Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 111 IB 91



111 Ib 91

22. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 31. Juli 1985 i.S. Schweiz. Eidgenossenschaft gegen Genosssame
Rothenthurm sowie Mitbet. und Eidg. Schätzungskommission, Kreis 9
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Art. 76 Abs. 4 Satz 2 EntG; vorzeitige Besitzeinweisung.

    Die vorzeitige Besitzeinweisung ist zu verweigern, wenn die Gefahr
besteht, dass den Einsprachebegehren bei nachträglicher Gutheissung gar
nicht mehr stattgegeben werden könnte, so, wenn die Durchsetzung der von
den Einsprechern vertretenen Anliegen des Natur- und Landschaftsschutzes
nach Inangriffnahme der Bauarbeiten durch den Enteigner nicht mehr möglich
oder ernsthaft gefährdet wäre.

Sachverhalt

    A.- Im Rahmen des Enteignungsverfahrens für den Waffenplatz
Rothenthurm stellte die Schweizerische Eidgenossenschaft dem Präsidenten
der Eidg. Schätzungskommission, Kreis 9, das Gesuch um vorzeitige
Besitzergreifung von acht Grundstücken. Sechs dieser Grundstücke mit einer
Gesamtfläche von 42'936 m2 (gemäss Beschrieb "Wiesen, Wege und Gewässer
in den Foren") liegen im Bereich der zukünftigen Kasernenanlage. Die
übrigen zwei im Halte von insgesamt 36'080 m2 ("Wiese und Gewässer in
den Foren" bzw. "Schopf, Bienenhaus, Gebäudegrundflächen, Wiese, Wald,
Wege im Almigforen") befinden sich im geplanten Übungsgelände für die
Aufklärungstruppen. Auf diesen Parzellen sollte versuchsweise ein Wegstück
zur Erprobung der geeigneten, die Umgebung am wenigsten belastenden
Bauweise erstellt werden.

    Die Schätzungskommission lehnte am 28. Februar 1985 eine
vorzeitige Besitzeinweisung ab. Gegen diesen Entscheid hat die
durch das Eidg. Militärdepartement handelnde Eidgenossenschaft
Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben. Das Bundesgericht weist die
Beschwerde ab aus folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Sind noch Einsprachen gegen die Enteignung und Begehren
nach den Art. 7-10 EntG hängig, so darf dem Gesuch um vorzeitige
Besitzergreifung - falls die übrigen Bedingungen erfüllt sind - nur
insoweit entsprochen werden, als keine bei nachträglicher Gutheissung nicht
wieder gutzumachende Schäden entstehen (Art. 76 Abs. 4 Satz 2 EntG). Wie
das Bundesgericht bereits im Urteil Erben Bertschy-Ringier (BGE 108 Ib
489) erklärt hat, steht der Besitzergreifung unter diesem Gesichtswinkel
kein Hindernis entgegen, wenn die Möglichkeit besteht, den früheren
Zustand des beanspruchten Bodens wieder herzustellen. Die Höhe der hiefür
notwendigen Kosten, so ist beigefügt worden, sei grundsätzlich ohne Belang,
da der Enteigner das mit der Besitzergreifung verbundene Risiko selbst
zu tragen habe. Da in jenem Falle eine Wiederherstellung des früheren
Zustandes ohne weiteres möglich war, hat das Bundesgericht den Einwand
der Enteigneten, die Ausführung des Werkes präjudiziere den Entscheid
über die Einsprache und das Planänderungsbegehren, zurückgewiesen (BGE
108 Ib 491). Im Urteil SBB gegen Kath. Kirchenstiftung St. Anton (BGE
110 Ib 52) ist erneut betont worden, dass bei der Prüfung der Frage, ob
nicht wieder gutzumachende Schäden entstehen könnten, der tatsächliche
Zustand des zu enteignenden Grundstücks in Betracht zu ziehen und zu
untersuchen sei, zu welchen Veränderungen die Inbesitznahme durch den
Enteigner führe. Falls der Eingriff irreversibel und eine Wiederherstellung
des früheren Zustandes ausgeschlossen sei, müsse die Besitzergreifung
vor Erledigung der Einsprachen verweigert werden (BGE 110 Ib 55). Aus
diesem Urteil geht aber zusätzlich hervor, dass die Möglichkeit der
Wiederherstellung nur insoweit gegeben sein muss, als dies mit Blick
auf die Art und Nutzung des fraglichen Bodens als wesentlich erscheint;
auf unbedeutende Elemente und Aspekte ist keine Rücksicht zu nehmen. So
ist damals als unerheblich betrachtet worden, dass der Enteigner für
den vorgesehenen Schachtbau ein altes Gebäude entfernen musste, weil
dieses auch dem Bauvorhaben der Enteigneten selbst zum Opfer gefallen
wäre. Gewicht wurde ausschliesslich darauf gelegt, ob einerseits die
unmittelbar benachbarte, unter Denkmalschutz stehende Kirche vor Schäden
bewahrt werden könne und ob andererseits bei Gutheissung der Einsprache
der Schacht wieder aufgefüllt und dem Boden die für den geplanten Neubau
der Enteigneten notwendige Festigkeit innert kurzem wieder verliehen
werden könne. Da diese Fragen bejaht werden konnten, ist die vorzeitige
Inbesitznahme bewilligt worden (BGE 110 Ib 56 f.).

    b) Die Beschwerdeführerin stellt diese bundesgerichtliche
Rechtsprechung nicht in Frage, sondern beruft sich ausdrücklich auf
sie und hält fest, dass die von ihr vorzeitig beanspruchten Grundstücke
heute ausschliesslich als Futter- und Mähwiesen genutzt würden und auch
in Zukunft eine andere Nutzung - abgesehen von ihrem eigenen Projekt -
aller Voraussicht nach ausgeschlossen sei. Aus dieser Feststellung,
die zweifellos richtig ist, zieht sie den Schluss, das Schicksal ihres
Gesuches könne einzig davon abhängen, ob bei nachträglicher Gutheissung der
Einsprachen die Wiesenparzellen wieder so hergerichtet werden könnten, dass
sie in gleicher Weise wie heute zu bewirtschaften und zu nutzen wären. Eine
solche Wiederherstellung sei aber durchaus möglich; mit Bestimmtheit werde
sich sogar ein besserer landwirtschaftlicher Ertrag erzielen lassen. Dem
Gesuch um vorzeitige Besitzeinweisung müsse daher entsprochen werden.

    Mit der Beschwerdeführerin kann davon ausgegangen werden, dass die
umstrittene Bodenfläche ohne weiteres wieder in ihren früheren Zustand als
landwirtschaftlich nutzbare Wiesen zurückgeführt und deren Ertrag sogar
gesteigert werden könnte, falls infolge des Einspracheentscheides das Werk
geändert oder auf dieses verzichtet werden müsste. Das genügt aber unter
den konkreten Umständen nicht. Es würde eine vorzeitige Besitzeinweisung
nur erlauben, wenn in den Einsprachen und Planänderungsbegehren einzig
vorgebracht worden wäre, der fragliche Boden dürfe der landwirtschaftlichen
Nutzung nicht entzogen werden. Dem ist aber nicht so. Verschiedene
der Enteigneten verlangen neben anderem, dass das Landschaftsbild, die
Naturschönheiten und insbesondere die spezielle Vegetation im Gebiete
nördlich von Rothenthurm erhalten werden müssten. Der WWF verteidigt in
seiner Einsprache ausschliesslich Landschafts- und Naturschutzinteressen;
etwas anderes wäre ihm nach Art. 12 NHG auch nicht erlaubt. Dass die sich
auf Art. 9 EntG stützenden Einwendungen gegen die Enteignung missbräuchlich
erhoben worden wären - und deshalb in analoger Anwendung von Art. 2 ZGB
nicht zu beachten wären - kann offensichtlich nicht gesagt werden und wird
von der Beschwerdeführerin auch nicht behauptet. Unter diesen Umständen
wäre Art. 76 Abs. 4 Satz 2 EntG nur Genüge getan, wenn die Möglichkeit
bestünde, dem Boden seine früheren natürlichen Eigenschaften zurückzugeben,
die ihn zum Lebensraum einer bestimmten, möglicherweise seltenen Pflanzen-
und Tierwelt werden liessen und die seine landschaftlichen Eigenarten
ausmachten, Merkmale, die hier nicht zum vornherein als unwesentlich
bezeichnet werden können.

    Zwar betont die Beschwerdeführerin zu Recht, dass die Forderung nach
der allfällig möglichen Wiederherstellung des früheren Zustandes nicht
derart weit getrieben werden dürfe, dass die vorzeitige Besitzeinweisung
praktisch in allen Fällen, in denen noch Einsprachen hängig sind,
verweigert werden müsse; eine solche Auslegung würde die mit der
Änderung von Art. 76 Abs. 4 EntG verfolgten Absichten des Gesetzgebers
zunichte machen. Ebensowenig ist aber ins andere Extrem zu fallen und
die vorzeitige Besitzeinweisung auch dort zu gewähren, wo die Gefahr
besteht, dass die Einsprachen durch diese Massnahme illusorisch werden
könnten. Wenn die Gesetzesänderung von 1971 das Ziel verfolgte, das
Enteignungsverfahren zu beschleunigen und die missbräuchliche Erhebung
von Einsprachen, die oft nur als Druckmittel gegen den Enteigner dienten,
zu verhindern (vgl. die Botschaft des Bundesrates vom 20. Mai 1970, BBl
1970 I S. 1014), so sollte die Reform doch keineswegs dazu führen, dass
die Einsprachen ihren Sinn verlören und das Einspracheverfahren zu einem
Leerlauf würde. Bezeichnenderweise wird in der zitierten bundesrätlichen
Botschaft unterstrichen, "im Hinblick auf rechtsstaatliche Bedenken" bleibe
die Neuerung in jenen Fällen ausgeschlossen, in denen bei nachträglicher
Gutheissung mit nicht wieder gutzumachenden Schäden gerechnet werden
müsse. Die Rechtsstaatlichkeit wäre aber offensichtlich nicht mehr
gewährleistet, wenn die Einsprachebehörden, die über den Eingriff des
Enteigners zu entscheiden haben, vor vollendete Tatsachen gestellt würden.

    c) Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass die Schätzungskommission
mit Grund annehmen durfte, die in Art. 76 Abs. 4 Satz 2 EntG umschriebene
Voraussetzung für eine Besitzeinweisung sei nicht erfüllt. An eine
Wiederherstellung der heutigen Gestalt des Bodens und der bestehenden
Flora und Fauna nach Durchführung der geplanten Bauarbeiten - für die
Einzelheiten kann auf den angefochtenen Entscheid verwiesen werden -
ist offensichtlich nicht zu denken. Was die Beschwerdeführerin in diesem
Zusammenhang weiter vorbringt, vermag nicht zu überzeugen.

    Zwar ist die Kritik an der Feststellung der Schätzungskommission,
dass die Wiederherstellung des früheren Zustandes des Bodens "in seiner
Gesamtheit", auch hinsichtlich der natürlichen chemisch-physikalischen
Beschaffenheit und der hydrologischen Verhältnisse, verlangt werden dürfe,
einigermassen verständlich. Mag diese Formulierung nach dem Gesagten
auch etwas zu weit gehen, so hat indessen die Schätzungskommission -
wie ebenfalls dargelegt - in der Sache selbst richtig argumentiert und
entschieden.

    Dass das zukünftige Kasernenareal weder im Schutzgebiet
gemäss BLN (Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler
von nationaler Bedeutung; vgl. Objekt 1308 "Moorlandschaft
Rothenthurm-Altmatt-Biberbrugg") noch in der vom Kanton Schwyz
ausgeschiedenen Planungszone liegt, muss noch nicht heissen, dass dieser
Boden nicht schutzwürdig sei, ganz abgesehen davon, dass er zu einem der
Schutzobjekte des KLN-Inventars 1979 gehört. Inwiefern er tatsächlich
Erhaltung oder Schonung verdiene, ist nicht im vorliegenden, sondern im
Einspracheverfahren abzuklären, in welchem die verschiedenen auf dem
Spiele stehenden öffentlichen und privaten Interessen gegeneinander
abzuwägen sind. Auch der Einwand, der Boden sei bei weitem nicht mehr
unberührt, sondern durch menschliche Eingriffe - landwirtschaftliche
Nutzung, Entwässerungen, Torfausbeutung usw. - schon umgestaltet und
verändert, ist deshalb ins Einspracheverfahren zu verweisen. Für die
hier in Anwendung von Art. 76 Abs. 4 Satz 2 EntG zu entscheidende Frage
ist einzig massgebend, dass die in den Einsprachen vertretenen Anliegen
des Natur- und Landschaftsschutzes nicht als völlig abwegig erscheinen
und ihre Durchsetzung durch die baulichen Vorkehren der Enteignerin
verunmöglicht oder jedenfalls ernsthaft gefährdet würde. Diese
Feststellung konnte und durfte die Schätzungskommission gestützt auf
das Fachwissen ihrer Mitglieder und den Rat des zusätzlich beigezogenen
Sachverständigen treffen, ohne ein besonderes Gutachten anfertigen zu
lassen. Auch das Bundesgericht kann von der Anordnung einer Expertise -
wie sie von der Beschwerdeführerin verlangt wird - absehen; diese würde
einerseits den Rahmen des vorliegenden Verfahrens sprengen, andererseits
dem Einspracheverfahren vorbehaltene Abklärungen vorwegnehmen. Wohl hat
das Bundesgericht im bereits erwähnten Besitzeinweisungsverfahren SBB
gegen Kath. Kirchenstiftung St. Anton (BGE 110 Ib 52) einen Experten
beigezogen, doch lag jener Fall völlig anders, da die vorzeitige
Besitzeinweisung aufgrund einer unzutreffenden Auslegung des Begriffs
"nicht wieder gutzumachender Schaden" verweigert und der Sachverhalt
bzw. die Möglichkeit, den früheren Zustand wieder herzustellen, überhaupt
nicht untersucht worden war.

    Selbst wenn die Schätzungskommission, wie von der Beschwerdeführerin
geltend gemacht, ihre Befürchtungen über die nachteiligen Auswirkungen der
Bauarbeiten übertrieben hätte, so wäre nicht aus der Welt zu schaffen,
dass das Risiko solcher nicht wieder gutzumachender Beeinträchtigungen
nicht ausgeschlossen werden kann. Die Beschwerde erweist sich somit in
diesem Punkte als offensichtlich unbegründet.