Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 111 II 24



111 II 24

5. Urteil der II. Zivilabteilung vom 21. März 1985
i.S. Kollektivgesellschaft L. Oppliger Söhne gegen Perret (Berufung)
Regeste

    Verletzung von Grundeigentum; Abwehr ungerechtfertigter Einwirkungen
(Art. 641 Abs. 2 ZGB).

    Wird bei Strassenbauarbeiten auf einem Grundstück unmittelbar in
die Substanz des Nachbargrundstücks eingegriffen (Abgrabungen), so hat
dessen Eigentümer - gestützt auf Art. 641 Abs. 2 ZGB - einen Anspruch
auf Beseitigung des Störungszustandes.

Sachverhalt

    A.- Armand Perret ist Eigentümer des Grundstücks Art. 1069
des Grundbuchs der Gemeinde Überstorf. Das hangabwärts gelegene
Nachbargrundstück Art. 438 steht im Eigentum der Kollektivgesellschaft
L. Oppliger Söhne, die es von Hermann Brülhart erworben hat. Bei der
Erstellung der Zufahrtsstrasse zum Grundstück Art. 438 ist Erdreich vom
Grundstück Art. 1069 abgetragen worden und eine künstliche Böschung
entstanden.

    Mit Eingabe vom 29. Dezember 1978 erhob Armand Perret beim
Bezirksgericht der Sense Klage gegen die Kollektivgesellschaft L. Oppliger
Söhne sowie gegen Hermann Brülhart mit dem Antrag:

    "Die Beklagten seien solidarisch zu verpflichten, den Zustand der

    Parzelle 1069 der Gemeinde Überstorf vor dem Bau der Strasse
   wiederherzustellen und die Grenzsteine auf der ursprünglichen Höhenquote
   zu versetzen."

    Nachdem die Klage, soweit gegen Hermann Brülhart erhoben, durch
das Bezirksgericht rechtskräftig abgewiesen und die Sache durch einen
ersten Entscheid des Kantonsgerichts (Appellationshof) des Staates
Freiburg vom 9. Dezember 1980 zur Ergänzung des Sachverhalts und
zu neuer Beurteilung an die erste Instanz zurückgewiesen worden war,
erliess der kantonsgerichtliche Appellationshof hinsichtlich der gegen
die Kollektivgesellschaft L. Oppliger Söhne erhobenen Klage am 12. Juni
1984 folgendes Urteil:

    "1. ...

    2. Die Beklagte wird verpflichtet, den ursprünglichen Zustand auf
   der Parzelle Nr. 1069 des Grundbuches der Gemeinde Überstorf dadurch
   wiederherzustellen, dass sie auf ihrem Grundstück die Böschung nach den

    Angaben in den Expertisen Bruderer und Thüler innert sechs Monaten seit

    Rechtskraft des Urteils mit Eisenbahnholzschwellen abstützt."

    Gegen das kantonsgerichtliche Urteil führt die Beklagte Berufung an das
Bundesgericht mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben
und die Klage abzuweisen; allenfalls sei die Sache zu neuer Beurteilung
an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Der Kläger schliesst auf Abweisung der Berufung.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Aufgrund der für das Bundesgericht verbindlichen tatsächlichen
Feststellungen der Vorinstanz ist davon auszugehen, dass beim Bau der
Zufahrtsstrasse zum Grundstück der Beklagten Erdreich von der Parzelle
des Klägers abgetragen wurde. Es steht ferner fest, dass durch die
Überschreitung der natürlichen Neigung sich im oberen Teil der Böschung
kleine Rutschungen ereignet haben.

Erwägung 2

    2.- a) Die Beklagte bringt vor, die ungerechtfertigte
Einwirkung auf das Grundstück des Klägers habe mit der Beendigung der
Strassenbauarbeiten aufgehört. Seither seien nur noch die Folgen der
Einwirkung vorhanden. Gegen einen zeitlich zurückliegenden, nicht mehr
andauernden Eingriff könne aber nicht mit der Negatorienklage vorgegangen
werden. Es bestehe in diesem Fall kein Beseitigungs-, sondern nur ein
Schadenersatzanspruch, der aber hier gemäss Art. 60 OR verjährt sei.

    b) Im Entscheid 107 II 134 ff. hat das Bundesgericht den Fall, da die
schädigende Handlung oder der schädigende Zustand mit einem bestimmten
Grundstück verbunden ist und die Wirkungen auf einem andern Grundstück
eintreten, klar vom direkten Eingriff in die Substanz des geschädigten
Grundstücks unterschieden. Es hielt fest, dass im ersten Fall mit der
Beseitigungsklage gemäss Art. 679 ZGB nur die Beseitigung des den Schaden
verursachenden Zustandes auf dem Ausgangsgrundstück, nicht aber die
Wiederherstellung des früheren Zustandes auf dem geschädigten Grundstück
verlangt werden könne (BGE 107 II 136 f.; im gleichen Sinne auch LIVER,
in: ZBJV 119/1983, S. 116). Letzteres ist in der Tat nur auf dem Weg der
Schadenersatzklage möglich, sei es mit einem Begehren auf Geldleistung, sei
es mit einem solchen auf Naturalersatz. Die Schadenersatzklage unterliegt
freilich der Verjährung gemäss Art. 60 OR. Bei einem direkten Eingriff
in die Substanz des geschädigten Grundstücks steht dem Eigentümer dagegen
der allgemeine Abwehranspruch des Art. 641 Abs. 2 ZGB zu, der dinglicher
Natur und unverjährbar ist (vgl. BGE 83 II 198).

    c) Wie sich aus den für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen
der Vorinstanz ergibt, wurde bei den Strassenbauarbeiten auf dem Grundstück
der Beklagten unmittelbar in die Substanz des klägerischen Grundstücks
eingegriffen. Dieses wurde durch die Grabungen somit nicht nur im Sinne von
Art. 685 Abs. 1 ZGB gefährdet, sondern in Gebrauch und Nutzung unmittelbar
beeinträchtigt. Der Störungszustand, der durch das Abtragen von Erdreich
auf dem klägerischen Grundstück eingetreten ist, dauert an und ist als
dem Eigentum widersprechender Zustand zu qualifizieren (vgl. MEIER-HAYOZ,
5. Aufl., N. 103 zu Art. 641 ZGB; BGE 88 II 267 unten). Der Kläger hat
deshalb - und zwar gestützt auf Art. 641 Abs. 2 ZGB - einen Anspruch auf
Beseitigung des Störungszustandes. Die Gutheissung der Klage in dem von der
Vorinstanz festgehaltenen Sinn verstösst somit nicht gegen Bundesrecht. Bei
dieser Sachlage ist der Einrede der Beklagten, ein aus Art. 679 ZGB
abgeleiteter Schadenersatzanspruch sei verjährt, der Boden entzogen.