Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 111 IA 176



111 Ia 176

32. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 4.
Oktober 1985 i.S. Toni Keller gegen Regierungsrat des Kantons Thurgau
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Unfallversicherung; Willkür (Art. 4 BV).

    1. Es verstösst gegen das Willkürverbot (Art. 4 BV), eine kantonale
Gesetzesbestimmung mit der - unzutreffenden - Begründung, diese
widerspreche Bundesrecht (in concreto Art. 116 Abs. 2 und 91 Abs. 2 Satz
2 UVG), nicht in Kraft zu setzen (E. 3c).

    2. Der Vorbehalt abweichender Abreden gemäss Art. 91 Abs. 2 UVG
betreffend Prämienzahlungspflicht für die obligatorische Versicherung
gegen Nichtberufsunfälle gilt auch für generell-abstrakte Normen des
kantonalen Rechts (E. 3c/aa).

Sachverhalt

    A.- Toni Keller ist seit 1965 Lehrer in Amriswil. Gemäss einer ihm
damals gegebenen Zusicherung war er auf Kosten der Schulgemeinde Amriswil
gegen Berufs- und Nichtberufsunfälle versichert. Am 15. November 1983
beschloss die Behörde der Oberstufenschulgemeinde Amriswil, ihren Lehrern
0,325 Prozent des AHV-pflichtigen Einkommens (maximal Fr. 69'600.--) als
Prämienanteil für die Nichtberufsunfallversicherung vom Lohn abzuziehen;
sie stützte diesen Beschluss auf eine entsprechende Mitteilung des
Sanitäts- und Erziehungsdepartements des Kantons Thurgau (publiziert
im Schulblatt vom September 1983), die den Schulgemeinden ein solches
Vorgehen als rechtlich zwingend nahelegte.

    Gegen diesen Beschluss, der den Lehrern mit Schreiben vom 3. Januar
1984 mitgeteilt wurde, gelangte Toni Keller an das Sanitäts- und
Erziehungsdepartement und anschliessend an den Regierungsrat des Kantons
Thurgau; beide Instanzen wiesen seine Beschwerden ab.

    Mit rechtzeitiger staatsrechtlicher Beschwerde vom 1. November 1984
gelangt Toni Keller wegen Verletzung von Art. 4 BV ans Bundesgericht mit
folgenden Anträgen:

    "1. Es sei der angefochtene Entscheid des Regierungsrates des

    Kantons Thurgau Nr. 1587 vom 2.10.1984 aufzuheben.

    2. a. Es sei der Regierungsrat des Kantons Thurgau anzuweisen, § 60

    Abs. 1 und 2 des thurgauischen Gesetzes über das Unterrichtswesen
   (Unterrichtsgesetz) vom 15.11.1978 in Kraft zu setzen;

    b. Es sei die Schulgemeinde Amriswil zu verpflichten, auch die

    Prämie der Versicherung des Beschwerdeführers für Nichtberufsunfälle
   vollständig zu tragen;

    unter Kosten- und Entschädigungsfolgen."

    In seiner Vernehmlassung vom 11. Januar 1985 beantragt das Finanz-,
Forst- und Militärdepartement namens des Regierungsrates des Kantons
Thurgau die kostenfällige Abweisung der Beschwerde.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Am 24. Juni 1979 haben die Thurgauer Stimmberechtigten das
Gesetz über das Unterrichtswesen vom 15. November 1978 (UG) gutgeheissen,
dessen § 60 lautet:

    "1 Die Schulträger haben ihre Lehrer für die Folgen von Betriebs- und

    Nichtbetriebsunfällen sowie für die Berufshaftpflicht zu versichern
   oder sich einer vom Kanton abgeschlossenen Kollektiv-Versicherung
   anzuschliessen.

    2 Die Versicherungsprämien sind durch den Schulträger zu bezahlen.

    3 Der unfallbedingte Erwerbsausfall und die Heilungskosten sind für
   mindestens zwei Jahre voll zu decken."

    Das gleiche Gesetz (§§ 59 und 69 Ziff. 5 lit. b und c) sowie das
revidierte Lehrerbesoldungsgesetz (§ 6) legen fest, dass die Regelung der
finanziellen Seite des Anstellungsverhältnisses der Lehrer ausschliesslich
Sache des Kantons sei. Zur Vermeidung einer unerwünschten Lohnkonkurrenz
unter den Schulgemeinden sollten sog. "Ortszulagen" in die vom Kanton
einheitlich festzulegenden Lehrergrundbesoldungen einbezogen werden.

    Der Regierungsrat setzte das Unterrichtsgesetz auf den 1. März 1980 in
Kraft, mit Ausnahme des erwähnten § 60, da diese Bestimmung erst zusammen
mit der entsprechenden Vollziehungsverordnung wirksam werden sollte.

    b) Am 1. Januar 1984 trat das Bundesgesetz über die Unfallversicherung
(UVG) in Kraft. Nach dessen Art. 116 Abs. 2 werden u.a. "die kantonalen
Erlasse über die obligatorische Unfallversicherung der Arbeitnehmer
aufgehoben". Art. 91 Abs. 2 UVG legt fest, dass die Prämien für die
obligatorische Versicherung der Nichtbetriebsunfälle zu Lasten des
Arbeitnehmers gehen, wobei aber abweichende Abreden zugunsten des
Arbeitnehmers vorbehalten werden.

    Die ins Auge gefasste spätere Inkraftsetzung von § 60 UG hat sich
nach Auffassung des Regierungsrates durch Art. 116 Abs. 2 UVG erübrigt,
da durch diese Bestimmung § 60 UG - als (wenn auch sehr rudimentärer)
kantonaler Erlass über die obligatorische Unfallversicherung -
ebenfalls aufgehoben worden sei. Das UVG enthalte darüber hinaus keinen
ausdrücklichen Vorbehalt zugunsten weitergehender, für die Arbeitnehmer
günstigerer kantonaler Vorschriften. Auch aus Art. 91 Abs. 2 Satz 2 UVG
ergebe sich nichts anderes, da abweichende Abreden nur zulässig seien,
sofern sie nicht gegen das kantonale Recht verstiessen; da § 6 des
Lehrerbesoldungsgesetzes aber Ortszulagen verbiete, die Übernahme von
Prämien für die Nichtbetriebsunfallversicherung durch die Schulgemeinde
jedoch eine solche Ortszulage darstelle, würden solche vom UVG abweichenden
Abreden gegen kantonales Recht verstossen.

Erwägung 3

    3.- a) Der Beschwerdeführer rügt den angefochtenen Entscheid
des Regierungsrates, der die Abweisung der Beschwerde mit der
Nichtinkraftsetzung von § 60 UG wegen angeblicher Unvereinbarkeit mit
Art. 116 Abs. 2 und Art. 91 Abs. 2 UVG begründet, als willkürlich, weil §
60 Abs. 2 UG sinngemäss eine abweichende Abrede zugunsten des Arbeitnehmers
im Sinne von Art. 91 Abs. 2 Satz 2 UVG darstelle, die von Art. 116 Abs. 2
UVG nicht berührt werde.

    b) Ein Entscheid ist willkürlich, wenn er offensichtlich unhaltbar
ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine
Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in
stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 109 Ia 22).

    c) Der Entscheid des Regierungsrates hält fest, dass § 60 UG
endgültig nicht in Kraft gesetzt werde. Wenn der Regierungsrat als
Exekutive ermächtigt ist, über die Inkraftsetzung eines Gesetzes oder
einzelner Gesetzesbestimmungen zu befinden, so liegt die Entscheidung
darüber nicht in seinem (freien) Belieben. Auf Dauer und damit endgültig
kann er von einer Inkraftsetzung nur absehen, wenn die entsprechende Norm
keinen Bestand (mehr) haben kann, was der Fall ist, wenn ihr Bundesrecht
entgegensteht. Ist dies aber nicht der Fall, handelt der Regierungsrat
willkürlich, indem er durch das dafür zuständige Organ erlassenes
Gesetzesrecht nicht wirksam werden lässt.

    Ob § 60 UG dem UVG widerspricht, wie der Regierungsrat im angefochtenen
Entscheid behauptet, hat das Bundesgericht - weil es um den Vorrang des
Bundesrechts geht - frei und umfassend zu prüfen.

    aa) Nach Art. 116 Abs. 2 UVG sind mit dessen Inkrafttreten kantonale
Erlasse über die obligatorische Unfallversicherung der Arbeitnehmer
dahingefallen. Die Bestimmung nimmt vor allem Bezug auf die obligatorischen
Unfallversicherungen, die in den Kantonen Genf und Tessin schon im
damaligen Zeitpunkt bestanden hatten (Bericht der Expertenkommission
für die Revision der Unfallversicherung vom 14. September 1973, S. 42
ff.). Ob § 60 UG ein Erlass im Sinne von Art. 116 Abs. 2 UVG sei, kann
hier offenbleiben. Fest steht jedenfalls, dass kantonale Erlasse durch
Art. 116 Abs. 2 UVG insoweit nicht aufgehoben werden, als das UVG für
kantonale Regelungen ausdrücklich Raum lässt. Wenn in Art. 91 Abs. 2
Satz 2 UVG von abweichenden "Abreden" und nicht von Rechtssätzen die
Rede ist, so hat dies seinen Grund allein darin, dass das UVG auch auf
die Arbeitnehmer der Privatwirtschaft anwendbar ist und daher in erster
Linie abweichende Abreden (gesamt-)arbeitsvertraglicher Natur im Auge
hat. Daraus darf indessen nicht gefolgert werden, abweichende Regelungen
im Sinne von Art. 91 Abs. 2 Satz 2 UVG müssten in jedem Fall in einer
individuell-konkreten Norm, d.h. in einem privatrechtlichen Arbeitsvertrag
oder einer Anstellungsverfügung enthalten sein. Da finanzielle Ansprüche
im Rahmen öffentlichrechtlicher Anstellungsverhältnisse normalerweise
durch generell-abstrakte Normen geregelt werden, ergäbe sich aus der
regierungsrätlichen Auslegung von Art. 91 Abs. 2 Satz 2 UVG, dass Beamten
und öffentlichrechtlich Angestellten das in jener Bestimmung vorausgesetzte
Privileg gar nie zugestanden werden könnte. Unter abweichenden "Abreden"
im Sinne der erwähnten Bestimmung sind daher auch Rechtssätze zu verstehen,
die das Anstellungsverhältnis des Personals der öffentlichen Hand generell
regeln. Um eine solche Norm handelt es sich bei § 60 UG.

    bb) Der Regierungsrat setzte nach der Annahme des Unterrichtsgesetzes
(UG) dessen § 60 nicht in Kraft, weil er der Auffassung war, die
Bestimmung könnte nicht zur Anwendung gelangen, bevor entsprechende
Ausführungsbestimmungen erlassen worden seien. Solche sind angesichts
der im wesentlich abschliessenden Regelung des UVG inzwischen unnötig, ja
unzulässig geworden. Im angefochtenen Entscheid vertritt der Regierungsrat
nun aber die Ansicht, § 60 könne auch in Zukunft nicht in Kraft gesetzt
werden, weil er im Widerspruch zu den erwähnten Bestimmungen des UVG
stehe. Da die diesem Schluss zugrundeliegende, durch den Regierungsrat
vorgenommene Auslegung der Art. 116 Abs. 2 und Art. 91 Abs. 2 Satz 2 UVG
sich aber als unzutreffend erweist, verstösst der angefochtene Entscheid
(der bewirken würde, dass der dem Beschwerdeführer bis anhin aufgrund einer
entsprechenden Anstellungsvereinbarung mit der Schulgemeinde ausgerichtete
Prämienanteil für die Nichtbetriebsunfallversicherung teilweise durch
ihn zu tragen wäre) gegen das in Art. 4 BV enthaltene Willkürverbot und
ist daher aufzuheben.

    d) Der angefochtene Entscheid liesse sich auch nicht mit der vom
Regierungsrat weiter angeführten Begründung aufrechterhalten, die
Übernahme der Prämien der Nichtbetriebsunfallversicherung der Lehrer
durch die Schulgemeinden verstosse gegen § 6 des Lehrerbesoldungsgesetzes
(Ortszulagenverbot).

    Wie sich aus der Botschaft zur Volksabstimmung vom 24. Juni 1979
ergibt, bezweckte das im Lehrerbesoldungsgesetz enthaltene Verbot
von Ortszulagen der Schulgemeinden, die finanziellen Leistungen an
die Lehrer innerhalb des Kantons zu vereinheitlichen und damit der
Konkurrenz zwischen den Schulgemeinden bezüglich der Anwerbung von
Lehrkräften entgegenzuwirken. Dem Regierungsrat kann insoweit zugestimmt
werden, als die neue Regelung Konzessionen einzelner Schulgemeinden
bezüglich der Übernahme der Prämien der Nichtbetriebsunfallversicherung
ausschliesst. Nun sieht aber gerade § 60 Abs. 2 UG vor, dass sämtliche
Schulgemeinden die Prämien der Nichtbetriebsunfallversicherung der
Lehrer zu übernehmen haben. Der Einwand des Beschwerdeführers, durch
diese Regelung würden in dieser Hinsicht alle Lehrer bzw. Schulgemeinden
gleichgestellt, ist berechtigt: Ein Widerspruch zum Ortszulagenverbot (§
6 des Lehrerbesoldungsgesetzes) ist nicht zu erkennen. Läge ein solcher
vor, so wäre es doch eigenartig, wenn weder beim Erlass des UG noch des
Lehrerbesoldungsgesetzes auf diesen Umstand hingewiesen worden wäre -
besonders nachdem den Schulgemeinden über viele Jahre hinweg schon vom
zuständigen kantonalen Departement die Übernahme dieser Prämien empfohlen
worden war.