Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 110 V 48



110 V 48

9. Auszug aus dem Urteil vom 10. Januar 1984 i.S. Schweizerische
Ausgleichskasse gegen Peter und Eidgenössische Rekurskommission der AHV/IV
für die im Ausland wohnenden Personen Regeste

    Anfechtungsgegenstand und Streitgegenstand.

    - Verfügung als Anfechtungsgegenstand und damit
Sachurteilsvoraussetzung des nachfolgenden Beschwerdeverfahrens;
Voraussetzungen der Ausdehnung des Beschwerdeverfahrens auf eine ausserhalb
der Verwaltungsverfügung liegende Frage (Erw. 3b).

    - Abgrenzung des Anfechtungsgegenstandes vom Streitgegenstand;
Voraussetzung der Ausdehnung des Beschwerdeverfahrens auf einen innerhalb
der Verwaltungsverfügung liegenden, aber nicht Teil des Streitgegenstandes
bildenden Punkt (Erw. 3c).

    - Streitgegenstand ist das angefochtene Verfügungsdispositiv;
Invaliditätsgrad und Berechnungsgrundlagen sind Teilfaktoren der streitigen
Rentenfestsetzung (Erw. 3d).

    Untersuchungsgrundsatz und Prinzip der Rechtsanwendung von Amtes wegen.
Tragweite dieser Grundsätze im Hinblick auf die Mitwirkungspflichten der
Parteien und das Rügeprinzip; Abgrenzung der Rechtsprechungskompetenz
von der Befugnis zum aufsichtsrechtlichen Einschreiten (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- Dem deutschen Staatsangehörigen Walter Peter ist mit Verfügung
der Schweizerischen Ausgleichskasse vom 3. März 1982 eine ganze
Invalidenrente ab 1. März 1979 zugesprochen worden, dies in Form einer
ordentlichen Teilrente nach Skala 33. Der Versicherte erhob Beschwerde
an die Eidgenössische Rekurskommission der AHV/IV für die im Ausland
wohnenden Personen mit dem Wortlaut: "Möchte das Gericht bitten, die
Verfügung vom 3. März 1982 zu überprüfen. Ich habe 25 Jahre in Basel
und Münchenstein/BL gearbeitet. Mit dieser kleinen Rente kann ich meine
Familie nicht unterhalten." Die Rekurskommission hob mit Entscheid vom
31. Januar 1983 die angefochtene Verfügung auf und wies die Sache zwecks
näherer Abklärung an die Verwaltung zurück, weil die invaliditätsmässigen
Anspruchsvoraussetzungen nach der Aktenlage nicht schlüssig beurteilt
werden könnten.

    B.- Die Schweizerische Ausgleichskasse führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit den Anträgen:

    "1. das angefochtene Urteil sei aufzuheben;

    2. der Invalidenversicherungs-Kommission Basel-Stadt sei die

    Möglichkeit zu geben, ihre Akten vorzubringen und eine Vernehmlassung
   einzureichen;

    3. was die Berechnung der Rente betrifft, sei aus den in unserer

    Vernehmlassung vom 20. Juli 1982 zuhanden der Rekurskommission
   dargestellten Gründen die Richtigkeit unserer Verfügung vom 3. März
   1982 zu bestätigen, es sei denn, Ihr Gericht würde den Eintritt der
   Invalidität auf ein anderes Datum als dasjenige festsetzen, das die

    Invalidenversicherungs-Kommission Basel-Stadt angenommen hat."

    Zur Begründung macht die Schweizerische Ausgleichskasse im
wesentlichen geltend, streitig sei lediglich die Rentenberechnung
(Höhe des Rentenbetrages), nicht aber die Bemessung der Invalidität
noch das Datum des Invaliditätseintritts; aus diesem Grunde habe
sie sich am 20. Juli 1982 gegenüber der Vorinstanz lediglich zur
Frage der Rentenberechnung ausgesprochen, ohne eine Stellungnahme
der Invalidenversicherungs-Kommission zu den mit der Invalidität
zusammenhängenden Punkten einzuholen und der Vernehmlassung beizulegen. Die
Rekurskommission habe "nicht über die streitige Frage der Berechnung der
Rente entschieden", sondern "das von der Invalidenversicherungs-Kommission
Basel-Stadt angenommene Datum des Eintritts der Invalidität in Frage
gestellt", ohne die vorhandenen Kommissionsakten eingeholt zu haben. Die
Rekurskommission habe somit ohne Kenntnis des genauen Sachverhaltes
entschieden, was allein schon die Aufhebung ihres Entscheides rechtfertige.

    Walter Peter lässt sich zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht
vernehmen. Das Bundesamt für Sozialversicherung schliesst sich den
Anträgen und Ausführungen der Schweizerischen Ausgleichskasse an;
insbesondere sei die Rente richtig berechnet sowie der Rentenbeginn
zutreffend festgelegt worden, und es seien auch die versicherungsmässigen
Voraussetzungen zur Rentengewährung erfüllt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Mit der Verfügung vom 3. März 1982 ist dem Beschwerdegegner
eine ganze Invalidenrente zugesprochen worden. Er hat somit
unter dem Gesichtspunkt der für den Rentenanspruch wesentlichen
Anspruchsvoraussetzung der Invalidität die höchstmögliche Leistung
erhalten (vgl. Art. 28 Abs. 1 IVG). Bei dieser Sachlage erscheint
der Einwand der Schweizerischen Ausgleichskasse als richtig, dass das
eingangs wiedergegebene, äusserst knapp formulierte vorinstanzliche
Rechtsbegehren des Versicherten nur dahin verstanden werden kann,
dass er die Rentenverfügung vom 3. März 1982 weder in bezug auf den
Invaliditätsgrad als solchen noch hinsichtlich des mit der Art der
Invalidität aufs engste verknüpften Rentenbeginns, sondern einzig unter
dem Gesichtswinkel der Rentenberechnung anfocht. Diese Interpretation
wird durch die vom Versicherten zum Ausdruck gebrachte Absicht, eine für
den Unterhalt der Familie ausreichende, somit eben betragsmässig höhere
Invalidenrente zu erhalten, bestätigt. Die Rekurskommission hat jedoch
die angefochtene Rentenverfügung in bezug auf die Rentenberechnung
nicht geprüft; vielmehr hat sie die Sache zwecks näherer Abklärung
an die Verwaltung zurückgewiesen, weil die invaliditätsmässigen
Anspruchsvoraussetzungen nach der Aktenlage nicht schlüssig beurteilt
werden könnten. Zu prüfen ist, ob die Vorinstanz durch diesen Entscheid
in unzulässiger Weise über den Streitgegenstand hinausgegangen ist,
wie die Schweizerische Ausgleichskasse sinngemäss behauptet.

    b) Im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren sind grundsätzlich
nur Rechtsverhältnisse zu überprüfen und zu beurteilen, zu denen die
zuständige Verwaltungsbehörde vorgängig verbindlich - in Form einer
Verfügung - Stellung genommen hat. Insoweit bestimmt die Verfügung den
beschwerdeweise weiterziehbaren Anfechtungsgegenstand. Umgekehrt fehlt es
an einem Anfechtungsgegenstand und somit an einer Sachurteilsvoraussetzung,
wenn und insoweit keine Verfügung ergangen ist (vgl. BGE 105 V 276 Erw. 1
mit Hinweisen; GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., S. 44 unten;
SALADIN, Das Verwaltungsverfahrensrecht des Bundes, S. 170).

    Nach der Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts kann das
verwaltungsgerichtliche Beschwerdeverfahren aus prozessökonomischen Gründen
auf eine ausserhalb des Anfechtungsgegenstandes, d.h. ausserhalb des
durch die Verfügung bestimmten Rechtsverhältnisses liegende spruchreife
Frage ausgedehnt werden, wenn diese mit dem bisherigen Streitgegenstand
derart eng zusammenhängt, dass von einer Tatbestandsgesamtheit gesprochen
werden kann, und wenn sich die Verwaltung zu dieser Streitfrage mindestens
in Form einer Prozesserklärung geäussert hat (vgl. BGE 106 V 25 Erw. 3a
mit Hinweisen).

    c) Vom Anfechtungsgegenstand zu unterscheiden ist der Begriff
des Streitgegenstandes. Streitgegenstand im System der nachträglichen
Verwaltungsrechtspflege ist das Rechtsverhältnis, welches - im Rahmen des
durch die Verfügung bestimmten Anfechtungsgegenstandes - den aufgrund der
Beschwerdebegehren effektiv angefochtenen Verfügungsgegenstand bildet
(GYGI, aaO, S. 46; KÖLZ, Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz
des Kantons Zürich, S. 131 f. N. 19). Nach dieser Begriffsumschreibung
sind Anfechtungsgegenstand und Streitgegenstand identisch, wenn die
Verwaltungsverfügung insgesamt angefochten wird. Bezieht sich demgegenüber
die Beschwerde nur auf einen Teil des durch die Verfügung bestimmten
Rechtsverhältnisses, gehören die nicht beanstandeten Teilaspekte
des verfügungsweise festgelegten Rechtsverhältnisses zwar wohl zum
Anfechtungs-, nicht aber zum Streitgegenstand.

    In der Verwaltungsverfügung festgelegte - somit Teil des
Anfechtungsgegenstandes bildende -, aber aufgrund der Beschwerdebegehren
nicht mehr streitige - somit nicht zum Streitgegenstand zählende -
Fragen prüft der Richter nur, wenn die nichtbeanstandeten Punkte in engem
Sachzusammenhang mit dem Streitgegenstand stehen (BGE 101 V 116 Erw. 1
mit Hinweis, 98 V 139; ZAK 1968 S. 628).

    Nicht zum Streitgegenstand gehören blosse Differenzen bezüglich der
Begründung einer Verfügung, weil nur das Verfügungsdispositiv, nicht aber
die Begründung anfechtbar ist (vgl. BGE 106 V 92 Erw. 1).

    d) Streitgegenstand des vorinstanzlichen Verfahrens war das
Begehren des heutigen Beschwerdegegners, es sei ihm eine höhere als
die laut Dispositiv der Kassenverfügung vom 3. März 1982 festgesetzte
Rente zuzusprechen, wobei der Antragsteller sinngemäss davon ausging,
dass die Rentenberechnung als solche fehlerhaft erfolgt sei. Indem die
Rekurskommission statt dessen den Fall lediglich unter dem von keiner Seite
in Frage gestellten Gesichtspunkt des Invaliditätsgrades beurteilte und die
Sache diesbezüglich zu näherer Abklärung an die Ausgleichskasse zurückwies,
ging sie nicht über den Streitgegenstand hinaus; denn der Invaliditätsgrad
und die Rentenberechnung als solche bilden nur Teilfaktoren im Rahmen
der Festsetzung der streitigen Rente.

Erwägung 4

    4.- a) Im Prozess vor der Eidgenössischen Rekurskommission der AHV/IV
für die im Ausland wohnenden Personen ist grundsätzlich das VwVG anwendbar
(Art. 1 Abs. 2 lit. d VwVG; Art. 12 Vo über verschiedene Rekurskommissionen
(SR 831.161)). Massgeblich sind somit in erster Linie die Art. 44 ff. VwVG;
im Beschwerdeverfahren sind aber auch die allgemeinen Verfahrensgrundsätze
des 2. Abschnittes (Art. 7 ff. VwVG) zu beachten (SALADIN, aaO, S. 92
und S. 163).

    Nach Art. 12 VwVG stellt die Behörde den Sachverhalt von Amtes
wegen fest. Gemäss Art. 62 Abs. 4 VwVG bindet die Begründung der
Begehren die Beschwerdeinstanz in keinem Falle. Es gelten somit der
Untersuchungsgrundsatz und das Prinzip der Rechtsanwendung von Amtes
wegen (SALADIN, aaO, S. 113 ff.). Der Untersuchungsgrundsatz besagt, dass
Verwaltung und Richter von sich aus für die richtige und vollständige
Abklärung des rechtserheblichen Sachverhaltes zu sorgen haben (BGE
104 V 211 Erw. b in fine, 97 V 177, 96 V 95 f.; EVGE 1967 S. 144 f.;
ZAK 1979 S. 78 Erw. 2b in fine; RSKV 1982 Nr. 492 S. 143 und Nr. 496
S. 158; GYGI, aaO, S. 206). Das Prinzip der Rechtsanwendung von Amtes
wegen verpflichtet den Richter, auf den festgestellten Sachverhalt jenen
Rechtssatz anzuwenden, den er als den zutreffenden ansieht, und ihm auch
die Auslegung zu geben, von der er überzeugt ist (GYGI, aaO, S. 212).

    Die beiden erwähnten Grundsätze gelten nicht uneingeschränkt. Sie
finden ihr Korrelat in den verschiedenen Mitwirkungspflichten der Parteien
(Art. 13 VwVG) und namentlich in der in Art. 52 Abs. 1 VwVG aufgestellten
Begründungspflicht (BGE 104 V 211 Erw. b, 97 V 173; GYGI, aaO, S. 208
ff.; SALADIN, aaO, S. 119 f.; PFEIFER, Der Untersuchungsgrundsatz und
die Offizialmaxime im Verwaltungsverfahren, S. 123 ff.). Zu beachten ist
sodann das Rügeprinzip, welches besagt, dass die Beschwerdeinstanz nicht
prüft, ob sich die angefochtene Verfügung unter schlechthin allen in Frage
kommenden Aspekten als korrekt erweist, sondern nur die vorgebrachten
Beanstandungen untersucht (GYGI, aaO, S. 214 ff.; JOST, Zum Rechtsschutz
im Wirtschaftsverwaltungsrecht, in: ZSR 101/1982 II S. 513). Diese
Prinzipien grenzen den Bereich der verwaltungsgerichtlichen Prüfung
von der Befugnis zur aufsichtsmässigen Herstellung des gesetzmässigen
Zustandes ab, welche in der Rechtsprechungskompetenz nicht inbegriffen ist
(GYGI, aaO, S. 44 und S. 213). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die
Beschwerdeinstanz zusätzliche Abklärungen nur vornimmt oder veranlasst und
von den Verfahrensbeteiligten nicht aufgeworfene Rechtsfragen nur prüft,
wenn hiezu aufgrund der Parteivorbringen oder anderer sich aus den Akten
ergebenden Anhaltspunkte hinreichender Anlass besteht.

    b) Da im vorliegenden Fall allseits unbestritten ist, dass dem
Beschwerdegegner unter dem Gesichtswinkel der invaliditätsmässigen
Voraussetzungen eine ganze Rente zusteht, und da sich auch sonst in
den Akten keinerlei Anhaltspunkte finden, die es rechtfertigen würden,
auf diese Frage zurückzukommen, ist der die Rückweisung der Sache zur
Abklärung der invaliditätsmässigen Voraussetzungen anordnende Entscheid
der Rekurskommission aufzuheben.

Erwägung 5

    5.- Da sich der vorinstanzliche Entscheid zu der allein zu prüfenden
Frage der Rentenberechnung nicht ausspricht, wäre grundsätzlich die
Rückweisung des Falles an die Vorinstanz am Platz. Indessen hat der
Versicherte selber in keinem Stadium des Verfahrens konkrete Beanstandungen
hinsichtlich der Rentenberechnung vorgebracht. Auch ist aus den Rentenakten
(Kontenauszüge, Berechnungsblatt) kein Fehler ersichtlich, was übrigens
vom Bundesamt ausdrücklich bestätigt wird.

    Da somit der Fall im Rahmen der dem Eidg. Versicherungsgericht
in diesem Streit um Versicherungsleistungen zustehenden umfassenden
Kognition (Art. 132 OG) als spruchreif erscheint und das rechtliche Gehör
der Parteien im vorliegenden Verfahren gewahrt worden ist, rechtfertigt
es sich, die Sache aus Gründen der Prozessökonomie direkt in dem Sinne
zu erledigen, dass der vorinstanzliche Entscheid in Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde der Schweizerischen Ausgleichskasse
aufgehoben und damit die Kassenverfügung vom 3. März 1982 bestätigt wird.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid der
Eidgenössischen Rekurskommission der AHV/IV für die im Ausland wohnenden
Personen vom 31. Januar 1983 aufgehoben.