Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 111 IA 196



111 Ia 196

36. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 6. September 1985 i.S. Schweizerischer Kaufmännischer Verband und
Mitbeteiligte gegen Kanton Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Stimmrechtsbeschwerde. Grundsatz der Einheit der Materie.

    1. Begriff und Bedeutung (E. 2b).

    2. Keine Verletzung des Grundsatzes der Einheit der Materie durch
die Volksabstimmung im Kanton Zürich über das "Gesetz über die Änderung
der Aufgabenteilung zwischen dem Kanton und den Gemeinden sowie über den
Lastenausgleich mit den Städten Zürich und Winterthur" (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Am 13. August 1984 beschloss der Zürcher Kantonsrat ein
"Gesetz über die Änderung der Aufgabenteilung zwischen dem Kanton und
den Gemeinden sowie über den Lastenausgleich mit den Städten Zürich und
Winterthur". Damit werden einzelne Gesetze neu erlassen sowie in Kraft
stehende Gesetze geändert; neben weitern Erlassen wird ein "Gesetz über
die Trägerschaft der Berufsschulen" neu geschaffen. Dieses ermächtigt
den Kanton unter anderem, private Berufsschulen dann zu übernehmen, wenn
die Eigenleistungen der privaten Trägerschaft weniger als 10 Prozent der
anrechenbaren Betriebsausgaben der Schule betragen.

    Die Gesetzesvorlage unterlag dem obligatorischen Referendum. Mit
Eingabe vom 16. November 1984 erhoben der Schweizerische Kaufmännische
Verband, sieben weitere kaufmännische Vereinigungen sowie eine im Kanton
Zürich stimmberechtigte Privatperson staatsrechtliche Beschwerde beim
Bundesgericht. Sie rügen unter anderem eine Stimmrechtsverletzung wegen
Missachtung des Prinzips der Einheit der Materie. Das Bundesgericht weist
die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Mit der Stimmrechtsbeschwerde wird die Verletzung des Grundsatzes
der Einheit der Materie gerügt.

    a) Bei Stimmrechtsbeschwerden prüft das Bundesgericht nicht nur
die Auslegung von Bundesrecht und kantonalem Verfassungsrecht frei,
sondern auch diejenige anderer kantonaler Vorschriften, die den Inhalt
des Stimm- und Wahlrechts regeln oder mit diesem eng zusammenhängen. In
ausgesprochenen Zweifelsfällen schliesst es sich der Argumentation der
obersten kantonalen Behörde an; als solche gelten das Parlament und das
Volk (BGE 109 Ia 47 E. 3b mit Hinweisen).

    b) Der Grundsatz der Einheit der Materie ist im zürcherischen Recht
nur hinsichtlich der Volksinitiative ausdrücklich verankert. Nach §
4 Abs. 1 Ziff. 4 des Gesetzes über das Vorschlagsrecht des Volkes vom
1. Juni 1969 ist eine Initiative ungültig, "die Begehren verschiedener Art
enthält, die keinen inneren Zusammenhang aufweisen, es sei denn, dass es
sich um eine Initiative auf Gesamtrevision der Staatsverfassung handelt".

    Der Grundsatz gilt jedoch auch allgemein von Bundesrechts wegen. Das
vom Verfassungsrecht des Bundes gewährleistete politische Stimmrecht gibt
dem Bürger unter anderem Anspruch darauf, dass kein Abstimmungsergebnis
anerkannt wird, das nicht den freien Willen der Stimmbürger zuverlässig und
unverfälscht zum Ausdruck bringt (BGE 108 Ia 157 E. 3b). Daraus wird unter
anderem das generell gültige Prinzip der Einheit der Materie abgeleitet,
wonach verschiedene Materien nicht zu einer Abstimmungsvorlage verbunden
werden dürfen (BGE 104 Ia 223 E. 2b mit Hinweisen).

    Das Bundesgericht stellt bei der Konkretisierung des Grundsatzes
der Einheit der Materie an eine behördliche Vorlage weniger strenge
Anforderungen als an ein Volksbegehren. Der Grund dafür liegt darin, dass
es neben der in beiden Fällen angestrebten Gewährleistung des politischen
Stimmrechts bei den Initiativen zusätzlich darum geht, die missbräuchliche
Ausübung des Initiativrechts zu verhindern, da die Vereinigung mehrerer
Postulate die Unterschriftensammlung übermässig erleichtert (BGE
99 Ia 182 E. 3b mit Hinweisen). Das Prinzip der Einheit der Materie
hat sodann in den verschiedenen Bereichen politischer Willensbildung
unterschiedliches Gewicht. So besteht die weiteste Gestaltungsfreiheit
im Bereich der Gesetzesvorlage. Dabei ist der Grundsatz gewahrt, sofern
mit dem fraglichen Gesetz eine bestimmte Materie geregelt werden soll und
die einzelnen, zu diesem Zweck aufgestellten Vorschriften zueinander in
einer sachlichen Beziehung stehen. Der Stimmbürger hat mithin keinen
verfassungsmässigen Anspruch darauf, dass ihm einzelne, allenfalls
besonders wichtige Vorschriften eines Gesetzes, das eine bestimmte Materie
regelt, gesondert zur Abstimmung vorgelegt werden. Er muss sich vielmehr
auch dann für die Gutheissung oder Ablehnung der ganzen Gesetzesvorlage
entscheiden, wenn er mit einzelnen Vorschriften nicht einverstanden ist
(BGE 99 Ia 646 E. 5b mit Hinweisen).

    Das Prinzip der Einheit der Materie überlässt schliesslich der
zuständigen Behörde vielfach einen Gestaltungsspielraum. Von Ausnahmen
abgesehen, die hier nicht zutreffen, steht es den Kantonen frei, einzelne
Postulate, die einer einheitlichen Materie entsprechen, gemeinsam oder
gesondert zur Abstimmung zu bringen. Der Grundsatz verbietet bloss,
verschiedene Fragen ohne inneren Zusammenhang zu vereinigen, nicht aber,
verschiedene Fragen mit innerem Zusammenhang zu trennen. Steht sowohl die
Möglichkeit einer einheitlichen wie einer getrennten Abstimmung offen,
hat der Stimmbürger keinen verfassungsmässigen Anspruch darauf, dass die
Behörde sich für diese oder jene Variante entscheidet.

Erwägung 3

    3.- Die Anwendung dieser Kriterien auf den vorliegenden Fall führt
zu folgendem Ergebnis:

    a) Das Gesetz über die Änderung der Aufgabenteilung zwischen
dem Kanton und den Gemeinden sowie über den Lastenausgleich mit den
Städten Zürich und Winterthur (ALG) bezweckt, wesentliche Teile der
kantonalen Finanzstrukturen neu zu ordnen und die Lasten zwischen Kanton
und Gemeinden sachgerechter zu verteilen. Der Abstimmungsvorlage liegen
gemäss "Beleuchtendem Bericht" des Regierungsrates folgende drei Hauptziele
zugrunde:

    "1. Verbesserte Übereinstimmung von Kompetenzen und

    Finanzierungsverantwortung durch Aufgabenentflechtung;

    2. Klare Aufgabenzuteilung an die einzelnen Körperschaftsebenen und
   damit Stärkung des föderalistischen Grundelements unseres Staatsaufbaus;

    3. Einsparungen durch Verwaltungsvereinfachungen, Verminderung des
   administrativen Aufwands der Subventionswirtschaft."

    Einheitliches Anliegen des Gesetzes ist die verbesserte
Lastenverteilung zwischen den einzelnen Gemeinwesen. So sollen die
Kernstädte Zürich und Winterthur durch eine kantonale Subventionierung
ihrer Verkehrsbetriebe entlastet (Art. I ALG) und der allgemeine
Finanzausgleich verbessert (Art. II ALG) werden. Sodann ist vorgesehen,
dass der Kanton auf einen Anteil an den Billettsteuern der Gemeinden
verzichtet (Art. III ALG). Im weitern sollen die Gemeinden von den Aufgaben
der Berufsbildung entlastet werden (Art. IV ALG). Schliesslich sieht
das Gesetz vor, die Lastenverteilung zwischen Kanton und Gemeinden
im Bereich des Volksschul- und Kindergartenwesens neu zu regeln (Art.
V bis VII ALG). Es ist offensichtlich und wird von den Beschwerdeführern
dem Grundsatz nach auch nicht bestritten, dass all diese Neuordnungen
in einem finanzpolitischen Sachzusammenhang stehen. Die einzelnen
Massnahmen sind darauf ausgerichtet, ein gemeinsames Ziel - eine bessere
innerkantonale Finanzordnung - zu erreichen. Der Grundsatz der Einheit
der Materie ist somit gewahrt. Der Kanton Zürich war daher unter dem
Blickwinkel des verfassungsmässig garantierten politischen Stimmrechts
befugt, die einzelnen Massnahmen dem Stimmbürger in einer einheitlichen
Vorlage gesamthaft zur Abstimmung zu unterbreiten. Dass gegebenenfalls
auch die Möglichkeit bestanden hätte, die Vorlage aufzuteilen und mehrere
Abstimmungsfragen zu stellen, ändert an der Zulässigkeit des gewählten
Vorgehens nichts. Nach dem Gesagten besteht kein Anspruch der Stimmbürger,
dass die kantonale Behörde sich von zwei möglichen Varianten für die eine
oder die andere entscheidet.

    b) Mit der Stimmrechtsbeschwerde wird die gerügte Verletzung des
Prinzips der Einheit der Materie nicht damit begründet, dass mehrere
finanzpolitische Postulate in einem einheitlichen Erlass vereinigt
wurden. Beanstandet wird vielmehr, dass dem Kanton gleichzeitig die
Möglichkeit eröffnet wird, bisher privat betriebene Berufsschulen unter
bestimmten Voraussetzungen zu übernehmen.

    Diese Argumentation verkennt, dass die kaufmännischen Schulen nur
einen Teil der allgemeinen Berufsschulen ausmachen und in das Gesamtsystem
der Berufsbildung integriert sind. Dieses System aber weist nach der
bisherigen Ordnung eine differenzierte Struktur auf. So werden die
gewerblich-industriellen Berufsschulen allgemein durch die Gemeinden des
Standortes betrieben und getragen. Ausserkommunale Berufsschulen dieser
Richtung bilden die Ausnahmen (z.B.: Berufsschule Horgen, getragen durch
einen privaten Verein; Schweizerische Frauenfachschule Zürich, getragen
durch eine öffentlichrechtliche Anstalt; Luftverkehrsschule Swissair;
Berufsschule Sulzer). Demgegenüber haben die kaufmännischen Berufsschulen
durchwegs eine private Trägerschaft, jene der lokalen kaufmännischen
Vereine.

    Im Vernehmlassungsverfahren, das dem Erlass des Gesetzes vorangegangen
ist, verlangten siebzig Gemeinden eine Übernahme der Berufsschulen
durch den Kanton. Die Aufgabenentflechtung im Berufsbildungswesen
wurde als erstrangiges Anliegen bezeichnet, da die Gemeinden vorab die
massiven finanziellen Belastungen als unverhältnismässig zur praktisch
fehlenden Autonomie in der Betriebsgestaltung der Schulen beanstandeten
(Vernehmlassungsbericht der Finanzdirektion des Kantons Zürich zur
Aufgabenteilung zwischen Kanton und Gemeinden vom Juli 1981, S. 23
ff.). Der angenommene Erlass trägt diesen Anliegen Rechnung. Zwischen den
beteiligten Gemeinwesen war dabei offenbar stets unbestritten, dass mit
einer Übernahme der Finanzlasten auch die Trägerschaft dieser Berufsschulen
auf den Kanton übergehen sollte. Diese Ordnung erscheint denn auch ohne
weiteres sachgerecht. Die Identität von wirtschaftlicher und betrieblicher
Trägerschaft erscheint in jeder Hinsicht als zweckmässig. Durfte aber die
wirtschaftliche Trägerschaft unter dem Blickwinkel der Einheit der Materie
in einem Gesamterlass neu geordnet werden, so gilt das ohne weiteres auch
für die gleichzeitig notwendige Neuordnung der betrieblichen Trägerschaft.

    Gleiches muss für die Berufsschulen gelten, die nicht durch die
Gemeinden, sondern durch andere öffentlichrechtliche oder private
Organisationen getragen werden. Auch diese Berufsschulen sind nicht
selbsttragend, sondern im wesentlichen von Beiträgen des Gemeinwesens
abhängig. Sie sind wirtschaftlich, aber auch unterrichtsmässig in
das Gesamtgefüge des staatlichen Berufsbildungswesens integriert; sie
haben praktisch nur hinsichtlich der betrieblichen Trägerschaft eine
Sonderstellung. Die Neuordnung der finanziellen Leistungen des Gemeinwesens
an diese Berufsschulen rechtfertigte es unter dem Blickwinkel der Einheit
der Materie, auch eine betriebliche Zuständigkeitsordnung zu erlassen. Die
Frage des inneren Sachzusammenhangs stellt sich hier nicht anders als bei
den bisher kommunal betriebenen Berufsschulen. Dass die öffentlichen und
die privaten Schulträger von einheitlichen Regelungen betroffen werden,
ist in bezug auf das politische Stimmrecht ohne Belang. Das einheitliche
Ziel des streitigen Gesetzes wird durch die unterschiedlichen Auswirkungen
auf einzelne Betroffene nicht verändert. Es genügt vielmehr dem Erfordernis
der Einheit der Materie.

    c) Zusammenfassend ergibt sich, dass die streitige Vorlage das
politische Stimmrecht der Bürger nicht verletzt. Die Stimmrechtsbeschwerde
ist daher unbegründet.