Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 111 II 103



111 II 103

24. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 17. Januar 1985
i.S. S. gegen S. und Appellationshof Bern (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste

    Art. 145 und 160 Abs. 2 ZGB.

    1. Der Anspruch der Ehefrau auf Unterhalt durch den Ehemann gemäss
Art. 160 Abs. 2 ZGB besteht auch während des Scheidungsprozesses. Er
ist grundsätzlich unabhängig von der finanziellen Leistungsfähigkeit der
Ehefrau. Doch hat diese mit ihrem eigenen Einkommen aus Erwerbstätigkeit
oder Vermögen an ihren Lebensunterhalt beizutragen. Dieser Beitrag ist im
Hinblick auf die finanziellen Verhältnisse des Ehemannes zu bemessen. Sind
diese gut, braucht die Ehefrau nicht ihr gesamtes Einkommen für ihren
Unterhalt zu verwenden (E. 3).

    2. Bleibt nach Abzug des Zwangsbedarfs der beiden Ehegatten von ihrem
Gesamteinkommen noch ein Überschuss, so soll an diesem jeder Gatte zur
Hälfte beteiligt sein (E. 3c).

    3. Zuviel bezahlte Unterhaltsbeiträge im Sinne von Art. 145
ZGB kann der pflichtige Ehegatte nur bei Vorliegen ganz besonderer
Gründe rückwirkend über das Datum seines Abänderungsbegehrens hinaus
zurückverlangen (E. 4).

Sachverhalt

    A.- W. S. und E. S. gingen am 21. Oktober 1955 miteinander die Ehe
ein, der eine Tochter, geboren am 28. Juni 1961, und ein Sohn, geboren
am 10. Januar 1963, entsprossen.

    Am 6. Juni 1979 hob der Gerichtspräsident den gemeinsamen Haushalt
der Eheleute auf. Seit dem 17. April 1980 ist zwischen ihnen ein
Scheidungsprozess anhängig.

    Auf Gesuch beider Parteien um Abänderung der vorsorglichen Massnahmen
entschied das Zivilamtsgericht, dass W. S. für seine Ehefrau monatliche
Unterhaltsbeiträge von Fr. 1'085.-- für den Zeitraum vom 7. November
1983 bis 31. August 1984 und von Fr. 1'780.-- ab 1. September 1984 zu
leisten habe. Es stellte zudem fest, dass W. S. für die Tochter und
den Sohn nicht mehr unterhaltspflichtig sei. Dieses Urteil focht der
Ehemann mit einer Appellation an. Der Appellationshof des Kantons
Bern verpflichtete W. S. mit Urteil vom 27. August 1984, seiner
Ehefrau monatliche Unterhaltsbeiträge von Fr. 580.-- für den Zeitraum
ab 7. November 1983 bis 31. August 1984 und von Fr. 1'280.-- ab 1.
September 1984 zu bezahlen, und bestimmte, dass allfällige vom Ehemann
bis zum Erhalt des Urteils geleistete Zahlungen an die Ehefrau verrechnet
werden können. Ferner hielt das Gericht fest, dass W. S. im Rahmen von
Art. 145 ZGB für seine Tochter seit 1. Mai 1982 und für seinen Sohn seit
1. Mai 1983 keine Unterhaltsbeiträge mehr zu entrichten habe und dass
ihm für zuviel bezahlte Beiträge ein Verrechnungsrecht zustehe.

    Die Ehefrau erhebt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 BV, die vom Bundesgericht gutgeheissen wird.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Der Appellationshof hat den Unterhaltsanspruch der
Beschwerdeführerin in der Weise berechnet, dass er dem Zwangsbedarf der
Ehefrau 1/3 der Differenz zwischen dem Gesamteinkommen der Ehegatten
und ihrem Gesamtzwangsbedarf zugeschlagen und von diesem Betrag das
volle Einkommen der Beschwerdeführerin abgezogen hat. Der Appellationshof
gelangte somit zu einem monatlichen Unterhaltsbeitrag des Beschwerdegegners
für seine Ehefrau von Fr. 580.-- ab 7. November 1983 bis 31. August 1984
und von Fr. 1'280.-- ab 1. September 1984.

    Die Beschwerdeführerin bezeichnet diese Berechnungsweise als
willkürlich. Es ist ihrer Meinung nach unhaltbar, dass ihr einerseits
ihr fiktives Einkommen zu 100% angerechnet werde, man ihr aber
anderseits nur gestatte, am ausgewiesenen Überschuss zu einem Drittel
zu partizipieren. Sie verweist auf Doktrin und Praxis, wonach der
Lebensstandard der Ehefrau nach Massgabe der Umstände und soweit als
möglich nach der Trennung gleich sein soll wie vorher. Weshalb dies
gerade für sie nicht gelten sollte, sei unklar. Der Appellationshof
habe seinen Entscheid auch nicht begründet. Als Ausfluss von Art. 159,
192 Abs. 2 und 246 Abs. 1 ZGB habe sich die Ehefrau nur einen Teil ihres
Einkommens anrechnen zu lassen. Es verstosse gegen Bundesrecht, bedeute
eine Rechtsverweigerung und Willkür in der Ermessensausübung, wenn ihr
hypothetisches Einkommen zu 100% berücksichtigt werde.

    b) Der Beschwerdeführerin ist beizupflichten, dass Art. 160
Abs. 2 ZGB auch während einer Trennung der Ehegatten und während
des Scheidungsprozesses zur Anwendung gelangt, so dass der Ehemann
auch dann in gebührender Weise, d.h. nach Massgabe der sozialen und
finanziellen Verhältnisse, für den Unterhalt der Ehefrau zu sorgen hat
(BÜHLER/SPÜHLER, N. 166 zu Art. 145 ZGB). Dieser Unterhaltsanspruch besteht
grundsätzlich unabhängig von ihrer eigenen finanziellen Leistungsfähigkeit
(BÜHLER/SPÜHLER, N. 163 zu Art. 145 ZGB). Die infolge der Trennung von
ihren ehelichen Pflichten befreite Frau hat jedoch im Rahmen von Art. 159
Abs. 3, 161 Abs. 2 und 192 Abs. 2 ZGB mit ihrem eigenen Einkommen aus
Erwerbstätigkeit oder Vermögen an ihren Lebensunterhalt beizutragen. In
welchem Umfang dies zu geschehen hat, darüber hat grundsätzlich der
Massnahmerichter nach freiem Ermessen zu entscheiden. Immer aber gilt,
dass die eigenen Mittel der Ehefrau nur subsidiär zu berücksichtigen
sind; ihre Leistungspflicht besteht lediglich in einem Beitrag, welcher
im Blick auf die Leistungspflicht des Ehemannes zu bemessen ist. Vor
allem bei guten finanziellen Verhältnissen braucht die Ehefrau nicht
ihr gesamtes Einkommen für ihren Unterhalt zu verwenden und den Ehemann
damit von seiner primären Unterhaltspflicht zu entlasten (BÜHLER/SPÜHLER,
N. 179 zu Art. 145 ZGB; vgl. BGE 109 II 2/3 und 110 II 116 ff.).

    c) Im Gegensatz zum erstinstanzlichen Richter hat der Appellationshof
diese Grundsätze offensichtlich missachtet und damit gegen klares
Recht verstossen, was einer Verletzung von Art. 4 BV gleichkommt
(BGE 108 Ia 120 E. c und 195 E. b, 108 III 42 E. 3). Angesichts des
überdurchschnittlich guten Einkommens des Beschwerdegegners von monatlich
Fr. 6'070.-- bzw. Fr. 6'960.-- ab 1. September 1984 rechtfertigt es
sich in keiner Weise, dass der Appellationshof das ganze Einkommen der
Ehefrau von Fr. 1'000.-- bei der Berechnung ihres Unterhaltsanspruchs
berücksichtigte. Damit ist er in Willkür verfallen. Im Hinblick auf die
wirtschaftlichen Verhältnisse der Ehegatten darf von der Beschwerdeführerin
nicht mehr als ein Drittel bis höchstens die Hälfte ihres Einkommens als
Beitrag an die ehelichen Lasten im Sinne von Art. 246 Abs. 1 ZGB verlangt
werden. Dementsprechend hat das Zivilamtsgericht in seinem Entscheid
vom 4. Juni 1984 einen Beitrag der Ehefrau von 42% ihres Einkommens in
Rechnung gestellt, was vor dem Willkürverbot standzuhalten vermöchte.

    Der vom Appellationshof errechnete Unterhaltsanspruch der
Beschwerdeführerin verletzt aber auch noch aus einem andern Grunde
Art. 4 BV. Der Appellationshof hat vom Gesamteinkommen der Ehegatten
den Zwangsbedarf des Beschwerdegegners von Fr. 4'290.-- sowie der
Beschwerdeführerin von Fr. 983.-- bzw. Fr. 1'583.-- ab 1. September 1984
in Abzug gebracht und die Restsumme im Verhältnis von 1/3 zu 2/3 unter
die Ehefrau und den Ehemann aufgeteilt. Weshalb die Beschwerdeführerin an
diesem Überschuss nur zu einem Drittel und nicht zur Hälfte beteiligt sein
soll, wird vom Appellationshof mit keinem Wort begründet. Diese Aufteilung
verstösst gegen den Grundsatz, dass der Lebensstandard der Ehefrau nach
Aufhebung des gemeinsamen Haushalts soweit als möglich der gleiche bleiben
soll wie vor der Trennung der Gatten (BÜHLER/SPÜHLER, N. 166 zu Art.
145 ZGB; HINDERLING, Das schweizerische Ehescheidungsrecht, 3. Aufl.,
S. 198; vgl. auch BGE 110 II 119). Entsprechend diesem Grundsatz wäre
vielmehr eine hälftige Aufteilung des Überschusses an beide Parteien
angezeigt. Ein nicht begründeter Entscheid kommt einer Rechtsverweigerung
gleich, was ebenfalls eine Verletzung von Art. 4 BV darstellt (BGE 107
Ia 2). Der angefochtene Entscheid ist daher in Dispositiv Ziffer II.1,
welche den der Beschwerdeführerin zukommenden Unterhaltsbeitrag festsetzt,
aufzuheben.

Erwägung 4

    4.- Wie von keiner Seite bestritten wird, hörte die Unterhaltspflicht
des Beschwerdegegners gegenüber seiner Tochter am 1. Mai 1982 und gegenüber
seinem Sohn am 1. Mai 1983 auf. Indessen war er aufgrund des früheren
Massnahmenentscheids des Appellationshofs vom 9. August 1979 verpflichtet,
der Beschwerdeführerin für sich und die Kinder einen Gesamtbetrag von
Fr. 1'050.-- pro Monat zu bezahlen, ohne dass die einzelnen Alimente
ausgeschieden worden wären. Auch hat der Beschwerdegegner nach Eintritt
der Mündigkeit bzw. der wirtschaftlichen Selbständigkeit der beiden
Kinder nicht um eine Abänderung oder Berichtigung des Unterhaltsbeitrags
ersucht, sondern er hat vielmehr ein Abänderungsgesuch im Jahre 1983
ohne Grundangabe wieder zurückgezogen. Der Beschwerdegegner wurde auch
in späteren Vollstreckungsverfahren immer wieder darauf aufmerksam
gemacht, dass eine Verrechnung der zuviel bezahlten Alimente ohne
genaue Ausscheidung der Beträge durch den zuständigen Richter nicht
möglich sei (vgl. auch den Entscheid des Bundesgerichts vom 31. Januar
1984 i.S. S. gegen S. und Appellationshof des Kantons Bern). Wenn
der Beschwerdegegner trotzdem erst am 7. November 1983 ein Gesuch
um Anpassung des geschuldeten Unterhaltsbeitrags an die veränderten
Verhältnisse stellte, so hat er diesen Umstand selber zu vertreten. Einen
weiter zurückreichenden Anspruch auf Verrechnung zuviel bezahlter
Unterhaltsbeiträge kann er daraus nicht ableiten.

    Die Beschwerdeführerin wendet nämlich mit Recht ein, dass nach
Lehre und Rechtsprechung in aller Regel eine Massnahme frühestens von
dem Zeitpunkt an, in dem das neue Begehren gestellt wurde, aufgehoben
oder abgeändert werden kann. Eine solche Rückwirkung anzuordnen, liegt
allenfalls im Ermessen des Massnahmerichters (BÜHLER/SPÜHLER, N. 445 und
126 zu Art. 145 ZGB). Für eine noch weitergehende Rückwirkung müssten
nach BÜHLER/SPÜHLER, N. 126 zu Art. 145 ZGB, ganz besondere Gründe
gegeben sein, z.B. unbekannter Aufenthalt oder Landesabwesenheit
des Unterhaltspflichtigen, treuwidriges Verhalten einer Partei,
schwere Krankheit des Berechtigten usw. Solche Gründe liegen aber im
vorliegenden Fall offensichtlich nicht vor und wurden vom Appellationshof
im angefochtenen Entscheid auch mit keinem Wort erwähnt. Dieser hat einzig
festgehalten, dass der Beschwerdegegner - mangels eines anderweitigen
Entscheids - nicht verpflichtet sei, länger als nach Gesetz (Art.
277 ZGB) für seine beiden Kinder Unterhaltsbeiträge zu leisten. Für eine
Feststellungs- und Rückforderungsklage, wie sie von W. S. erhoben worden
sei, bestehe im Rahmen des Verfahrens nach Art. 145 ZGB kein Raum. Dem
Beschwerdegegner könne somit höchstens ein Verrechnungsrecht mit seit
dem 1. Mai 1982 bzw. dem 1. Mai 1983 zuviel bezahlten Unterhaltsbeiträgen
zustehen. Die Beiträge für die Kinder hätten sich im übrigen nicht etwa
monatlich auf je Fr. 500.--, wie vom Beschwerdegegner behauptet, sondern
auf je Fr. 460.-- belaufen.

    Diese Begründung genügt auch unter dem bloss beschränkten
Gesichtswinkel des Art. 4 BV keineswegs, um dem Beschwerdegegner
rückwirkend bis zum 1. Mai 1982, also lange vor Einreichung seines
Abänderungsgesuchs vom 7. November 1983, ein Verrechnungsrecht gegenüber
seiner Ehefrau einzuräumen. Weder nennt der Appellationshof besondere
Gründe, die ausnahmsweise ein Abweichen vom Verbot der Rückwirkung
über das Datum des Gesuchs hinaus nach der Lehre zuliessen, noch
setzt er sich mit diesem Grundsatz überhaupt auseinander. Auch hat er
es unterlassen, eine klare Ausscheidung der den Kindern zugestandenen
Alimente in rechtsgenüglicher, d.h. der Vollstreckung zugänglicher Weise
vorzunehmen, obwohl dieser Mangel bisher dem Verrechnungsrecht des
Beschwerdegegners ja gerade entgegenstand. Die lapidare Feststellung
im angefochtenen Entscheid, der Beschwerdegegner habe monatlich je
Fr. 460.-- pro Kind und nicht Fr. 500.-- bezahlt, kann angesichts des
Totalbetrags der Alimente von Fr. 1'050.-- kaum richtig sein; denn auf
diese Weise würde auf die Ehefrau nur gerade der Betrag von Fr. 130.--
(nebst der Wohnung) entfallen. Ein solcher Unterhaltsbeitrag für die
Beschwerdeführerin wäre aber völlig unangemessen. Die Beschwerdeführerin
brauchte sich angesichts der bescheidenen Gesamtalimente auch nicht
gross Gedanken darüber zu machen, dass der Beschwerdegegner nach Eintritt
der Volljährigkeit der Kinder grundsätzlich nicht mehr zu Leistungen an
diese verpflichtet war und sie allenfalls selber ein Abänderungsgesuch
zu stellen hätte. Auf jeden Fall steht es dem Beschwerdegegner schlecht
an, der Beschwerdeführerin nunmehr ein Verhalten gegen Treu und Glauben
vorzuwerfen. Es ist auch fraglich, ob überhaupt eine Bereicherung vorlag,
und wenn ja, wer durch die Leistungen des Beschwerdegegners bereichert
worden wäre, die Beschwerdeführerin oder die Kinder.