Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 111 IA 273



111 Ia 273

48. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 29.
November 1985 i.S. Dr. X gegen Gerichtskommission See und Kantonsgericht
(Rekurskommission) des Kantons St. Gallen (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste

    Art. 4 BV; rechtliches Gehör.

    Ordnungsbusse wegen Nichterscheinen eines Anwalts zu einem
Gerichtstermin; Tragweite des Anspruchs auf rechtliches Gehör.

Sachverhalt

    A.- Rechtsanwalt Dr. X. war von dem in Untersuchungshaft befindlichen
jugoslawischen Staatsangehörigen N.A. als Verteidiger in dessen
Strafsache bestimmt. Ein ursprünglich für den 12. April 1984 vorgesehener
Gerichtstermin des Bezirksgerichts See (Kanton St. Gallen) wurde auf
Wunsch des Verteidigers auf den 10. Mai 1984 verschoben. Da der Haftbefehl
bis zum 15. April 1985 befristet war, von einer Haftverlängerung jedoch
abgesehen werden sollte, wurde N.A. am 14. April aus der Haft entlassen und
aus der Schweiz ausgeschafft. Dies hatte zur Folge, dass der Angeklagte von
der Pflicht zur Teilnahme an der Gerichtsverhandlung befreit wurde. Dem
Verteidiger, der von diesen Vorgängen keine Kenntnis hatte, wurde durch
einen nachträglichen Vermerk auf einer zweiten Vorladung mitgeteilt,
dass der Angeschuldigte von der Teilnahmepflicht an der Verhandlung
dispensiert sei. Am Vormittag des 10. Mai 1984 teilte der Verteidiger
der Gerichtskanzlei des Bezirksgerichts See telefonisch mit, er werde
an der auf 15.15 Uhr festgesetzten Verhandlung in Sachen N.A. nicht
teilnehmen. Die Gerichtskommission See behandelte die Strafsache
gleichwohl und verurteilte den Angeklagten zu 11 Wochen Gefängnis, 5
Jahren Landesverweisung und erklärte eine früher verhängte Strafe als
vollstreckbar. Im gleichen Urteil auferlegte sie dem Verteidiger wegen
Trölerei eine Ordnungsbusse von Fr. 50.--.

    Der Verteidiger focht das Urteil, soweit es die ihm auferlegte
Ordnungsbusse betraf, rechtzeitig mit Rechtsverweigerungsbeschwerde beim
Kantonsgericht St. Gallen an. Die Rekurskommission verwarf die vom
Beschwerdeführer erhobene Rüge der Gehörsverletzung und stellte fest,
es sei aufgrund der Umstände nicht willkürlich gewesen, das Verhalten
des Beschwerdeführers als Trölerei zu werten und ihm eine Ordnungsbusse
aufzuerlegen. Dementsprechend wurde die Beschwerde kostenfällig abgewiesen.

    Eine gegen diesen Entscheid gerichtete Beschwerde wies das
Bundesgericht ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird zunächst durch das
massgebende kantonale Verfahrensrecht umschrieben. Sind die kantonalen
Vorschriften ungenügend, greift der unmittelbar aus Art. 4 BV fliessende
bundesrechtliche Minimalanspruch Platz.

    Im vorliegenden Fall beruft sich der Beschwerdeführer nicht auf
das kantonale Recht. Es ist daher einzig zu prüfen, ob der angefochtene
Entscheid vor Art. 4 BV standhält (Art. 90 Abs. 2 lit. b OG). Der vom
Beschwerdeführer ebenfalls angerufene Art. 6 EMRK verschafft keine
weitergehenden Rechte als Art. 4 BV (BGE 109 Ia 178). Eine gesonderte
Überprüfung des angefochtenen Entscheids auf seine Vereinbarkeit mit
Art. 6 EMRK erübrigt sich daher.

    b) Nach der neueren bundesgerichtlichen Rechtsprechung bestimmt sich
die Tragweite des Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht vorab aufgrund
der Verfahrensart (Zivil-, Straf- oder Verwaltungsverfahren), sondern
nach der konkreten Interessenlage im Einzelfall. Zu berücksichtigen ist
das Bedürfnis des Privaten, gehört zu werden, welches dort besonders
intensiv ist, wo die Gefahr der Beschwerung durch einen staatlichen
Hoheitsakt besteht. Ferner ist der Dringlichkeit und der Tragweite der
Anordnung Rechnung zu tragen; im weitern ist namentlich von Bedeutung,
ob der angefochtene Entscheid frei in Wiedererwägung gezogen werden kann
bzw. ob ein die volle Überprüfung gestattendes Rechtsmittel gegeben ist
(BGE 105 Ia 196 f., mit Hinweisen).

    c) Disziplinarfehler im Laufe eines gerichtlichen Verfahrens
werden im Normalfall durch das Prozessgericht "séance tenante"
geahndet. Je nach Art des Sachverhalts können Inhalt und Umfang des
Gehörsanspruches variieren. Soll bloss eine Busse zur Ahndung einer
Ordnungswidrigkeit ausgesprochen werden, erwächst der Gehörsanspruch
nicht aus dem persönlichkeitsbezogenen Mitwirkungsrecht des
Betroffenen, sondern höchstens aus der allfälligen Notwendigkeit
zur Sachabklärung. Wird beispielsweise mutwillig oder trölerisch
prozessiert, in den Rechtsschriften oder in den Parteivorträgen der
gebotene Anstand missachtet, ein Termin nicht eingehalten, ergibt
sich mithin der Disziplinarfehler aus dem aktenkundigen Verhalten des
Betroffenen selbst, so vermag eine zusätzliche Anhörung in der Regel
den Sachverhalt nicht weiter zu erhellen. In solchen Fällen erübrigt
es sich unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, dem Betroffenen
vorgängig des Disziplinarentscheids Gehör zu gewähren. Dies zumal dann,
wenn der Entscheid frei in Wiedererwägung gezogen werden kann bzw. ein
die volle Überprüfung gestattendes Rechtsmittel gegeben ist, so dass sich
der Gebüsste im nachhinein vollumfänglich Gehör verschaffen kann. In
diesem Sinne ist der in SJZ 1981, S. 188, wiedergegebene Brief des
Bundesgerichtspräsidenten zu präzisieren.

    d) Im vorliegenden Fall ist der Beschwerdeführer der Sitzung
vom 10. Mai 1984, welche auf sein Betreiben angesetzt worden war,
ferngeblieben. Die Gerichtskommission legte dem Beschwerdeführer im
Bussenentscheid zur Last, durch die von ihm veranlasste Verschiebung
das Verfahren unnötig verzögert, d.h. den Strafverfolgungsbehörden die
speditive Erledigung erschwert zu haben, ohne daraus irgendwelchen
prozessualen Nutzen zu ziehen. Diese Auffassung war im damaligen
Zeitpunkt naheliegend, nachdem der Beschwerdeführer zwar am Vormittag
des Verhandlungstages sein Ausbleiben angekündigt hatte, jedoch ohne
irgendwelche Erklärung. Unter diesen Umständen war die Gerichtskommission
nicht gehalten, sich vor Ausfällung der Busse von Fr. 50.-- beim
Beschwerdeführer nach den Gründen des Ausbleibens zu erkundigen. Anderes
würde nach dem in lit. c Gesagten höchstens dann gelten, wenn der
Bussenbeschluss nicht frei in Wiedererwägung gezogen bzw. mit einem die
volle Überprüfung gestattenden Rechtsmittel angefochten werden konnte. Dies
ist jedoch nicht der Fall. Art. 194 Abs. 6 des st. gallischen Gesetzes
über die Zivilrechtspflege (ZPO), der gemäss Art. 3 Abs. 2 des Gesetzes
über die Strafrechtspflege auch für das Strafverfahren gilt, gibt nämlich
dem Gebüssten die Möglichkeit, sich zu entschuldigen, womit nach der vom
Beschwerdeführer nicht angefochtenen Darstellung des Kantonsgerichts nicht
eine Entschuldigung im umgangssprachlichen Sinne gemeint ist, sondern das
Vorbringen von Einwänden gegen die Busse, welche gegebenenfalls zu einer
Abänderung oder einem Widerruf des Bussenerkenntnisses führen können. Mit
einer solchen Regelung wurde dem Gehörsanspruch im vorliegenden Fall
genügend Rechnung getragen.