Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 111 IB 68



111 Ib 68

16. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 29. Mai 1985 i.S. X. gegen Eidg. Justiz- und Polizeidepartement
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Verfahren; Art. 100 lit. b Ziff. 2 und 4 OG.

    1. Die Beschwerde gegen einen bevorstehenden Wegweisungsentscheid
ist verfrüht (E. 1).

    2. Die Abschiebung eines Ausländers in ein Land, in welchem ihm eine
schwerwiegende menschenrechtswidrige Behandlung droht, kann Art. 3 EMRK
verletzen (E. 2).

    3. Recht auf eine wirksame Beschwerde nach Art. 13 EMRK. Inwiefern
ist diese Bestimmung direkt anwendbar? (E. 3)

    4. Der Ausschluss der Verwaltungsgerichtsbeschwerde in Asylfällen
hält vor Art. 13 EMRK stand. Auch der verwaltungsinterne Rechtsweg kann
eine wirksame Beschwerde sein (E. 4).

Sachverhalt

    A.- X., offenbar ernsthaft von Blutrache bedroht, flüchtete vor
der Nachstellung durch die Familie einer von einem Dritten getöteten
Schwägerin und liess Frau und Kinder in der Türkei zurück. Das
Bundesamt für Polizeiwesen verweigerte ihm das Asyl mit der Begründung,
dass Blutrache-Gefahr kein Asylgrund sei. Das Eidg. Justiz- und
Polizeidepartement wies die dagegen gerichtete Verwaltungsbeschwerde
durch Entscheid vom 10. Januar 1985 ab.

    B.- Mit rechtzeitiger Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 11. Januar 1985
beantragt X., der Entscheid des Departements sei aufzuheben und ihm das
Asyl zu gewähren; eventuell sei die Sache zur Ergänzung des Sachverhalts
an die Vorinstanz zurückzuweisen. Zur Begründung führt er an, er habe nach
Art. 3 EMRK (Verbot unmenschlicher Behandlung) Anspruch darauf, in der
Schweiz bleiben zu können; andernfalls müsste er, weil ihn kein anderes
Land aufnähme, in die Türkei zurückkehren, wo er ohne staatlichen Schutz
der konkret drohenden Blutrache ausgeliefert wäre. Nach Art. 13 EMRK habe
er Anspruch auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz,
welches Erfordernis beim Entscheid eines Departements der eidgenössischen
Regierung nicht erfüllt sei.

    C.- Das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement beantragt in seiner
Vernehmlassung vom 21. März 1985, auf die Beschwerde nicht einzutreten. Zur
Begründung wird dargelegt, dass der Departementsentscheid gemäss
Asylgesetz endgültig und die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nach OG
ausgeschlossen sei. Gegen einen allfälligen Wegweisungsentscheid des
Bundesamtes für Polizeiwesen stünde die Beschwerde an das Eidg. Justiz-
und Polizeidepartement offen.

    Das Bundesgericht tritt auf die Beschwerde nicht ein.

Auszug aus den Erwägungen:

                  Auszug aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde richtet sich gegen den
Asylverweigerungs-Entscheid des Eidg. Justiz- und Polizeidepartements,
indirekt und gewissermassen vorsorglicherweise aber auch gegen einen
allfälligen künftigen Wegweisungsentscheid. Die Art. 3 und 13 EMRK
werden auf jeden Fall, auch nach der Meinung des Beschwerdeführers,
nur aktuell, wenn er infolge der Wegweisung zur Rückkehr in die Türkei
gezwungen wäre. Ob diese Eventualität eintritt, ist offen, solange keine
Wegweisung verfügt ist. Die Beschwerde ist daher - soweit sie sich gegen
den Wegweisungsentscheid richtet - verfrüht, weshalb in diesem Punkt
darauf nicht eingetreten werden kann.

Erwägung 2

    2.- a) Die EMRK enthält kein ausdrückliches Recht auf Asylgewährung
oder auch nur auf Einreise in ein fremdes Land und Aufenthalt daselbst. Die
Europäische Menschenrechtskommission hat jedoch in einer Reihe von
Fällen erklärt, dass sich Ansätze zu einem solchen Recht aus Art. 3 EMRK,
insbesondere aus dem darin enthaltenen Verbot unmenschlicher Behandlung
ergeben; denn die Vertragsstaaten hätten sich verpflichtet, die freie
Ausübung ihrer völkerrechtlichen Befugnisse, inbegriffen das Recht zur
Kontrolle der Ein- und Ausreise von Fremden sowie die Auslieferung im
Umfang der Verpflichtungen zu beschränken, die sie mit Unterzeichnung
der EMRK eingegangen sind. Auch das allgemeine Völkerrecht enthält
Regeln, welche die freie Ausübung des Asyl- und Auslieferungsrechts
durch die Staaten beschränken. Der Grundsatz des "non-refoulement",
d.h. das Verbot, eine Person in ein Land auszuliefern oder abzuschieben,
in welchem ihr eine schwerwiegende menschenrechtswidrige Behandlung droht,
ist Völkergewohnheitsrecht (W. KÄLIN, Das Prinzip des Non-Refoulement, Bern
1982; ERMACORA/NOWAK/TRETTER, Die Europäische Menschenrechtskonvention in
der Rechtsprechung der österreichischen Höchstgerichte, Wien 1983, S. 177
ff.; Digest of Strasbourg Case-Law relating to the European Convention on
Human Rights, vol. 1, 1984, S. 117 ff.; vgl. auch VPB 1983 N. 62). Die
Europäische Menschenrechtskommission hat wiederholt erkannt, dass es eine
"unmenschliche Behandlung" im Sinne von Art. 3 EMRK sein könne, einen
Ausländer in ein Land abzuschieben oder auszuliefern, in welchem die durch
die EMRK garantierten Rechte grob verletzt werden; Art. 3 EMRK ist bereits
verletzt, wenn eine Person in ein bestimmtes Land abgeschoben wird, in
welchem ihr mit erheblicher Wahrscheinlichkeit eine Art. 3 EMRK verletzende
Behandlung droht. In der Lehre wird die Auffassung vertreten, dies gelte
auch für die Wegweisung, wenn die Person praktisch keine andere Möglichkeit
hat, als sich in das Land zu begeben, wo ihr die Menschenrechtsverletzung
droht (ERMACORA/NOWAK/TRETTER, aaO, S. 178, unter Berufung auf V. LIEBER,
Die neuere Entwicklung des Asylrechts im Völkerrecht und Staatsrecht unter
besonderer Berücksichtigung der schweizerischen Asylpraxis, Zürich 1973).

    b) Art. 13 EMRK gewährt für den Fall, dass die durch die EMRK
garantierten Rechte und Freiheiten verletzt werden, dem Verletzten das
Recht, eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz einzulegen. Da
eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch Wegweisung infolge Asylverweigerung
unter den gegebenen Umständen nicht von vornherein ausgeschlossen werden
kann, ist zu prüfen, ob im schweizerischen Recht die durch Art. 13 EMRK
geforderte wirksame Beschwerde an eine nationale Instanz gewährleistet
ist oder vom Bundesgericht gewährleistet werden könnte.

Erwägung 3

    3.- Gegen die Asylverweigerung und die Wegweisung ist die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ausgeschlossen (Art. 100 lit. b Ziff. 2
und 4 OG). Diese Ausschlussbestimmungen wurden vor Ratifikation der EMRK
durch die Schweiz erlassen. Die EMRK, als ein von der Bundesversammlung
genehmigter Staatsvertrag, ist für die rechtsanwendenden Behörden nicht
weniger verbindlich als die Bundesgesetze (Art. 113 Abs. 3 BV); sie geht
als jüngeres Recht den früher erlassenen Bundesgesetzen, unter Umständen
auch jüngerem Gesetzesrecht vor. Würden die Ausschlussbestimmungen des
OG dazu führen, dass in einem Fall, der die durch die EMRK garantierten
Rechte und Freiheiten tangiert, die wirksame Beschwerde an eine nationale
Instanz fehlt, so hätten die Ausschlussbestimmungen allenfalls vor Art. 13
EMRK zurückzuweichen.

    Voraussetzung dafür ist allerdings, dass Art. 13 EMRK unmittelbar
anwendbar (self-executing) ist, was davon abhängt, ob die Bestimmung
justiziabel ist, d.h. vom Richter in die Wirklichkeit umgesetzt
werden kann (BGE 15. Oktober 1982 i.S. Eggs, E. 3a mit Hinweisen,
auszugsweise wiedergegeben in SJIR 1982, 290 ff.; vgl. auch L. WILDHABER,
Erfahrungen mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, ZSR 1979,
229 ff., bes. S. 340). Grundsätzlich geht Art. 13 EMRK die unmittelbare
Anwendbarkeit ab, denn die Bestimmung erfordert die Schaffung einer
nationalen Beschwerdeinstanz; diese Aufgabe kann an sich nur der
Gesetzgeber erfüllen; es gibt indessen Fälle, in welchen die direkte
Anwendbarkeit von Art. 13 EMRK nicht ausgeschlossen ist. Im vorliegenden
Fall könnte der Beschwerdeführer den Entscheid des Eidg. Justiz-
und Polizeidepartementes beim Bundesgericht anfechten, wenn die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht durch die Ausschlussbestimmungen
(Art. 100 lit. b OG) ausgeschlossen wäre. Das Gericht brauchte indessen
nur die Ausschlussbestimmungen nicht anzuwenden, um die wirksame Beschwerde
zu gewährleisten, wenn diese tatsächlich durch die Ausschlussbestimmungen
verhindert würde; Justiziabilität wäre gegeben.

    Wie es sich mit dem erst nach Inkrafttreten der EMRK erlassenen
Asylgesetz (SR 142.31) verhält, das den Departementsentscheid über die
Asylverweigerung und die damit zusammenhängende Wegweisung für endgültig
erklärt (Art. 11 Abs. 2 und Art. 21a Abs. 2), kann offenbleiben.

Erwägung 4

    4.- Aus der Stellung von Art. 13 in der Konvention, aus seinem Wortlaut
im Vergleich zu den Art. 5 und 6 und aus der Entstehungsgeschichte folgern
herrschende Lehre und Rechtsprechung, dass nicht unbedingt eine Beschwerde
an eine Gericht gewährleistet sein muss, damit sie als "wirksam" bezeichnet
werden kann; eine Beschwerdemöglichkeit an eine Verwaltungsbehörde kann
genügen. Erforderlich ist, dass der Beschwerdeführer Anspruch auf Prüfung
seiner Vorbringen hat, und dass die Beschwerdebehörde den angefochtenen
Akt gegebenenfalls aufheben kann; ausserdem müssen die rechtsstaatlich
notwendigen minimalen Verfahrensrechte gewährleistet sein, namentlich
der Anspruch auf rechtliches Gehör und auf Begründung des Entscheides
(T.A. WETZEL, Das Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen
Instanz (Art. 13 EMRK) und seine Ausgestaltung in der Schweiz, Basel
1983, S. 96 ff., mit zahlreichen Hinweisen).

    Der Beschwerdeführer behauptet nicht, und es ist auch nicht
ersichtlich, dass die Beschwerdemöglichkeit gegen die asylrechtlichen und
fremdenpolizeilichen Verfügungen des Bundesamtes für Polizeiwesen an das
Eidg. Justiz- und Polizeidepartement diesen allgemeinen Erfordernissen
nicht entsprechen würde; die Lehre nimmt denn auch an, dass die
Verwaltungsbeschwerde an ein Departement als Beschwerdemöglichkeit im
Sinne von Art. 13 EMRK genügt (WETZEL, aaO, S. 159). Das Eidg. Justiz- und
Polizeidepartement hat eine umfassende Kognition; der Beschwerdeführer kann
insbesondere ganz allgemein (Art. 49 VwVG) die Verletzung von Bundesrecht
rügen, wozu auch die EMRK zählt. Der Beschwerdeführer behauptet einzig, aus
der Unterordnung des Bundesamtes für Polizeiwesen unter das Eidg. Justiz-
und Polizeidepartement ergebe sich, dass die beiden Behörden voneinander
nicht völlig unabhängig seien. An der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit
der Beschwerdeinstanz wäre dann zu zweifeln, wenn diese mehr oder weniger
an die Auffassungen der untergebenen Verfügungsinstanz gebunden wäre
(WETZEL, aaO, S. 101 N 255); doch dies ist im Verhältnis zwischen dem
Eidg. Justiz- und Polizeidepartement und dem Bundesamt für Polizeiwesen
offensichtlich nicht der Fall. Es besteht daher kein Anhaltspunkt dafür,
dass die Beschwerdemöglichkeit an das Departement den Erfordernissen von
Art. 13 EMRK nicht entspricht.

    Damit halten auch die Ausschlussbestimmungen (Art. 100 lit. b Ziff. 2
und 4 OG) vor der EMRK stand. Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
kann daher auch nicht eingetreten werden, soweit sie sich gegen die
Asylverweigerung richtet.