicht nicht erfüllt, da BGE 109 IV 143 diesbezüglich die Grenze bei 12
g festsetze. Hingegen habe sich der Vorsatz des Beschwerdeführers nicht
auf stark überdurchschnittlich gestrecktes, sondern auf handelsübliches
Heroin bezogen, wovon 99,7 g zweifellos einen Reingehalt von über 12 g
ergeben hätten.

    Zur Beurteilung steht somit, ob der Handel mit mehr als 12 g
gestrecktem Heroin, dessen Reingehalt aber weniger als 12 g beträgt,
als schwerer Fall unter Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG zu subsumieren
sei, mit andern Worten: welche Bedeutung dem Reinheitsgrad gestreckter
Betäubungsmittelmengen zukommt.

Erwägung 2

    2.- Das Bundesgericht erklärte in BGE 109 IV 145, zur Gefährdung der
Gesundheit vieler Menschen (zwanzig Personen) genügten 12 g Heroin, 18 g
Kokain oder 4 kg Haschisch. Diese Gewichtsangaben betrafen Mengen reinen
Drogenwirkstoffes. Da Kokain und insbesondere Heroin in der Praxis aber
kaum in reiner Form, sondern zumeist als Gemenge in den Verkehr gelangen,
bedarf dieser Bundesgerichtsentscheid einer Präzisierung.

    a) Die eigentlichen Straftatbestände (Widerhandlungen gegen das BetmG)
sind in Art. 19 Ziff. 1 BetmG umschrieben. Dass der Beschwerdeführer
bei einer Herointransaktion half, indem er den Stoff entgegennahm und
transportierte, ist unbestritten. Zumindest einer der Tatbestände von
Art. 19 Ziff. 1 (Abs. 3 "befördert") BetmG ist somit erfüllt, und zwar
handelt es sich nicht um einen Versuch, sondern um das vollendete Delikt
der Beförderung von Betäubungsmitteln.

    b) Umstritten ist, ob der Qualifikationsgrund des schweren Falles
zur Anwendung kommen kann.

    Nach den Feststellungen der Vorinstanz ist in tatsächlicher Hinsicht
davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer die transportierte Stoffmenge
- rund 100 g - kannte, aber nicht wusste, dass es sich um stark verdünnte
Ware handelte, deren Reingehalt an Heroin-Hydrochlorid nur 7,7 g ausmachte.

    Von den drei Beispielen, die als Richtlinie für den Begriff des
schweren Falles in Ziff. 2 von Art. 19 BetmG erwähnt werden, kommt für
den vorliegenden Sachverhalt nur lit. a in Betracht. Danach liegt ein
schwerer Fall insbesondere vor, "wenn der Täter weiss oder annehmen muss,
dass sich die Widerhandlung auf eine Menge von Betäubungsmitteln bezieht,
welche die Gesundheit vieler Menschen in Gefahr bringen kann". Hiermit
hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass die Stoffmenge die
Grundlage für die Annahme eines schweren Falles sein kann. Weil sich die
Bestimmung der als Qualifikationsgrund in Betracht fallenden Menge nicht
generell für alle Betäubungsmittel mit einer Gewichts- oder Volumenangabe
festlegen lässt, wird vom Gesetz als massgebend bezeichnet, ob die
betroffene Betäubungsmittelmenge ausreichen könnte, um die Gesundheit
vieler Menschen in Gefahr zu bringen. Mit dieser Umschreibung des die
Qualifikation als schwerer Fall begründenden Gefährdungspotentials wird
nicht die konkrete Verteilung und Verwendung des Stoffes erfasst, sondern
das aus der Stoffmenge sich ergebende abstrakte Risiko. Auch wenn in einem
konkreten Fall eine für die gesundheitliche Gefährdung vieler Menschen
ausreichende Stoffmenge nachgewiesenermassen nur an einen einzelnen oder
an wenige Drogenkonsumenten geht, so ist der in der grossen Menge liegende
Qualifikationsgrund trotzdem gegeben.

    In BGE 109 IV 145 wurde gestützt auf die Ergebnisse einer Besprechung
(hearing) mit Drogen-Fachleuten abstrakt berechnet, welche Mengen reinen
Stoffes erfahrungsgemäss geeignet sind, bei vielen Menschen (gemäss
BGE 108 IV 65/66 mindestens 20 Personen) das Risiko einer Abhängigkeit
herbeizuführen. Die so berechneten Grenzwerte sind der Anwendung von
Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG zugrundezulegen.

    c) Bezieht sich die Widerhandlung auf eine Stoffmenge, welche
gewichtsmässig klarerweise über der im erwähnten Präjudiz berechneten
Limite liegt, aber wegen starker Verdünnung einen unter der Limite
liegenden Gehalt an reinem Stoff aufweist und damit theoretisch ein
geringeres Gefährdungspotential darstellt, als nach Gewicht und Volumen
des Stoffgemenges gemäss den Berechnungen anzunehmen wäre, so entfällt
damit der Qualifikationsgrund der grossen Stoffmenge nicht. Art. 19
Ziff. 2 lit. a BetmG setzt - für die Annahme eines schweren Falles wegen
der erheblichen Stoffmenge - nicht den Nachweis des in BGE 109 IV 145
berechneten Gefährdungspotentials voraus. Es ging in diesem Präjudiz nur
darum, aufgrund der Angaben der Fachleute festzulegen, welche Mengen reinen
Stoffes etwa unter Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG zu subsumieren sind. Der
Qualifikationsgrund des schweren Falles ist sinngemäss auch anzunehmen,
wenn die strafbare Handlung sich auf eine gestreckte Stoffmenge bezieht,
welche nach ihrem Gewicht erlaubt, so viele übliche Dosen zu bilden, dass
viele Menschen (mindestens 20) damit über einen Zeitraum versorgt werden
können, der ausreicht, um bei einem drogenunerfahrenen Konsumenten das
Risiko einer Abhängigkeit zu schaffen. Ist die Gefahr der Suchterzeugung
wegen der starken Verdünnung theoretisch geringer, als nach der gesamten
(verdünnten) Stoffmenge anzunehmen wäre, so entlastet dies den Täter,
der den Reinheitsgrad nicht kennt und sich nicht darum kümmert, in keiner
Weise. Seine Widerhandlung im Sinne von Art. 19 Ziff. 1 BetmG bezieht
sich auf eine Menge, von der er annehmen muss, sie könnte (wegen der
Anzahl möglicher Einzeldosen) die Gesundheit vieler Menschen in Gefahr
bringen. Nachträgliche Feststellungen über einen geringeren Reinheitsgrad
stehen dem Vorwurf der in der Stoffmenge begründeten Schwere der Verfehlung
nicht entgegen. Das Handeln im Bewusstsein, dass es um eine Quantität
geht, welche die Gesundheit vieler Menschen in Gefahr bringen kann,
rechtfertigt die Annahme eines schweren Falles unabhängig von der genauen
Feststellung des Reinheitsgrades und von Unterschieden in der eigentlichen
Betäubungsmittelwirkung. In Fällen wie dem vorliegenden, wo der Täter die
Gesamtmenge kennt und die Anzahl möglicher Einzeldosen abschätzen kann,
sich aber um den Reinheitsgrad nicht kümmert, ist offensichtlich, dass
nachträgliche Feststellungen über den Reinheitsgrad ihn verschuldensmässig
nicht zu entlasten vermögen und dass schon aus diesem Grunde kein Anlass
besteht, vom Qualifikationsgrund des schweren Falles abzusehen.

    d) Aber auch wenn der Täter vom geringeren Reinheitsgrad Kenntnis
hat, z.B. weil er selber die Verdünnung des Stoffes vornahm, vermag
ihn dies nicht zu entlasten. Abzustellen ist letztlich immer darauf,
ob die Stoffmenge für eine so grosse Anzahl von üblichen Einzeldosen
ausreicht, dass viele Menschen (mindestens 20) während einer längeren
Zeit versorgt und damit in die Gefahr einer Abhängigkeit gebracht
werden können. Dass ein Hersteller oder Händler unter Täuschung der
Abnehmer Betäubungsmittelsubstanz mit viel geringerem Reingehalt anbietet,
rechtfertigt es nicht - trotz der grossen Menge -, vom Qualifikationsgrund
des schweren Falles abzusehen. Die Möglichkeit der Versorgung von vielen
(mindestens 20) neuen drogenunerfahrenen Konsumenten besteht auch in
diesem Fall. Dass das Gefährdungspotential nach der Berechnung der
Fachleute infolge der (meist betrügerischen) übermässigen Streckung
des Stoffes geringer ist, lässt das deliktische Vorgehen gesamthaft
nicht als weniger schwer erscheinen. Die Injektion von Drogen, welche
mit giftigen Stoffen oder mit harmlosen Stoffen aber unsteril gemischt
wurden, kann zu erheblichen gesundheitlichen Schädigungen führen; und
Drogen, welche mit harmlosen Stoffen und steril vermischt wurden, können
die Konsumenten zu stärkeren Dosierungen verleiten mit der Folge, dass
ebenfalls gesundheitliche Schädigungen oder gar der Tod eintreten können,
wenn der betreffende Konsument zwischenhinein von einem andern Händler
bedeutend reineren Stoff erhält und diesen in der bisher gewohnten starken
Dosierung appliziert. Diese Gefährdungen sind bei einer stark verdünnten
Substanz nicht geringer und beziehen sich abstrakt auf so viele Personen,
wie mit der Gesamtmenge versorgt werden können.

    e) Der unbestimmte Rechtsbegriff des schweren Falles, der vom
Gesetzgeber in Ziff. 2 von Art. 19 BetmG durch Beispiele erläutert,
aber nicht abschliessend umschrieben wird, ist nach der ratio legis so
auszulegen, dass eine Betäubungsmittelmenge, welche die in BGE 109 IV 145
berechneten Grenzwerte übersteigt, auch dann die Annahme eines schweren
Falles rechtfertigt, wenn der Reinheitsgrad den üblichen Durchschnitt
nicht erreicht, durch die grosse Anzahl möglicher Einzeldosen ("Schüsse")
aber trotzdem eine gesundheitliche Gefahr für viele Menschen entstehen
kann. Folgerungen aus dem Schuldprinzip und praktische Überlegungen
schliessen die Beachtung des - vielfach gar nicht mehr feststellbaren -
Reinheitsgrades von Gemengen bei der Beurteilung der Frage des schweren
Falles aus (vgl. dazu auch ZBJV 1984 S. 562 ff.).

Erwägung 3

    3.- Der hier zu beurteilende Transport von 99,7 g Heroin ist nach den
vorstehenden Erwägungen als schwerer Fall im Sinne von Art. 19 Ziff. 2
lit. a BetmG zu qualifizieren, auch wenn das Gemenge dieser Substanz
nur 7,7 g reinen Drogenwirkstoff enthielt, denn damit hätten 20 Personen
während über 100 Tagen mit je einer Konsumeinheit von 40-50 mg versorgt
werden können (zur Grösse der üblichen Konsumeinheit vgl. BGE 103 IV
281: 45 mg; ZBJV 1984 S. 565 f.: 30-50 mg). Damit ist die Annahme eines
schweren Falles subjektiv und objektiv gerechtfertigt. Die Widerhandlung
wurde in der qualifizierten Form begangen. Dass die Substanz einen
geringeren Reinheitsgrad aufwies, als der Beschwerdeführer annehmen
musste, entlastet ihn nicht und macht den Transport der Substanz nicht
zu einer blossen Versuchshandlung; denn Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG
umschreibt einen Qualifikationsgrund, nicht ein separates Erfolgsdelikt,
das nur vollendet wäre, wenn die in BGE 109 IV 145 theoretisch ermittelte
abstrakte Gefahrengrenze überschritten ist. Der Qualifikationsgrund ist
im vorliegenden Fall wegen der Stoffmenge gegeben. Selbst wenn er wegen
des geringen Reinheitsgrades zu verneinen wäre, so wäre die Widerhandlung
nicht als Versuch zu ahnden, sondern es käme richtigerweise die Bestrafung
wegen vollendeten Deliktes nach der Basisstrafdrohung von Art. 19 Ziff. 1
BetmG zum Zuge.

    Der Schuldspruch wegen Versuchs kann im vorliegenden Fall jedoch
wegen des Verbots der reformatio in peius nicht korrigiert werden; aus
verfahrensrechtlichen Gründen muss es dabei sein Bewenden haben.