Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 111 IA 355



111 Ia 355

61. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 20. Dezember 1985 i.S.
E. S. gegen Bank X. und Obergericht des Kantons Zürich (staatsrechtliche
Beschwerde) Regeste

    Frist für die staatsrechtliche Beschwerde, unrichtige
Rechtsmittelbelehrung, Wiederherstellung.

    Wird der Entscheid einer unteren kantonalen Instanz aufgrund einer
unrichtigen Rechtsmittelbelehrung, auf die sich der Beschwerdeführer
verlassen konnte, zuerst bei der oberen kantonalen Instanz angefochten und
tritt diese in der Folge auf das Rechtsmittel nicht ein, so beginnt die
Frist für die Einreichung der staatsrechtlichen Beschwerde dennoch mit der
Zustellung des unterinstanzlichen Entscheids zu laufen. Als Rechtsgrundlage
für eine Erstreckung der Beschwerdefrist kommt nur die Wiederherstellung
im Sinne von Art. 35 OG in Frage. Das Wiederherstellungsgesuch ist jedoch
binnen zehn Tagen nach Wegfall des Hindernisses, d.h. nach Kenntnisnahme
des oberinstanzlichen Entscheids, einzureichen.

Sachverhalt

    A.- E. S. erhob gegen die im Nachlass ihres Vaters als
Willensvollstreckerin tätige Bank X. verschiedene Beschwerden, die vom
Einzelrichter im summarischen Verfahren am Bezirksgericht Horgen mit
Verfügungen vom 9. April und 4. Juli 1985 abgewiesen wurden, soweit sich
nicht Gegenstandslosigkeit ergab. Die Rekurse der Beschwerdeführerin
gegen diese Verfügungen wurden vom Obergericht des Kantons Zürich mit
Entscheid vom 25. Juli 1985 abgewiesen. Dabei wurde die Beschwerdeführerin
darauf hingewiesen, sie könne gegen den obergerichtlichen Entscheid beim
Kassationsgericht des Kantons Zürich Nichtigkeitsbeschwerde führen. Das
Kassationsgericht trat jedoch mit Entscheid vom 2. Oktober 1985 auf die
Nichtigkeitsbeschwerde nicht ein, mit der Begründung, Einzelrichter und
Obergericht hätten als Aufsichtsbehörden über den Willensvollstrecker
entschieden, weshalb die Nichtigkeitsbeschwerde nach § 284 ZPO ZH nicht
zulässig sei.

    Mit Eingabe vom 4. November 1985 hat E. S. beim Bundesgericht gegen den
Entscheid des Obergerichts vom 25. Juli 1985 staatsrechtliche Beschwerde
erhoben. Das Bundesgericht tritt auf die Beschwerde nicht ein.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

    Der angefochtene Entscheid wurde der Beschwerdeführerin nach deren
eigenen Angaben am 7. August 1985 zugestellt. Die staatsrechtliche
Beschwerde wurde jedoch gemäss Poststempel erst am 4. November 1985 zur
Post gegeben und ist daher verspätet. Die Beschwerdeführerin hält die
Beschwerde deswegen für rechtzeitig, weil sie erst mit dem Entscheid des
Kassationsgerichts vom 2. Oktober 1985 Kenntnis von der Unzulässigkeit
der Nichtigkeitsbeschwerde erhalten habe. Sie ist offenbar der Auffassung,
die Frist zur Einrichtung der staatsrechtlichen Beschwerde gegen den
Entscheid des Obergerichts habe aus diesem Grund erst mit der Zustellung
des Entscheids des Kassationsgerichts zu laufen begonnen. Das wäre
aber mit dem Wortlaut von Art. 89 Abs. 1 OG nicht vereinbar, gemäss
welchem der Beginn des Fristenlaufs von der nach dem kantonalen Recht
massgebenden Eröffnung des angefochtenen Entscheids abhängt, kann
doch nicht zweifelhaft sein, dass die Zustellung des obergerichtlichen
Entscheids nach dem kantonalen Recht eine gültige Eröffnung darstellte,
selbst wenn die Rechtsmittelbelehrung unrichtig war.

    Als Rechtsgrundlage für eine Erstreckung der Beschwerdefrist
kommt einzig Art. 35 Abs. 1 OG in Frage. Nach dieser Bestimmung kann
Wiederherstellung gegen die Folgen der Versäumung einer Frist nur dann
erteilt werden, wenn der Gesuchsteller oder sein Vertreter durch ein
unverschuldetes Hindernis abgehalten worden ist, innert der Frist zu
handeln, und wenn er binnen zehn Tagen nach Wegfall des Hindernisses
die Wiederherstellung verlangt und die versäumte Rechtshandlung
nachholt. Als unverschuldetes Hindernis im Sinne dieser Vorschrift
gilt nach der Rechtsprechung auch eine von der zuständigen Behörde
erteilte unrichtige Rechtsmittelbelehrung, sofern sich der Betroffene
nach den Umständen darauf verlassen durfte (BGE 98 Ia 608, 96 II 265,
92 I 78, 85 II 147/148, 76 I 357). Im vorliegenden Fall durfte die
Beschwerdeführerin, die nicht über besondere juristische Kenntnisse
verfügt, aufgrund der Rechtsmittelbelehrung des Obergerichts in guten
Treuen annehmen, dessen Entscheid sei mit Nichtigkeitsbeschwerde und
somit nicht mit staatsrechtlicher Beschwerde anfechtbar. Sie wurde daher
durch ein unverschuldetes Hindernis davon abgehalten, rechtzeitig die
staatsrechtliche Beschwerde einzureichen. Dieses Hindernis fiel erst
mit der Kenntnisnahme des kassationsgerichtlichen Entscheids dahin.

    Das Wiederherstellungsgesuch ist jedoch nach Art. 35 Abs. 1 OG binnen
zehn Tagen nach Wegfall des Hindernisses einzureichen, und innert der
gleichen Frist ist auch die versäumte Rechtshandlung nachzuholen (was
in BGE 98 Ia 608 E. 4 offenbar übersehen wurde). Es ist einzuräumen,
dass dem Beschwerdeführer dadurch die Beschwerdefrist praktisch auf
zehn Tage verkürzt wird. Das gilt aber auch für Beschwerdeführer, die
durch ein anderes (z.B. physisches) Hindernis davon abgehalten werden,
rechtzeitig zu handeln. So hat beispielsweise ein wegen schwerer
Erkrankung Verhinderter auch nicht die volle Beschwerdefrist zur
Verfügung, wenn er die Beschwerde innert zehn Tagen seit seiner Genesung
einreichen muss. Diese Härte liegt in der Ordnung der Wiederherstellung
begründet, wie sie in Art. 35 OG ausgestaltet worden ist. Darüber darf
sich das Bundesgericht nicht hinwegsetzen, auch nicht unter Hinweis
auf den in Art. 107 Abs. 3 OG und Art. 38 VwVG für das Gebiet der
Bundesverwaltungsrechtspflege festgehaltenen Grundsatz, dass den Parteien
aus einer unrichtigen Rechtsmittelbelehrung keine Nachteile erwachsen
dürfen. Abgesehen davon hat der Beschwerdeführer, der aufgrund einer
unrichtigen Rechtsmittelbelehrung zunächst ein unzulässiges kantonales
Rechtsmittel eingelegt hat und nach dem Entscheid der Rechtsmittelinstanz
um Wiederherstellung der Beschwerdefrist ersucht, entsprechend länger
Zeit gehabt, sich mit dem angefochtenen Entscheid auseinanderzusetzen.

    Der kassationsgerichtliche Entscheid, mit dessen Kenntnisnahme
das Hindernis für die rechtzeitige Einreichung der staatsrechtlichen
Beschwerde dahinfiel, wurde der Beschwerdeführerin am 4. Oktober 1985
zugestellt. Die vorliegende Eingabe wurde jedoch erst am 4. November 1985
zur Post gegeben. Sofern man darin überhaupt ein Wiederherstellungsgesuch
erblicken wollte, wäre es klarerweise erst nach Ablauf der zehntägigen
Wiederherstellungsfrist eingereicht worden. Auf die Beschwerde kann daher
nicht eingetreten werden.