Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 111 II 72



111 II 72

17. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 8. Mai 1985
i.S. A. gegen X. und Z. (Berufung) Regeste

    Art. 394 und 398 OR. Haftung des Architekten und des Bauingenieurs.

    1. Art. 43 Abs. 4 und 63 Abs. 2 OG. Annahmen des kantonalen
Richters über die Voraussehbarkeit oder Erkennbarkeit eines schädigenden
Ereignisses; Tat- und Rechtsfragen (E. 3a).

    2. Pflicht des Architekten, den Bauherrn auf die Notwendigkeit einer
Haftpflichtversicherung hinzuweisen, wenn der Bau mit besonderen Risiken
verbunden ist, die er als Fachmann besser überblicken kann als der Bauherr.
Beweislast bei Verletzung der Pflicht (E. 3d).

Sachverhalt

    A.- Im Jahre 1977 liess A. unter der Leitung des Architekten X. in
Schönried auf einer Parzelle, die in einem mässig ansteigenden Hang
liegt, ein viergeschossiges Haus erstellen. Die Ingenieurarbeiten samt
den Fundationen übertrug er der Firma Z.

    Die Baugrube mit einem Volumen vom 3800 m3 wurde im Juli/August
ausgehoben; sie war an der Krone 30 und an der Sohle 10 m breit und wies
bergseits eine 14 m hohe Böschung mit einer Neigung bis zu 60o auf. An
dem etwa 18 m weiter oben gelegenen Ferienhaus des B. traten daraufhin
Schäden auf, die mit dem Aushub der Baugrube zusammenhingen. A. wurde
deswegen gestützt auf Art. 679 ZGB von B. belangt und unter Kosten-
und Entschädigungsfolgen zu Fr. 304'000.-- Schadenersatz nebst Zins
verurteilt. Im Mai 1981 klagte er seinerseits gegen den Architekten X. und
die Ingenieurfirma Z. auf Fr. 468'518.-- Schadenersatz nebst Zins. Die
Beklagten widersetzten sich seinen Begehren und erhoben Widerklage auf
Zahlung von Resthonoraren.

    Der Appellationshof des Kantons Bern zog zwei Experten bei. Mit
Urteil vom 16. Juli 1984 wies er sodann die Klage ab und hiess die
Widerklagen gut.

    B.- Der Kläger hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt, die das
Bundesgericht dahin gutheisst, dass es die Sache zur neuen Entscheidung
im Sinne der Erwägungen an den Appellationshof zurückweist.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

    (3.- Ausführungen darüber, dass bei der Beurteilung einer allfälligen
Ersatzpflicht von der Sorgfalt eines gewissenhaften Architekten und
Bauingenieurs auszugehen ist und dass das schädigenden Ereignis für die
Beklagten nach der Annahme des Appellationshofes nicht, nach der Auffassung
des Klägers dagegen voraussehbar gewesen ist.)

    a) Was eine Partei, die bei Erfüllung des Vertrages die Gegenpartei
oder einen Dritten schädigt, bei Vertragsschluss über die Gefahr der
Schädigung weiss, ist eine Tatfrage. Feststellungen des kantonalen
Richters über solches Wissen sind daher gemäss Art. 63 Abs. 2 OG für das
Bundesgericht verbindlich, gleichviel ob sie sich auf einen direkten Beweis
oder bloss auf Indizien stützen (BGE 107 II 229 E. 4 und 99 II 262 E. 9b
mit Hinweisen). Tatsächlicher Natur ist auch die Frage, was eine Partei
nach den gegebenen Umständen bis zum Eintritt des schädigenden Ereignisses
wissen oder objektiv erkennen konnte. Feststellungen darüber beruhen
auf Beweiswürdigung, die vom Bundesgericht auf Berufung hin nur überprüft
werden darf, wenn eine Ausnahme gemäss Art. 63 Abs. 2 OG vorliegt. Dies
gilt selbst dann, wenn der Richter zur Beantwortung schwieriger Tatfragen
Sachverständige beizieht, weil er sich überfordert sieht; auch dann geht
es um Beweisführung, die der Feststellung des Sachverhaltes dient (KUMMER,
N. 98 und 99 zu Art. 8 ZGB; WEISS, Die Berufung an das Bundesgericht in
Zivilsachen, S. 170/71, 232 und 247/48).

    Anders verhält es sich dagegen, wenn die Voraussehbarkeit oder
Erkennbarkeit der Gefahr vom kantonalen Richter nicht zum Gegenstand der
Beweisführung oder Beweislast gemacht, sondern ausschliesslich gestützt
auf die allgemeine Lebenserfahrung beurteilt wird. Erfahrungssätze haben
diesfalls die Funktion von Normen und werden daher im Berufungsverfahren
den Rechtssätzen in dem Sinne gleichgestellt, dass ihre Anwendung vom
Bundesgericht frei überprüft wird (BGE 107 II 274/75 und 69 II 425
mit Hinweisen). Um eigentliche Rechtsanwendung sodann geht es bei den
Fragen, ob eine Partei bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit die Gefahr
rechtzeitig hätte erkennen müssen, was sie daraufhin hätte tun sollen,
um einer Schädigung vorzubeugen, welcher Massstab dabei an die von ihr
zu erwartende Sorgfalt anzulegen ist und wie es sich allenfalls mit dem
Entlastungsbeweis gemäss Art. 97 Abs. 1 OR verhält. Das eine wie das
andere betrifft das Verschulden, das als gesetzliche Voraussetzung der
Ersatzpflicht vom Bundesgericht selbständig zu prüfen ist.

    d) Der Kläger hält daran fest, dass der beklagte Architekt auch wegen
Verletzung seiner allgemeinen Beratungspflicht, die sich aus Art. 2 der
SIA-Honorarordnung 102 ergebe und den Versicherungsschutz einschliesse,
für den Schaden einzustehen habe. Der Beklagte 1 sei verpflichtet gewesen,
ihn spätestens 10 Monate vor Baubeginn, als er sich zusammen mit der
beklagten Ingenieurfirma für das abenteuerliche Vorgehen entschlossen
habe, klar auf die unkalkulierbaren Gefahren und die Notwendigkeit einer
Bauherrenhaftpflichtversicherung hinzuweisen.

    Eine solche Pflicht des Architekten ist entgegen der Auffassung
des Appellationshofes jedenfalls dann zu bejahen, wenn ein Bau wie hier
mit besonderen Risiken verbunden ist, die der Fachmann aufgrund seines
Wissens und seiner Erfahrung besser überblicken kann als der Bauherr. Sie
wird in der seit 1. Januar 1977 geltenden SIA-Norm 118 für Bauarbeiten
dem Unternehmer denn auch ausdrücklich auferlegt, wenn sich für den
Bauherrn Dritten gegenüber besondere Haftungsrisiken ergeben, die er nicht
selber erkennen kann (Art. 26 Abs. 2). Ihr Einschluss in die allgemeine
Beratungspflicht des Architekten leuchtet hier um so mehr ein, als der
Beklagte 1 im Rahmen eines Gesamtauftrages auch die Hauptverantwortung
für die Baugrube übernommen hat.

    Nach dem angefochtenen Urteil hat zwischen dem Kläger und einem
Mitarbeiter des Architekten ein Gespräch über eine Haftpflichtversicherung
stattgefunden. Ob dem Kläger dabei vom Abschluss einer solchen
Versicherung direkt abgeraten worden sei, hat der Appellationshof
offengelassen, steht der Annahme einer Pflichtverletzung jedoch nicht
entgegen. Der Beklagte 1 muss sich auch in diesem Zusammenhang sagen
lassen, dass er die besonderen Risiken des aussergewöhnlichen Aushubes
verkannt hat, sie bei gehöriger Aufmerksamkeit und Überlegung aber
rechtzeitig hätte erkennen müssen. Es wäre alsdann seine Pflicht gewesen,
den Kläger über die Notwendigkeit einer Haftpflichtversicherung aufzuklären
und ihm den Abschluss einer solchen zu empfehlen, auch wenn letztlich der
Bauherr zu entscheiden hatte, ob er eine solche Versicherung abschliessen
wolle oder nicht. Dass der Beklagte 1 eine Aufklärung offenbar nicht
für nötig hielt, befreit ihn nicht; da er die Risiken sorgfaltswidrig
falsch eingeschätzt hat, muss er sich die Unterlassung so oder anders
anrechnen lassen. Daran ändert auch die Meinung der gerichtlichen
Experten nichts, die im Ergänzungsgutachten erklärten, der Architekt habe
seine Beratungspflicht nicht verletzt; dies gilt um so mehr, als sie im
Hauptgutachten einräumten, den Bauherrn in Versicherungsfragen zu beraten,
gehöre zu den Aufgaben des Architekten, der die Risiken des Bauvorhabens
als Fachmann einzuschätzen habe. Eine Rechtsfrage abschliessend zu
beurteilen, ist zudem nicht Sache gerichtlicher Experten.

    Bei der Verletzung der Beratungspflicht geht es ebenfalls um
einen vertraglichen Haftungsgrund. Dem Beklagten 1 stand daher auch
in diesem Punkt gemäss Art. 97 Abs. 1 OR der Entlastungsbeweis zu,
den er nach dem Gesagten aber nicht erbracht hat. Der Kläger dagegen
hatte darzutun, dass die unterbliebene Aufklärung über die Notwendigkeit,
eine Haftpflichtversicherung abzuschliessen, als widerrechtlich anzusehen
ist, was offensichtlich zutrifft (BGE 82 II 28 mit Hinweisen). Nach der
allgemeinen Vorschrift des Art. 8 ZGB hatte er ferner zu beweisen, dass er
durch die pflichtwidrige Unterlassung des Beklagten 1 geschädigt worden
ist und zwischen der Unterlassung und dem Schaden ein Kausalzusammenhang
besteht. Das hängt vor allem davon ab, was der Kläger getan hätte
und überhaupt tun konnte, wäre er pflichtgemäss aufgeklärt worden,
ob er diesfalls bereit und namentlich angesichts der geschuldeten
Versicherungsprämie auch willens gewesen wäre, eine Haftpflichtversicherung
abzuschliessen. Selbst wenn der Schaden infolge Verletzung einer
Aufklärungspflicht sich nicht konkret berechnen lässt oder gemäss Art. 42
Abs. 2 OR geschätzt werden muss, enthebt dies den Geschädigten nicht der
Pflicht, dem Richter die Tatsachen für die Entstehung und die Höhe der
behaupteten Vermögensverminderung anzugeben und dafür Beweise anzubieten
(BGE 105 II 89 E. 3 mit Hinweisen). Das angefochtene Urteil schweigt sich
über die Folgen der unterbliebenen Aufklärung aus. Der Appellationshof
wird daher - prozesskonforme Behauptungen und Beweisanträge vorbehalten -
diese Folgen näher abklären und den Sachverhalt allenfalls ergänzen müssen.