Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 111 IA 191



111 Ia 191

35. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
19. Juni 1985 i.S. Hanspeter Bartsch und "Grüne Spatzen" sowie Erich
Grädel und SAP gegen Grossen Rat des Kantons Basel-Stadt (staatsrechtliche
Beschwerden) Regeste

    Grossratswahlen im Kanton Basel-Stadt. Unzulässigkeit der
Unterlistenverbindung.

    Das Bundesgericht schliesst sich der Argumentation des Grossen Rates
des Kantons Basel-Stadt als oberster kantonaler Behörde an, wonach der
basel-städtische Gesetzgeber die Zulässigkeit der Unterlistenverbindung
durch qualifiziertes Schweigen ausgeschlossen hat (E. 3 und 4).

Sachverhalt

    A.- Die Progressiven Organisationen Basel (POB), die Partei der Arbeit
(PdA), die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) und der Verein "Grüne
Spatzen" vereinbarten für die basel-städtischen Grossratswahlen vom 27.,
28. und 29. Februar 1984 eine Listenverbindung. Die SAP und die "Grünen
Spatzen" erklärten im Einvernehmen mit den beiden andern Organisationen,
innerhalb dieser Listengruppe eine Unterlistenverbindung eingehen
zu wollen. Das Kontrollbüro des Polizei- und Militärdepartements des
Kantons Basel-Stadt teilte der SAP und den "Grünen Spatzen" mit, dass bei
kantonalen Wahlen eine Unterlistenverbindung mangels gesetzlicher Grundlage
unzulässig sei. Die von ihnen vereinbarte Unterlistenverbindung werde
daher auf den amtlichen Wahlzetteln nicht aufgeführt, nicht öffentlich
bekanntgemacht und bei der Verteilung der Mandate für den Grossen Rat,
Amtsperiode 1984 bis 1988, nicht berücksichtigt. Ungeachtet eines dagegen
erhobenen Rekurses wurden die Wahlen wie angekündigt durchgeführt. Die im
Kantonsblatt Basel-Stadt vom 11. Februar 1984 veröffentlichten Ergebnisse
zeigten, dass im Wahlkreis Grossbasel-West bei der Verteilung der Mandate
innerhalb der Listengruppe POB/PdA/SAP/"Grüne Spatzen" der im zweiten
Umgang zu verteilende Sitz als fünftes Mandat den POB zufiel, womit
Georges Degen als gewählt galt. Im Wahlkreis Kleinbasel fiel innerhalb
dieser Listengruppe bei der zweiten Verteilung ein Mandat den POB und
bei der dritten Verteilung ein Sitz der PdA zu; damit erhielt die PdA
insgesamt zwei Sitze; der zweite Sitz fiel Luise Stebler zu. Die SAP und
die "Grünen Spatzen" erhoben Wahleinsprache, da sie bei Berücksichtigung
der Unterlistenverbindung das Mandat Luise Steblers beziehungsweise jenes
Georges Degens erlangt hätten. Am 22. März 1984 validierte der Grosse
Rat des Kantons Basel-Stadt die Wahlen unter gleichzeitiger Abweisung
der Einsprachen.

    Erich Grädel und die SAP sowie Hanspeter Bartsch und die "Grünen
Spatzen" führen mit Eingaben vom 2. beziehungsweise 7. Mai 1984
staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht. Sie rügen eine Verletzung
des Stimm- und Wahlrechts und beantragen im wesentlichen, die Validierung
der Wahl von Luise Stebler beziehungsweise von Georges Degen durch den
Grossen Rat des Kantons Basel-Stadt aufzuheben. Das Bundesgericht weist
die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Im Kanton Basel-Stadt wird der Grosse Rat wahlkreisweise
nach dem Proporzsystem gewählt (§§ 52 ff. WG). Die Sitze werden im
Verhältnis zur Listenstimmenzahl verteilt (§ 65 WG), die auf der
Methode Hagenbach-Bischoff beruht. In der ersten Verteilung erhält
jede Liste sovielmal einen Sitz zugeteilt, als die Wahlzahl in ihrer
Gesamtstimmenzahl enthalten ist (§ 65 Abs. 3 WG). Die übriggebliebenen
Sitze werden den einzelnen Listen in weiteren Verteilungen nach dem
jeweils grössten Quotienten zugeteilt (§ 65 Abs. 4 WG). Das Wahlgesetz
lässt auch die Listenverbindung zu; die Vorschrift von § 57 WG lautet
(Fassung vom 11. Oktober 1979):

    § 57. Die so entstandenen definitiven Wahlvorschläge heissen Listen.

    Sie werden jede auf einem besonderen Blatt nach der vorgeschlagenen

    Reihenfolge der Kandidaten gedruckt und für jeden Wahlkreis mit einer

    Ordnungsnummer versehen. An diesen Listen darf nichts mehr geändert
   werden. Die Wahlvorschläge einer Partei oder Gruppe sollen in allen

    Wahlkreisen die gleiche Nummer erhalten.

    2 Zwei oder mehreren Wahlvorschlägen kann bis spätestens am
   fünftletzten Montag vor dem Wahltag die übereinstimmende Erklärung der

    Unterzeichner (oder ihrer Vertreter) beigefügt werden, dass die

    Vorschläge miteinander verbunden seien (verbundene Listen). Eine Gruppe
   miteinander verbundener Listen gilt gegenüber andern Listen als eine

    Liste.

    3 Die Listenbezeichnung und eine allfällige Erklärung betreffend

    Listenverbindung werden auf der Liste abgedruckt.

    4 Wenn Wahlvorschläge gleiche Überschriften tragen, so fordert das

    Polizei- und Militärdepartement die Vertreter der Vorschläge auf, die
   notwendigen Unterscheidungen anzubringen. Sofern dies nicht innert zwei

    Tagen geschieht, werden diese Listen durch eine weitere besondere

    Ordnungsnummer unterschieden.

    5 Das Polizei- und Militärdepartement macht die Listen mit ihren

    Bezeichnungen und ihren Ordnungsnummern öffentlich bekannt. Bei
   verbundenen Listen wird die Listenverbindung mitgeteilt.

    Die Behandlung der Listenverbindung bei der Zuteilung der Sitze wird
in § 65 Abs. 5 WG wie folgt geregelt:

    5 Jede Gruppe miteinander verbundener Listen wird bei der Verteilung
   der Sitze zunächst als eine einzige behandelt. Die Gesamtzahl der auf
   sie entfallenden Sitze wird sodann auf die Einzellisten der Gruppe unter
   entsprechender Anwendung der Vorschriften dieses Paragraphen verteilt.

    Die Unterlistenverbindung wird im basel-städtischen Wahlgesetz weder
ausdrücklich geregelt noch erwähnt.

    b) Es ist unbestritten, dass bei Berücksichtigung der
Unterlistenverbindung SAP/"Grüne Spatzen" im Wahlkreis Kleinbasel ein
Sitz der SAP zugefallen wäre, während die PdA einen Sitz, jenen von
Luise Stebler, verloren hätte. Ebensowenig ist bestritten, dass im Fall
der Beachtung der Unterlistenverbindung im Wahlkreis Grossbasel-West
das Georges Degen zugefallene Mandat der POB von den "Grünen Spatzen"
gewonnen worden wäre.

    c) Die SAP und die "Grünen Spatzen" machen geltend, die
Unterlistenverbindung hätte zugelassen und berücksichtigt werden
müssen. Nach Ansicht der SAP ergibt sich das entweder durch Auslegung
aus dem Wortlaut von § 57 Abs. 2 WG oder durch Lückenfüllung. Eine solche
ergebe sich aus sinngemässer Auslegung und Analogieschluss. Die "Grünen
Spatzen" räumen zwar ein, dass das Gesetz die Unterlistenverbindung nicht
ausdrücklich regle; doch besteht auch ihrer Meinung nach im Wahlgesetz
eine auslegungsbedürftige Lücke. Die Unterlistenverbindung sei der
logische Ausbau der Listenverbindung und diene der besseren Ausnützung
der Stimmkraft und der besseren Proportionalität. Sie entspreche somit
der im Wahlgesetz enthaltenen Grundidee des Verhältniswahlsystems. Die
Vermutung spreche für die Zulässigkeit der Unterlistenverbindung.

    Der Grosse Rat begründet demgegenüber den angefochtenen Entscheid
damit, dass die Nichterwähnung der Unterlistenverbindung im Gesetz als
qualifiziertes Schweigen auszulegen sei. Zudem liege keine hinreichende und
vorbehaltlose Zustimmung aller an der Listenverbindung beteiligten Parteien
zur Unterlistenverbindung vor. Schliesslich sei die Unterlistenverbindung
weder veröffentlicht noch auf den Wahllisten abgedruckt worden; es fehle
somit auch an einer gehörigen Bekanntgabe an die Wähler.

Erwägung 4

    4.- a) Bei Stimm- und Wahlrechtsbeschwerden prüft das Bundesgericht
nicht nur die Auslegung von Bundesrecht und kantonalem Verfassungsrecht
frei, sondern auch diejenige anderer kantonaler Vorschriften,
die den Inhalt des Stimm- und Wahlrechts regeln oder mit diesem eng
zusammenhängen. In ausgesprochenen Zweifelsfällen schliesst es sich der
Argumentation der obersten kantonalen Behörde an; als solche gelten das
Parlament und das Volk (BGE 109 Ia 47 E. 3b mit Hinweisen).

    b) Wie erwähnt, enthält das basel-städtische Wahlgesetz keine
ausdrückliche Regelung über die Unterlistenverbindung; es nennt dieses
Institut auch nicht. Es stellt sich daher die Frage, ob sich eine
Regelung der Unterlistenverbindung durch Auslegung ermitteln lasse, ob
eine Gesetzeslücke vorliege, die zu Gunsten der Unterlistenverbindung
auszufüllen sei, oder ob der Gesetzgeber die Unterlistenverbindung durch
sogenannt qualifiziertes Schweigen bewusst ausgeschlossen habe.

    c) Der Wortlaut der Vorschriften von § 57 Abs. 2 und § 65
Abs. 5 WG ist klar und eindeutig. Keine der Bestimmungen lässt
darauf schliessen, dass auch Untergruppen innerhalb der einzelnen
Listengruppen geregelt werden sollten. Die Unterlistenverbindung ist
denn auch nicht genau dasselbe wie eine Listenverbindung auf unterer
Stufe; den unterverbundenen Listen stehen nicht mehr sämtliche an
der Wahl teilnehmenden Listen, sondern nur noch jene innerhalb der
Obergruppenverbindung gegenüber. Schon dieser qualitative Unterschied
spricht gegen die Annahme, dass unter dem Begriff "Listenverbindung"
gemäss § 57 WG auch die Unterlistenverbindung verstanden werden kann. Zu
keinem andern Ergebnis führt der Beizug der Gesetzesmaterialien. Soweit
ersichtlich, war nie von der Unterlistenverbindung die Rede. Auch das
heutige Verständnis der Begriffe bestätigt das. Wo heute in Bund und
Kantonen die Unterlistenverbindung positiv oder negativ geregelt ist,
sprechen die Gesetze stets von der "Unterlistenverbindung" im Unterschied
zur "Listenverbindung". Die Auslegung der massgebenden Vorschriften
lässt somit den Schluss nicht zu, dass die Unterlistenverbindung im
basel-städtischen Wahlgesetz geregelt sei.

    Mehr für sich hat die Annahme, dass eine Gesetzeslücke vorliege,
die durch eine Regelung der Unterlistenverbindung auszufüllen wäre. Es
ist unbestritten, dass im Kanton Basel-Stadt bisher noch nie eine
Unterlistenverbindung vorgekommen ist und dass davon weder bei der
Totalrevision des Wahlgesetzes von 1976 noch bei der Teilrevision von 1979
jemals die Rede war. Weshalb der Gesetzgeber die Unterlistenverbindung
weder positiv noch negativ ausdrücklich geregelt hat, lässt sich
nicht belegen. Es ist daher durchaus denkbar, dass an das Problem der
Unterlistenverbindung gar nicht gedacht wurde, weil es gar nie aktuell
geworden war. Da das Wahlgesetz im übrigen eine vollständige Regelung
enthält, ist die Annahme einer Gesetzeslücke nicht von vornherein
von der Hand zu weisen. Namentlich angesichts des Umstandes, dass der
basel-städtische Gesetzgeber die frühere bundesrechtliche Regelung (Art. 7
des Bundesgesetzes betreffend die Wahl des Nationalrates vom 14. Februar
1919) 1923 und durch die unveränderte Belassung wiederum 1979 wörtlich
übernommen hat und dass die Unterlistenverbindung bei eidgenössischen
Wahlen als zulässig erachtet und auch zugelassen worden war, erscheint
eine Lückenfüllung zu Gunsten der Unterlistenverbindung als naheliegende
Lösung. Dies um so mehr, als die Unterlistenverbindung als logische Folge
der Listenverbindung aufgefasst werden kann.

    Ebenso gute Gründe sprechen jedoch für die Annahme des Grossen Rates,
wonach ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzgebers vorliege. Es ist
unbestritten, dass den Mitgliedern der vorberatenden Kommission des
Grossen Rates zur Revision des früheren, aus dem Jahre 1911 stammenden
Wahlgesetzes der Vorentwurf für ein Bundesgesetz über die politischen
Rechte vom Juni 1973 bekannt war. Dieser sah die Unterlistenverbindung
ausdrücklich vor. Auch wenn aus den Protokollen nicht hervorgeht, dass
hierüber jemals gesprochen worden wäre, ist es ohne weiteres denkbar, in
diesem Schweigen eine Willensäusserung des Gesetzgebers zu sehen. Dafür,
dass der Gesetzgeber die Unterlistenverbindung bewusst nicht gewollt
habe, spricht namentlich sein Bestreben, das kantonale Wahlgesetz an
das damals in Vorbereitung stehende Bundesgesetz über die politischen
Rechte anzupassen.

    Ein Vergleich der vorstehend umrissenen Lösungsmöglichkeiten
zeigt, dass eine Regelung der Unterlistenverbindung nicht auf dem Weg
der Auslegung ermittelt werden kann. Dagegen kommen die Annahme einer
Gesetzeslücke, die durch eine Ordnung der Unterlistenverbindung auszufüllen
wäre, sowie jene eines qualifizierten Schweigens des Gesetzgebers als
naheliegende Lösungen in Frage. Da beide im wesentlichen als gleichwertig
zu betrachten sind, liegt ein ausgesprochener Zweifelsfall vor. Das
Bundesgericht schliesst sich daher praxisgemäss der Argumentation des
Grossen Rates als oberster kantonaler Behörde an (E. 4a). Demzufolge
ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber des Kantons Basel-Stadt die
Zulässigkeit der Unterlistenverbindung durch qualifiziertes Schweigen
ausgeschlossen habe. Unter diesen Umständen kann im angefochtenen
Validierungsbeschluss keine Verletzung des Stimm- und Wahlrechts gesehen
werden.