Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 111 IA 164



111 Ia 164

30. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
1. Mai 1985 i.S. X. gegen Gemeinde Y. und Regierung des Kantons Graubünden
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV, Art. 4 und 33 RPG; kommunale Zonenplanung; Gehörsanspruch
des Grundeigentümers.

    1. Wird der Antrag auf Umzonung einer Parzelle erstmals in der
Gemeindeversammlung gestellt, kann im Verfahren gemäss Art. 37 des
bündnerischen Raumplanungsgesetzes ohne Verletzung des Anspruchs auf
rechtliches Gehör auf eine nochmalige Planauflage verzichtet werden,
wenn sich der betroffene Grundeigentümer vor der Beschlussfassung an der
Versammlung äussern konnte und davon ausgegangen werden kann, dass er sich
nicht unvorbereitet mit dem betreffenden Antrag auseinandersetzen musste
(E. 2a-c).

    2. Die Bestimmungen von Art. 4 Abs. 1 und 2 RPG stehen in erster Linie
im Dienste der Sachaufklärung und der Mitwirkung der Bevölkerung an der
Planung als politischem Prozess; ein über den Rechtsschutz gemäss Art. 33
und 34 RPG und die unmittelbar aus Art. 4 BV folgenden Minimalgarantien
hinausgehender Anspruch lässt sich aus diesen Bestimmungen nicht ableiten
(E. 2d).

Sachverhalt

    A.- Am 16. Juni 1983 legte der Gemeindevorstand Y. zuhanden der
Gemeindeversammlung vom 24. Juni 1983 eine Vorlage auf Revision des
Zonenplanes und des kommunalen Baugesetzes vor. Vorgängig wurde der
Zonenplanentwurf im Sinne von Art. 37 des Raumplanungsgesetzes für
den Kanton Graubünden vom 20. Mai 1973 (KRG) aufgelegt, und es wurde
den Interessierten Gelegenheit gegeben, Einsprache zu erheben. Die
Zonenplanvorlage des Gemeindevorstandes enthielt mit Bezug auf das
Grundstück von X. keine Änderungen gegenüber dem Zonenplan 1978. X. sah
sich deshalb nicht veranlasst, Einsprache zu erheben. Anlässlich der
Gemeindeversammlung vom 24. Juni 1983 wurde jedoch aus dem Schoss der
Versammlung der Antrag gestellt, das bisher der Zone W2, zweite Etappe,
zugeteilte Gebiet im "Holäwäg" sei in die Landwirtschaftszone um-
bzw. auszuzonen. Die Gemeindeversammlung entsprach diesem Antrag mit 40
gegen 20 Stimmen.

    Gegen diesen Beschluss erhob nebst anderen X. Beschwerde bei der
Regierung des Kantons Graubünden. Er machte unter anderem geltend,
der Umzonungsbeschluss sei auf undemokratische und dem Sinn des Gesetzes
widersprechende Art zustande gekommen. Die Regierung des Kantons Graubünden
wies die Beschwerde am 21. Mai 1984 ab und genehmigte gleichzeitig den
Zonenplan "Überlandquart" vom 24. Juni 1983.

    Eine gegen diesen Entscheid von X. erhobene staatsrechtliche Beschwerde
weist das Bundesgericht ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer macht in formeller Hinsicht in erster Linie
eine Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend. Er führt aus, es habe für
ihn kein Anlass bestanden, sich im Rahmen des in Art. 37 KRG vorgesehenen
Vernehmlassungsverfahrens zu äussern, da die Vorlage des Gemeindevorstandes
für sein Grundstück keine Umzonung vorgesehen habe. Indem die Leitung der
Gemeindeversammlung die definitive Abstimmung nach dem Umzonungsantrag
nicht verschoben habe, um den durch die Planungsmassnahme allenfalls
Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, seien die in Art. 4
des Bundesgesetzes über die Raumplanung vom 22. Juni 1979 (RPG) und Art.
37 KRG garantierten Mitwirkungsrechte an der Planung nicht gewährleistet
worden.

    a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist formeller Natur. Seine
Verletzung führt ungeachtet der Erfolgsaussichten der Beschwerde in der
Sache selbst zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids (BGE 109 Ia 5;
106 Ia 73/74 E. 2, je mit Hinweisen). Die entsprechenden Rügen sind
deshalb vorweg zu prüfen. Der Umfang des Anspruchs auf rechtliches Gehör
wird zunächst durch die kantonalen Verfahrensvorschriften umschrieben,
deren Auslegung und Anwendung das Bundesgericht unter dem Gesichtswinkel
der Willkür prüft. Wo sich dieser kantonale Rechtsschutz als ungenügend
erweist, greifen die unmittelbar aus Art. 4 BV folgenden Verfahrensregeln
zur Sicherung des rechtlichen Gehörs Platz, die dem Bürger in allen
Streitsachen ein bestimmtes Mindestmass an Verteidigungsrechten
gewährleisten. Ob der unmittelbar aus Art. 4 BV folgende Anspruch auf
rechtliches Gehör verletzt ist, prüft das Bundesgericht frei (BGE 110 Ia
85 E. 3b mit Hinweisen).

    b) Gemäss Art. 37 KRG ist für den Erlass und die Änderung von
Zonenplänen unter Vorbehalt der Genehmigung durch die Regierung die
Gemeinde zuständig. Der Gemeindevorstand hat die Stimmberechtigten vor der
Abstimmung angemessen zu orientieren und den Interessierten zu ermöglichen,
Wünsche und Anträge einzureichen. Orientierungs- und Eingabemöglichkeiten
sind in geeigneter und ortsüblicher Weise bekanntzugeben. In Ausführung
dieser Bestimmung verlangt Art. 7 des Baugesetzes der Gemeinde Y. von
1978/83, dass Erlass und Änderung von Zonenplänen während 30 Tagen
öffentlich aufzulegen und Einsprachen innert dieser Frist einzureichen
sind. Die Bestimmung besagt ausdrücklich, dass Zonenplanänderungen der
Abstimmung in der Gemeindeversammlung unterliegen. Der Beschwerdeführer
bestreitet zu Recht nicht, dass in dieser Versammlung grundsätzlich
beliebige Änderungsanträge gegenüber der Vorlage der Gemeindeexekutive
gestellt werden können. Auch behauptet er nicht, dass das Verfahren in
der Gemeindeversammlung vom 24. Juni 1983 abstimmungsrechtlich nicht in
Ordnung gewesen sei.

    Aus dem Wortlaut von Art. 37 KRG lassen sich keine Anhaltspunkte für
das Vorgehen in Fällen finden, in denen der Antrag auf Umzonung einer
Parzelle erstmals in der Gemeindeversammlung gestellt wird. Insbesondere
fehlt jeder Hinweis darauf, dass unter diesen Voraussetzungen vor der
definitiven Beschlussfassung durch die Versammlung eine nochmalige
Planauflage mit Einspracherecht zu erfolgen hätte, wie dies der
Beschwerdeführer verlangt. Klarerweise wird aber mit Art. 37 KRG bezweckt,
im Planungsverfahren das rechtliche Gehör der betroffenen Grundeigentümer
zu sichern. Deshalb kann nicht schlechthin ausgeschlossen werden, dass in
gewissen Fällen die definitive Beschlussfassung in der Gemeindeversammlung
auszusetzen ist, um die betroffenen Grundeigentümer vorgängig über die
beabsichtigte Planänderung zu informieren und individuell anzuhören. Dieses
Vorgehen würde sich jedenfalls dann aufdrängen, wenn es sich bei den
Betroffenen um ausserhalb der Gemeinde wohnhafte Grundeigentümer handeln
würde. Andernfalls wären diese Auswärtigen des Rechts, sich vor einer
Planfestsetzung zu äussern, beraubt, da sie als Nichtstimmberechtigte
weder an der Gemeindeversammlung mitwirken noch auf diese Einfluss
nehmen könnten. Ob in diesen Fällen kantonales oder kommunales Recht eine
Wiederholung des Auflageverfahrens erfordert oder ob das rechtliche Gehör
der Betroffenen, zumindest wenn es sich nur um wenige Grundeigentümer
handelt, durch ein anderes geeignetes Vorgehen gewährleistet werden kann,
ist nicht zu entscheiden, da im hier zu beurteilenden Fall wesentlich
andere Verhältnisse vorliegen. Der Beschwerdeführer ist nämlich in der
Gemeinde Y. stimmberechtigt, hat an der fraglichen Gemeindeversammlung
teilgenommen und sich unbestrittenermassen in einem Diskussionsvotum mit
dem aus der Mitte der Versammlung gestellten Antrag auf Zuweisung seiner
Liegenschaft zur Landwirtschaftszone auseinandergesetzt. Er konnte sich
damit vor der beschlussfassenden Legislative äussern und hat von diesem
Recht auch tatsächlich Gebrauch gemacht.

    Der Beschwerdeführer wendet zwar ein, mangels Planauflage sei ihm
die Möglichkeit genommen worden, "in aller Ruhe in einer schriftlichen
Eingabe" zunächst dem Gemeindevorstand zuhanden der Versammlung die Gründe
darzulegen, welche gegen die Auszonung seiner Parzelle sprächen. Die
Regierung des Kantons Graubünden weist aber in ihrem Entscheid,
gestützt auf die Vernehmlassung der Gemeinde Y., darauf hin, dass der
betreffende Umzonungsantrag in der Gemeinde allgemein erwartet wurde, da
die Unzufriedenheit über die seinerzeitige Einzonung des "Holäwäg" schon
vor der Gemeindeversammlung vom 24. Juni 1983 laut geworden sei. Dies
konnte dem Beschwerdeführer bei den überschaubaren Verhältnissen einer
kleineren Gemeinde wie Y. nicht entgangen sein, zumal er früher das Amt
des Gemeindepräsidenten bekleidet hatte. Bei dieser Sachlage kann keine
Rede davon sein, er habe sich "völlig unvorbereitet" mit dem Antrag
in der Gemeindeversammlung auseinandersetzen müssen, wie dies X. ohne
irgendwelche nähere Substantiierung erstmals vor Bundesgericht behauptet.

    Aufgrund dieser Erwägungen erweist sich die Auffassung der Regierung
des Kantons Graubünden, es habe unter dem Gesichtswinkel von Art. 37 KRG
auf eine nochmalige Planauflage verzichtet werden können, als sachlich
vertretbar.

    c) Der Beschwerdeführer kann auch aus dem unmittelbar aus Art. 4 BV
folgenden minimalen bundesrechtlichen Gehörsanspruch nichts weiteres für
sich herleiten. Dieser Anspruch umfasst nach der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung das Recht des betroffenen Grundeigentümers, bei einer
Änderung des kommunalen Zonenplans individuell angehört zu werden, bevor
über die Zuteilung seines Grundstücks definitiv entschieden wird (BGE 107
Ia 273 ff. mit Hinweisen). Dieses Recht war X. in der Gemeindeversammlung
aber gegeben, wie oben ausgeführt wurde.

    d) X. versucht schliesslich, ein Recht auf Aussetzung der Abstimmung
in der Gemeindeversammlung und Durchführung eines erneuten Planauflage-
und Einspracheverfahrens aus den Bestimmungen von Art. 4 Abs. 1 und 2
RPG abzuleiten. Danach haben die mit Planungsaufgaben betrauten Behörden
die Bevölkerung über Ziele und Ablauf der Planungen nach diesem Gesetz
zu unterrichten; sie haben dafür zu sorgen, dass die Bevölkerung bei
Planungen in geeigneter Weise mitwirken kann. Es handelt sich dabei um
Gesetzgebungsaufträge an die Kantone und allenfalls die Gemeinden. Das
bundesrechtlich geforderte Minimum besteht u.a. darin, Vorschläge
entgegenzunehmen, Planentwürfe zu allgemeiner Ansichtsäusserung
freizugeben und in beiden Fällen Vorschläge und Einwände materiell zu
beantworten. Damit stehen diese Bestimmungen in erster Linie im Dienste
der Sachaufklärung und der Mitwirkung der Bevölkerung an der Planung als
politischem Prozess. Sie bezwecken, den Planungsprozess den Anforderungen
des demokratischen Rechtsstaates anzupassen. Ihre Bedeutung erhalten sie
vor allem da, wo der individuelle Rechtsschutz die Beteiligungsrechte der
Bevölkerung nicht zu gewährleisten vermag (vgl. EJPD/BRP, Erläuterungen
zum Bundesgesetz über die Raumplanung, Bern 1981, Art. 4 N. 1-12 mit
zahlreichen Hinweisen).

    Zwar können einzelne Modalitäten des individuellen Rechtsschutzes
wie das Auflagegebot für Nutzungspläne gemäss Art. 33 Abs. 1 RPG
zugleich der Sachaufklärung der Bevölkerung im Sinne von Art. 4 RPG
dienen (vgl. EJPD/BRP, aaO, Art. 33 Abs. 1 N. 6). Der Rechtsschutz
selber wird aber bundesrechtlich durch die Art. 33 und 34 RPG und den
unmittelbar aus Art. 4 BV folgenden Gehörsanspruch gewährleistet. Ein
darüber hinausgehender Anspruch lässt sich aus Art. 4 RPG jedenfalls
für den vorliegenden Fall nicht ableiten. Die Rüge der Verletzung dieser
Bestimmung erweist sich demnach ebenfalls als unbegründet.