Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 110 V 382



110 V 382

62. Auszug aus dem Urteil vom 31. Juli 1984 i.S. Trägerschaft der
Industrie-Arbeitslosenkasse Winterthur gegen Bundesamt für Industrie,
Gewerbe und Arbeit und Eidgenössisches Volkswirtschaftsdepartement Regeste

    Art. 49 Abs. 1 AlVG, Art. 22 Abs. 3 AlVB, Art. 60 ff. AlVV.

    - Der Kassenträger haftet nicht nur dann, wenn sich eine Auszahlung
materiell als unrichtig erweist (materielle Beanstandung), sondern auch
dann, wenn die für die Überprüfung der Rechtmässigkeit einer Auszahlung
erforderlichen Belege fehlen (formelle Beanstandung) (Erw. 3a und b).

    - Die Haftung erstreckt sich so weit, als die Aktenunvollständigkeit
reicht und damit ein Schaden verbunden sein kann (Erw. 3c).

    - Die Haftung setzt kein qualifiziertes Verschulden voraus (Erw. 4a).

    - Der nach der Verwaltungspraxis für die Rückforderung zu Unrecht
ausgerichteter Leistungen (Art. 35 Abs. 1 AlVG) geltende Grenzbetrag ist
für die Haftung der Kassenträger nicht massgebend (Erw. 4b).

    Art. 29 Abs. 1 AlVG. Kontrollpflicht der Kasse hinsichtlich der
Bemühungen des Versicherten um Arbeit (Erw. 4c).

Sachverhalt

    A.- Mit Bericht vom 19. November 1981 teilte das Bundesamt
für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA) der Trägerschaft der
Industrie-Arbeitslosenkasse Winterthur (IAW) mit, dass im Rahmen der
Kassenrevision für das Jahr 1980 von 43 geprüften Auszahlungsfällen
deren 10 vorläufig beanstandet werden müssten. Nachdem die IAW von der
Möglichkeit zu Einwendungen Gebrauch gemacht hatte, erliess das BIGA am
21. Dezember 1981 eine Verfügung, mit welcher es an den Beanstandungen
festhielt und ausbezahlte Taggelder im Gesamtbetrag von Fr. 4'565.95 von
der Trägerschaft zurückforderte.

    B.- Die gegen diese Verfügung erhobene Verwaltungsbeschwerde wurde
vom Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement mit Entscheid vom 7. Juni
1982 abgewiesen.

    C.- Die Trägerschaft der IAW erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde
mit dem Rechtsbegehren, sie sei in Aufhebung des Beschwerdeentscheides
von jeglicher Entschädigungspflicht zu befreien. Das Eidgenössische
Volkswirtschaftsdepartement und das BIGA beantragen Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die streitige Verfügung datiert vom 21. Dezember 1981 und betrifft
Tatsachen, die vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes über die obligatorische
Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung (AVIG) eingetreten
sind. Anwendbar ist daher das bis 31. Dezember 1983 gültig gewesene Recht
(Art. 118 Abs. 2 AVIG).

Erwägung 2

    2.- a) Die Revisionsverfügung des BIGA vom 21. Dezember 1981 stützt
sich auf Art. 49 Abs. 3 AlVG, Art. 22 Abs. 3 AlVB und Art. 62 Abs. 4 AlVV,
wonach die Schäden, für welche der Träger der Arbeitslosenkasse haftbar
ist, durch eine beschwerdefähige Verfügung geltend zu machen sind. Solche
Verfügungen können mit Verwaltungsbeschwerde beim Eidgenössischen
Volkswirtschaftsdepartement angefochten werden (Art. 61 Abs. 3 VwOG,
Art. 44 ff. VwVG, Art. 56 Abs. 1 AlVG, Art. 62 Abs. 6 AlVV). Dessen
Entscheide unterliegen der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das
Eidg. Versicherungsgericht (Art. 97 Abs. 1 und 98 lit. b OG in Verbindung
mit Art. 128 OG, Art. 62 Abs. 6 AlVV).

    b) Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die
Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat
das Eidg. Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob der vorinstanzliche
Richter Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder
Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt
offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher
Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung
mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG; BGE 104 V 6 Erw. 1).

    c) Nach der gesetzlichen Regelung liegt die Haftung für die
infolge mangelhafter Erfüllung der Obliegenheiten der Arbeitslosenkassen
entstandenen Schäden beim Träger der Kasse (Art. 22 Abs. 3 AlVB). Dieser
ist Adressat der Revisionsverfügung (Art. 62 Abs. 4 AlVV) und Partei im
Beschwerdeverfahren (Art. 62 Abs. 6 AlVV).

    Im vorliegenden Fall erging die Revisionsverfügung richtigerweise an
die Trägerschaft der IAW, die auch Verwaltungsbeschwerde erhoben hat. Die
Vorinstanz bezeichnet dagegen die Arbeitslosenkasse als Partei, wobei -
tatsachenwidrig - davon ausgegangen wird, die "Kassenverwaltung" habe
Beschwerde eingereicht. In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird die Frage
erhoben, ob damit überhaupt ein formell rechtsgültiger Beschwerdeentscheid
vorliege. Aus der unzutreffenden Parteibezeichnung ist der Trägerschaft
der IAW indessen kein Nachteil erwachsen, weshalb es sich rechtfertigt,
den Fehler im vorliegenden Verfahren von Amtes wegen zu berichtigen.

Erwägung 3

    3.- a) Gemäss Art. 49 Abs. 1 AlVG überprüft das BIGA als
Ausgleichsstelle der Arbeitslosenversicherung regelmässig die
Geschäftsführung der Arbeitslosenkassen ... Für Schäden infolge
mangelhafter Erfüllung der Obliegenheiten durch die Kassen haften deren
Träger gegenüber der Ausgleichsstelle (Art. 22 Abs. 3 AlVB). Diese macht
die Schäden gegenüber dem Träger durch eine beschwerdefähige Verfügung
geltend. Bei leichtem Verschulden kann sie auf die Geltendmachung des
Schadens verzichten.

    Die Verordnung über die Arbeitslosenversicherung (AlVV) vom
14. März 1977 enthält in den Art. 60 ff. nähere Bestimmungen über die
Kassenrevision. Nebst der Rechnungsführung prüft die Ausgleichsstelle
die Rechtmässigkeit der ausgerichteten Arbeitslosenentschädigungen
(Art. 60 Abs. 1 und 2 AlVV). Soweit die Prüfung nicht bei den Kassen
vorgenommen wird, haben diese der Revisionsbehörde die zur Überprüfung der
ausgerichteten Arbeitslosenentschädigungen erforderlichen Belege auf Abruf
zuzustellen (Art. 61 Abs. 1 AlVV). Werden die Belege nicht vollständig
oder nicht in gehöriger Form vorgelegt, so kann die Revisionsbehörde für
einzelne Auszahlungen die nachträgliche Ergänzung zulassen, sofern die
Kasse vertretbare Gründe vorbringt (Art. 61 Abs. 2 AlVV). Stellt die
Revisionsbehörde fest, dass die Kasse gesetzliche Vorschriften nicht
oder unrichtig angewendet hat, oder lässt sich die Rechtmässigkeit
einer Auszahlung wegen Unvollständigkeit der Belege nicht ausreichend
überprüfen, so erlässt sie eine vorläufige schriftliche Beanstandung
und setzt der Kasse eine angemessene Frist zur Stellungnahme (Art. 62
Abs. 2 AlVV). Nach Ablauf der Frist bestimmt die Ausgleichsstelle
durch Revisionsverfügung gegenüber dem Träger der Kasse, in welchem
Umfange dieser der Ausgleichsstelle die beanstandeten Auszahlungen zu
ersetzen hat. Sie bezeichnet dabei die Fälle, in denen die beanstandeten
Auszahlungen vom Versicherten zurückzufordern sind. Die Kasse macht ihre
Forderung gegenüber dem Versicherten durch beschwerdefähige Verfügung
nach Art. 50 AlVG geltend. Verzichtet der Träger auf die Geltendmachung
der Rückforderung, so gilt dies als Anerkennung seiner Haftung gegenüber
der Ausgleichsstelle (Art. 62 Abs. 4 AlVV).

    b) Nach den zutreffenden Erwägungen der Vorinstanz soll
mit der Kassenrevision in erster Linie verhindert werden, dass
vorschriftswidrig ausbezahlte Entschädigungen dem Ausgleichsfonds der
Arbeitslosenversicherung belastet werden. Dies setzt voraus, dass der
Revisionsbehörde die erforderlichen Unterlagen zur Verfügung stehen,
damit sie die Rechtmässigkeit der Auszahlungen überprüfen kann (Art. 61
Abs. 1 AlVV). Lässt sich die Rechtmässigkeit einer Auszahlung wegen
Unvollständigkeit der Belege nicht ausreichend überprüfen, so erhebt die
Revisionsbehörde eine entsprechende (formelle) Beanstandung und erlässt
nach dem in Art. 62 AlVV vorgesehenen Verfahren gegebenenfalls eine
Verfügung, mit welcher sie bestimmt, in welchem Umfang der Kassenträger die
beanstandeten Auszahlungen zu ersetzen hat. Gegenstand der formellen
Beanstandung ist somit nicht die Frage, ob die Kasse die Leistungen
materiell zu Recht erbracht hat, sondern diejenige, ob sämtliche
Unterlagen vorliegen, um die Rechtmässigkeit der Auszahlungen überprüfen zu
können. Dementsprechend besteht eine Haftung des Trägers nicht nur dann,
wenn sich eine Auszahlung materiell als unrichtig erweist (materielle
Beanstandung), sondern auch dann, wenn die für die Überprüfung der
Rechtmässigkeit einer Auszahlung erforderlichen Belege fehlen (formelle
Beanstandung).

    c) Nach Art. 22 Abs. 3 AlVB bezieht sich die Haftung auf
Schäden infolge mangelhafter Erfüllung der Obliegenheiten durch die
Arbeitslosenkassen. Der Grundsatz der Aktenvollständigkeit gemäss
Art. 61 AlVV (vgl. hiezu auch HOLZER, Kommentar zum Bundesgesetz über
die Arbeitslosenversicherung, S. 224) darf daher nicht dazu führen,
dass die Haftung auf die gesamte Auszahlung erstreckt wird, wenn die
Unvollständigkeit nur einen Teil der Auszahlung betrifft. Sie erstreckt
sich vielmehr nur so weit, als die Aktenunvollständigkeit reicht und
damit ein Schaden verbunden sein kann.

Erwägung 4

    4.- a) Die Beschwerdeführerin zieht aus dem letzten Satz von Art. 22
Abs. 3 AlVB, wonach die Ausgleichsstelle bei leichtem Verschulden auf
die Geltendmachung des Schadens verzichten kann, den Umkehrschluss,
"dass ein Schaden nur bei schwerem Verschulden geltend gemacht werden
kann". Entgegen der Regelung in der AHV (Art. 70 Abs. 1 AHVG) und der
Invalidenversicherung (Art. 66 Abs. 1 IVG), wo die Gründerverbände nur
für Schäden aus strafbaren Handlungen und infolge absichtlicher oder
grobfahrlässiger Missachtung der Vorschriften durch die Kassenorgane
oder einzelne Kassenfunktionäre haften (vgl. hiezu BGE 106 V 204, 105 V
119), ist die Haftung der Kassenträger in der Arbeitslosenversicherung
indessen nicht auf qualifiziertes Verschulden beschränkt. Dies ergibt
sich nicht nur aus Wortlaut und Sinn von Art. 22 Abs. 3 AlVB, sondern
auch aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung. Sie enthielt in
der Fassung gemäss Botschaft des Bundesrates über die Einführung der
obligatorischen Arbeitslosenversicherung (Übergangsordnung) vom 11. August
1976 noch keine Einschränkung im Sinne eines möglichen Verzichts auf
die Geltendmachung der Haftung bei leichtem Verschulden (BBl 1976 II
1629). In der vorberatenden Kommission des Nationalrates wurde zunächst
einem Antrag Jelmini zugestimmt, die Haftung sei in Übereinstimmung mit der
Regelung in der AHV auf absichtliche oder grobfahrlässige Missachtung von
Vorschriften zu beschränken. In der Folge stellte der Bundesrat aber einen
Rückkommensantrag, welchem die nationalrätliche Kommission und hierauf
Nationalrat und Ständerat zustimmten. Damit wurde an der umfassenden
Haftung grundsätzlich festgehalten; gleichzeitig wurde die Verwaltung aber
ermächtigt, bei leichtem Verschulden auf die Geltendmachung des Schadens
verzichten zu können (Art. 22 Abs. 3 Satz 3 AlVB). Diese "Kann-Vorschrift"
darf nicht in dem Sinne ausgelegt werden, dass es im freien Belieben
der Ausgleichsstelle steht, ob und wann immer sie von dieser Möglichkeit
Gebrauch machen will. Wie die Anwendung des Vorbehaltes abzugrenzen ist,
steht jedoch im Ermessen der Ausgleichsstelle. Sie hat ihr Ermessen
lediglich so auszuüben, dass sie dabei die allgemeinen Rechtsgrundsätze,
insbesondere die Rechtsgleichheit und das Verhältnismässigkeitsprinzip,
nicht verletzt.

    b) Das BIGA hält in seinem Kreisschreiben D betreffend die Revision
der Taggeldzahlungen vom 25. Juni 1982 unter Ziff. 5.1 fest, dass es
von einer Beanstandung absehe, wenn der zu beanstandende Betrag im
Einzelfall weniger als Fr. 50.-- ausmache, es sei denn, dass sich der
gleiche Fehler bei mehreren Bezügern wiederhole und die Auszahlung noch
aus andern Gründen beanstandet werden müsse. Die Beschwerdeführerin
weist darauf hin, dass im gleichen Kreisschreiben (Ziff. 2.2) für die
Rückforderung zu Unrecht ausgerichteter Arbeitslosenentschädigungen
gemäss Art. 35 Abs. 1 AlVG in Anlehnung an die Rechtsprechung
des Eidg. Versicherungsgerichts in der Regel ein Mindestbetrag von
Fr. 300.-- vorausgesetzt werde (vgl. BGE 107 V 182); dieser Grenzbetrag
habe auch für die Haftung der Kassenträger zu gelten. Abgesehen davon,
dass es sich hiebei lediglich um eine Verwaltungspraxis handelt, lässt
es sich im Hinblick auf die unterschiedliche Sach- und Rechtslage
durchaus rechtfertigen, dass bezüglich der Rückforderung zu Unrecht
ausgerichteter Arbeitslosenentschädigungen vom Versicherten ein höherer
Grenzbetrag gilt. Wenn das BIGA im Revisionsverfahren praxisgemäss auf
die Geltendmachung des Schadens verzichtet, wenn dieser im Einzelfall
weniger als Fr. 50.-- beträgt, so lässt sich dies nicht beanstanden.

    c) Die Beschwerdeführerin macht des weitern geltend, die vom BIGA
verlangte Überprüfung der persönlichen Bemühungen der Versicherten um
Arbeit gehe über den Sinn des Gesetzes hinaus. Die Kontrollpflicht der
Kasse sei derjenigen des Arbeitsamtes nachgestellt, und es liesse sich mit
Treu und Glauben nicht vereinbaren, wenn die Kasse nachträglich Nachweise
einzuverlangen hätte, die rechtzeitig vom Arbeitsamt hätten angefordert
werden müssen. Im übrigen seien die Akten als vollständig zu erachten,
wenn die Kasse sämtliche gemäss Art. 66 AlVV vorgeschriebenen Formulare
richtig verwendet habe.

    Nach Wortlaut und Sinn von Art. 29 Abs. 1 AlVG obliegt die
Prüfung, ob ein Einstellungsgrund besteht, der Kasse, welche beim
Vorliegen eines solchen Grundes verpflichtet ist, die Einstellung in
der Anspruchsberechtigung zu verfügen und entsprechend der Schwere des
Verschuldens deren Dauer festzulegen. Die Beschwerdeführerin kann sich
daher nicht darauf berufen, die Kasse habe sich auf die Abklärungen seitens
des Arbeitsamtes verlassen dürfen. Die Kasse hat vielmehr selber die
nötigen Erhebungen vorzunehmen, worauf das BIGA die Trägerschaft bereits
im Revisionsbericht für das Jahr 1978 aufmerksam gemacht hat. Dabei sind
erforderlichenfalls weitergehende Abklärungen zu treffen, als sie aufgrund
der bestehenden Formulare vorgesehen sind.

Erwägung 5

    5.- (Prüfung der einzelnen Beanstandungen.)