Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 111 II 225



111 II 225

46. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 9. September 1985 i.S.
Y. gegen X. (Berufung) Regeste

    Gestaltung der Elternrechte bei der Ehescheidung (Art. 156 Abs. 1 ZGB).

    Kleinere Kinder sind in der Regel der Mutter zuzuteilen. Wo aber die
für eine harmonische Entwicklung des Kindes in körperlicher, seelischer
und geistiger Hinsicht erforderliche Stabilität beim Vater als besser
gewährleistet erscheint und dieser sowohl fähig wie auch bereit ist, das
Kind zu erziehen und weitgehend selbst zu betreuen, darf jedenfalls dann
vom erwähnten Grundsatz abgewichen werden, wenn die Mutter die Erziehung
nicht persönlich zu leiten vermöchte.

Sachverhalt

    A.- M. X., geboren 1958, und N. Y., geboren 1961, heirateten am
23. Oktober 1980. Ihrer Ehe entstammt der am 24. Oktober 1980 geborene
Sohn A.

    Mit Klageschrift vom 24. Dezember 1982 verlangte N. X.-Y. die
Scheidung der Ehe, die Unterstellung des Sohnes unter ihre elterliche
Gewalt, die Regelung des Besuchsrechts des Vaters, die Zusprechung
von Unterhaltsbeiträgen für sich und den Sohn sowie die Vornahme
der güterrechtlichen Auseinandersetzung der Parteien. In seiner
Klageantwortschrift vom 30. März 1983 beantragte der Beklagte Abweisung der
Klage. Widerklageweise stellte er seinerseits das Begehren auf Scheidung
der Ehe, wobei der Sohn ihm zuzuweisen sei.

    In der dem Scheidungsverfahren vorangegangenen Eheschutzverhandlung vom
7. Oktober 1982 war der gemeinsame Haushalt der Parteien auf beidseitigen
Antrag aufgehoben und der Sohn für die Dauer des Getrenntlebens dem
Beklagten zugewiesen worden, wobei eine Erziehungsbeistandschaft gemäss
Art. 308 ZGB errichtet worden war. Eine von der Klägerin gegen die
Zuteilung des Kindes an den Beklagten eingereichte Appellation wies der
kantonale Appellationshof am 10. November 1982 ab.

    Nachdem A. zunächst bei einer Pflegefamilie untergebracht war, nahm
ihn der Beklagte Mitte November 1983 zu sich, als er mit seiner Freundin
nach B. zog. Das von der Klägerin hierauf eingereichte Gesuch, der
Sohn sei in die Pflegefamilie zurückzubringen, wurde durch Entscheide
des Gerichtspräsidenten vom 23. Dezember 1983 und des kantonalen
Appellationshofes vom 6. Februar 1984 abgewiesen.

    Am 21. September 1984 fällte das Zivilamtsgericht folgendes Urteil:

    "1. Die zwischen den Parteien am 23. Oktober 1980 ... abgeschlossene

    Ehe wird in Anwendung von Art. 142 ZGB wegen tiefer Zerrüttung des
   ehelichen Verhältnisses auf beidseitigen Antrag geschieden.

    2. Das der Ehe entstammende Kind A., geb. 24. Oktober 1980, wird der
   elterlichen Gewalt des Vaters unterstellt unter Errichtung einer

    Beistandschaft gemäss Art. 308 Abs. 2 ZGB.

    Die Mutter hat das Recht, das Kind während zwei Tagen pro Monat zu
   besuchen; es steht ihr im übrigen ein Ferienbesuchsrecht von 4
   Wochen pro

    Jahr zu.

    3. Die zwischen den Parteien am 21. September 1984 abgeschlossene

    Teilkonvention mit Einschluss der Teilkonvention zum Güterrecht vom 3.

    Mai 1984 wird gerichtlich genehmigt.

    ..."

    In seiner Sitzung vom 30. Januar 1985 hat der kantonale Appellationshof
dieses Urteil im wesentlichen bestätigt. Das der Klägerin zugesprochene
Besuchsrecht umschrieb er wie folgt neu:

    "Die Mutter hat das Recht, das Kind an jedem 3. Wochenende im Monat
   von Samstagmorgen bis Sonntagabend, nach Beginn seiner Schulpflicht von

    Samstagmittag bis Sonntagabend auf Besuch zu nehmen. Die Mutter hat
   ferner das Recht, das Kind in den geraden Jahren am 24. und in den
   ungeraden Jahren am 25. Dezember zu sich zu Besuch zu nehmen.

    Der Mutter steht schliesslich ein Ferienrecht von insgesamt 4 Wochen
   im Jahr zu, wobei sie die Ausübung dieses Ferienrechts jeweils 2 Monate
   zum voraus anzumelden hat."

    Gegen das Urteil des Appellationshofes hat die Klägerin Berufung an
das Bundesgericht erhoben, wobei sie beantragt:

    "Das Urteil ... des Appellationshofes ... vom 30. Januar 1985 sei
   aufzuheben und der aus der Ehe hervorgegangene Sohn ... sei unter
   gleichzeitiger

    Regelung des Besuchsrechtes der elterlichen Gewalt der Mutter zu
   unterstellen.

    ..."

    Der Beklagte schliesst auf Abweisung der Berufung.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Dem Sachrichter steht bei der Frage der Kinderzuteilung ein
weites Ermessen zu. Das Bundesgericht hat in seiner Rechtsprechung zu Art.
156 Abs. 1 ZGB eine Reihe von Regeln aufgestellt, die ihm den Entscheid
erleichtern sollen. Oberster Grundsatz hat danach stets das Wohl des Kindes
zu sein; die Interessen der Eltern haben in den Hintergrund zu treten. Die
Kinderzuteilung ist in Würdigung der gesamten Umstände in jedem Einzelfall
so vorzunehmen, dass den Bedürfnissen des Kindes entsprechend seinem Alter,
seinen Neigungen und seinem Anspruch auf elterliche Fürsorglichkeit,
Zuwendung und Erziehung bestmöglich entsprochen werden kann. Als für
den Entscheid massgebliche Gesichtspunkte stehen daher im Vordergrund
die persönlichen Beziehungen der Eltern zum Kind, ihre erzieherischen
Fähigkeiten, aber auch ihre Fähigkeit und Bereitschaft, das Kind in eigener
Obhut zu haben, es weitgehend persönlich zu betreuen und zu pflegen.

    Das Bundesgericht hat auch in jüngsten Entscheiden den Grundsatz
bestätigt, wonach kleinere Kinder der Mutter zuzuteilen seien (vgl. BGE
109 II 194; 108 II 370); gleichzeitig wurde aber darauf hingewiesen, dass
diejenige Lösung zu treffen sei, welche die für eine harmonische Entfaltung
des Kindes in körperlicher, seelischer und geistiger Hinsicht notwendige
Stabilität der Verhältnisse gewährleiste (BGE 108 II 370; vgl. auch
HAUSHEER, Die Zuteilung der elterlichen Gewalt im Scheidungsverfahren
nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts, in ZVW 38/1983,
S. 126). Es ist deshalb sehr wohl möglich, dass in einem konkreten Fall
auch ein kleineres Kind unter die elterliche Gewalt des Vaters gestellt
wird, wenn dieser zur Erziehung und zu weitgehender Selbstbetreuung des
Kindes, zu dem er eine echte Zuneigung hat, fähig und bereit ist und wenn
darüber hinaus die massgebenden Verhältnisse für die Zukunft auf seiner
Seite als die stabileren erscheinen. Wie in BGE 109 II 194 angetönt, zeigt
die Erfahrung, dass vor allem jüngere Väter in zunehmendem Masse bereit
sind, die volle Fürsorge- und Erziehungsverantwortung gegenüber ihren
Kindern zu übernehmen. Auch wenn von einem eigentlichen Umdenken nach wie
vor noch nicht die Rede sein kann, darf der Sachrichter vom Grundsatz der
mütterlichen Vorgabe abweichen, falls die für die harmonische Entwicklung
des Kindes erforderliche Stabilität beim Vater als besser gewährleistet
erscheint. Dass auch die Mutter zur Erziehung fähig und bereit wäre,
verliert in solchen Fällen an Gewicht.

    Die Frage der Stabilität der Verhältnisse hängt freilich nicht in
erster Linie davon ab, ob auf seiten des betreffenden Elternteils ernsthaft
mit einer neuen Heirat gerechnet werden könne. Das würde zu einer - oft
ungerechtfertigten - Diskriminierung des alleinerziehenden Elternteils
bzw. zu einer Bevorzugung des Stiefelternteils führen, was nicht immer
im Interesse des Kindes läge. Es darf andererseits auch nicht einfach
darauf abgestellt werden, welchem Elternteil während der Dauer des oft
jahrelangen Scheidungsverfahrens die Obhut zukam.

Erwägung 3

    3.- Das Zivilamtsgericht ..., auf dessen Entscheid die Vorinstanz im
wesentlichen verweist, hatte sich auf sein umfangreiches Beweisverfahren
sowie auf die persönlichen Eindrücke berufen, die es von den Parteien
und ihren Lebensverhältnissen gewonnen hatte. Es hatte festgehalten,
dass die persönlichen Beziehungen beider Parteien zu A. gut zu sein
schienen. Hinsichtlich der erzieherischen Fähigkeiten wies die erste
Instanz darauf hin, dass der Beklagte eine bessere Beurteilung erfahre
als die Klägerin, die sich vom Kind leicht beeinflussen lasse. Auch im
Bericht des kantonalen Jugendamtes vom 30. Dezember 1983 werde auf die
unterschiedlichen Erziehungsauffassungen der Parteien hingewiesen. Es
werde dort festgehalten, die Klägerin lege infolge der Betonung
der gefühlsmässigen Ebene auf Pflege und Bewältigung erzieherischer
Schwierigkeiten weniger Gewicht, weshalb sie auf diesen Gebieten oft
entsprechend hilflos sein müsse. Dem Beklagten würden demgegenüber
konkretere Erziehungsvorstellungen bescheinigt, nämlich das Ziel, dass A.
später sein Leben ohne grössere Probleme werde meistern können. Der
Beklagte biete aufgrund des erwähnten Berichts die grössere Gewähr für die
Erziehung und Betreuung des Kindes. Auch der Bericht der Sozialdienste
... vom 14. September 1982, der freilich zwei Jahre alt sei, befürworte
eher die Zuteilung an den Beklagten.

    Das Amtsgericht hatte des weitern entscheidend berücksichtigt, dass
die Klägerin es seinerzeit - ohne ausgesprochene Notsituation - vorgezogen
habe, wieder arbeiten zu gehen, statt zu Hause den dreimonatigen A. zu
betreuen. Es sei deshalb sehr zweifelhaft, ob sich die Klägerin heute
ernstlicher und dauerhafter um A. bemühen würde. Es bleibe auch unklar,
wie sie es mit der Direktbetreuung halten würde. Ihre Zukunftspläne
seien jedenfalls nicht genau umrissen. Ihre Versicherung, die Arbeit
aufzugeben, wirke angesichts ihrer in den früheren Verfahrensabschnitten
geäusserten wechselnden Zukunftsabsichten bezüglich der Betreuung von
A. wenig glaubwürdig. Wahrscheinlicher sei, dass sie das Kind ihren Eltern
anvertrauen würde. Unter diesen Umständen bestehe aber der natürliche
Vorsprung nicht, den die Klägerin als Mutter normalerweise hätte.
Umgekehrt hatte das Amtsgericht ausgeführt, dass dem Beklagten wenigstens
eine eingeschränkte Direktbetreuung möglich sei, einerseits wegen der
geringen Distanz zwischen Arbeitsplatz und Wohnort und andererseits
vor allem deshalb, weil er ... nachmittags oft frei habe. Ausserdem
sei der Beklagte nun schon seit längerer Zeit mit O. Z. befreundet; die
Versicherung, man werde heiraten, erscheine glaubhaft, um so mehr als
O. Z. zugunsten der Betreuung von A. auf eine weitere Erwerbstätigkeit
verzichtet habe und sich seither vollzeitlich um das Kind kümmere. A. lebe
nun schon seit rund zehn Monaten beim Beklagten und bei O. Z. und diese
Lösung vermöge nach den Aussagen glaubhafter Zeugen voll zu befriedigen.

Erwägung 4

    4.- In Anbetracht des weiten Ermessens, das dem Sachrichter beim
Entscheid über eine Kinderzuteilung zusteht, kann nicht gesagt werden, die
kantonalen Instanzen hätten in Verkennung der massgebenden Grundsätze das
nunmehr fünfjährige Kind dem Beklagten zugeteilt und deshalb Bundesrecht
verletzt. Daran vermögen die Einwände der Klägerin nichts zu ändern:

    Auf die Kritik an der amtsgerichtlichen Beweisverfügung kann hier
von vornherein nicht eingetreten werden. Im übrigen ist die Frage der
Kinderzuteilung im Sinne von Art. 156 Abs. 1 ZGB von der Offizialmaxime
beherrscht. Der Sachrichter hat demnach die Umstände, die für einen
dem Kindeswohl entsprechenden Entscheid von Bedeutung sind, von Amtes
wegen abzuklären und zu berücksichtigen, wenn es auch in erster Linie
Sache der Parteien ist, den tatsächlichen Prozessstoff dem Gericht zu
unterbreiten und die Beweismittel zu nennen. Die kantonalen Instanzen haben
ausdrücklich festgehalten, dass die Klägerin in ihren Lebensverhältnissen
zu wenig stabil und vor allem in ihren Zukunftsplänen unbeständig sei;
für die Erziehung und Betreuung von A. vermöge sie deshalb keine wirklich
ernsthafte Alternative zu dem zu bieten, was auf seiten des Beklagten
vorhanden sei. Zu der von der Klägerin aufgeworfenen Frage, ob einer
Unterstellung des Kindes unter ihre elterliche Gewalt schwerwiegende
Mängel anhaften würden bzw. ob auf seiten des Beklagten erhebliche
Vorzüge gegeben seien, hat die Vorinstanz mithin gestützt auf eine
Beweiswürdigung eine positive Feststellung getroffen. Die Rüge unrichtiger
Beweislastverteilung wäre somit ohnehin gegenstandslos (vgl. BGE 105 II
145 E. bb mit Hinweisen).

    Der Appellationshof hat sodann nicht verkannt, dass das Bedürfnis nach
mütterlicher Liebe vor allem bei kleinen Kindern besonders berücksichtigt
zu werden verdient, vorausgesetzt allerdings, dass die Mutter die Erziehung
selbst zu leiten vermag. Gerade letzteres ist nach den Feststellungen
im amtsgerichtlichen Urteil, auf die der Appellationshof verweist,
indessen im vorliegenden Fall in Frage gestellt. Es ist deshalb nicht
zu beanstanden, wenn der Appellationshof feststellt, dass hinsichtlich
Betreuung und Erziehung des Kindes die Möglichkeiten der Klägerin keine
wirklich ernsthafte Alternative zu dem darstellten, was der Beklagte
diesbezüglich anzubieten habe. Entgegen der Auffassung der Klägerin
darf ein Kind nicht nur dann dem Vater zugewiesen werden, wenn es bei
der Mutter erheblich gefährdet wäre. Etwas anderes ist aus dem von der
Klägerin angeführten BGE 79 II 241 ff. nicht zu schliessen. Wohl wurde
dort ausdrücklich festgehalten, dass bei einem kleinen Kind dem Bedürfnis
nach mütterlicher Pflege und Liebe grosse Bedeutung zukomme, doch wurde
weiter ausgeführt, dass unter anderem auch die Frage der erzieherischen
Fähigkeiten der beiden Elternteile Beachtung erheische.

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