Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 110 V 334



110 V 334

54. Auszug aus dem Urteil vom 11. Dezember 1984 i.S. Bundesamt für
Industrie, Gewerbe und Arbeit gegen Speck und Kantonale Rekurskommission
für die Arbeitslosenversicherung, Zürich Regeste

    Art. 36 Abs. 1 AVIG, Art. 58 Abs. 4 AVIV: Kurzarbeitsentschädigung. Die
zehntägige Frist zur Voranmeldung der Kurzarbeit (Art. 36 Abs. 1 AVIG)
ist eine Verwirkungsfrist mit der Folge, dass der Arbeitsausfall bei
verspäteter Meldung - sofern dafür kein entschuldbarer Grund vorliegt -
erst anrechenbar wird, wenn die für die Meldung vorgeschriebene Frist
abgelaufen ist. Art. 58 Abs. 4 AVIV ist gesetzmässig.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Beabsichtigt ein Arbeitgeber, für seine Arbeitnehmer
Kurzarbeitsentschädigung geltend zu machen, so muss er dies der kantonalen
Amtsstelle mindestens zehn Tage vor Beginn der Kurzarbeit schriftlich
melden. Der Bundesrat kann für Ausnahmefälle kürzere Anmeldefristen
vorsehen. Die Meldung ist zu erneuern, wenn die Kurzarbeit länger als
sechs Monate dauert (Art. 36 Abs. 1 AVIG). Hat der Arbeitgeber die
Kurzarbeit ohne entschuldbaren Grund verspätet angemeldet, so wird der
Arbeitsausfall erst anrechenbar, wenn die für die Meldung vorgeschriebene
Frist abgelaufen ist (Art. 58 Abs. 4 AVIV).

    Art. 36 Abs. 2 AVIG bestimmt, welche Angaben der Arbeitgeber in der
Voranmeldung zu machen hat, u.a. die Zahl der von Kurzarbeit betroffenen
Arbeitnehmer (lit. a) sowie Ausmass und voraussichtliche Dauer der
Kurzarbeit (lit. b). Der Arbeitgeber muss gemäss Art. 36 Abs. 3 AVIG in
der Voranmeldung die Notwendigkeit der Kurzarbeit begründen und anhand
der durch den Bundesrat bestimmten Unterlagen glaubhaft machen, dass die
Anspruchsvoraussetzungen nach den Art. 31 Abs. 1 und 32 Abs. 1 lit. a
AVIG erfüllt sind. Die kantonale Amtsstelle kann weitere zur Prüfung
nötige Unterlagen einverlangen.

    Hält die kantonale Amtsstelle eine oder mehrere
Anspruchsvoraussetzungen für nicht erfüllt, erhebt sie durch Verfügung
Einspruch gegen die Auszahlung der Entschädigung (Art. 36 Abs. 4 AVIG).

Erwägung 2

    2.- Nach Auffassung der Vorinstanz bestimmt Art. 31 AVIG in Abs. 1
lit. a bis d, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit ein
Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung bestehe. Keine Voraussetzung für
die Anspruchsberechtigung sei gemäss Art. 31 AVIG, dass eine Voranmeldung
der Kurzarbeit zehn Tage vor deren Beginn erfolge. Art. 31 AVIG regle die
Anspruchsvoraussetzungen abschliessend, weshalb Art. 36 AVIG betreffend
die "Voranmeldung von Kurzarbeit und Überprüfung der Voraussetzungen"
lediglich eine Ordnungsvorschrift sein könne. Bei Erfüllung aller
Voraussetzungen gemäss Art. 31 AVIG dürfe der Anspruch nicht infolge
verspäteter Meldung verneint werden, würde doch auf diese Weise eine
zusätzliche Anspruchsvoraussetzung eingeführt. Art. 58 Abs. 4 AVIV finde
somit im Gesetz keine Stütze.

    Dass es sich im weiteren beim erwähnten Art. 36 AVIG lediglich um
eine Ordnungsvorschrift handle, ergebe sich auch aus dem Aufbau des
dritten Kapitels des dritten Titels des Gesetzes und insbesondere aus
den Randtiteln zu den einzelnen Artikeln. Auch aus Art. 36 Abs. 3 AVIG
gehe klar hervor, dass die Anspruchsvoraussetzungen in Art. 31 Abs. 1
AVIG abschliessend geregelt seien. Der Zweck der Voranmeldung bestehe
darin, dass das kantonale Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit prüfen
könne, ob alle Voraussetzungen nach dieser Bestimmung erfüllt seien. Die
Voranmeldung der Kurzarbeit diene vor allem den Arbeitgebern, da ihnen
vor der beabsichtigten Einführung der Kurzarbeit bekanntgegeben werden
sollte, ob ein Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung überhaupt besteht,
damit im Fall eines negativen Entscheides entsprechende Dispositionen und
Umstellungen im Betrieb getroffen werden könnten. Melde ein Arbeitgeber
seine Absicht, Kurzarbeit einzuführen, nicht rechtzeitig an, so laufe er
Gefahr, erst nach Beginn der Kurzarbeit oder sogar erst nach deren Ende
einen allenfalls abschlägigen Entscheid zu erhalten.

Erwägung 3

    3.- Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden.

    a) Zunächst ist - entgegen der Auffassung des Bundesamtes für
Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA) - indessen festzuhalten, dass sich
der zwingende Charakter des Meldeverfahrens und die dabei zu beachtende
Meldefrist im Sinne einer Verwirkungsfrist nicht schon daraus ergibt,
dass die Voranmeldung in einem Rechtssatz auf Gesetzesstufe geregelt ist
(vgl. EVGE 1968 S. 52 Erw. 1 zu Art. 85 Abs. 2 lit. g AHVG). Ebensowenig
lässt sich aus Wortlaut und Systematik des Gesetzes ableiten, dass Art. 36
Abs. 1 AVIG keine Ordnungsvorschrift darstelle.

    b) Entgegen der Meinung der Vorinstanz kann sodann aus der in
Art. 31 Abs. 1 AVIG enthaltenen Aufzählung der Anspruchsvoraussetzungen
nicht geschlossen werden, dass die Anspruchsberechtigung nicht wegen
verspäteter Meldung verneint werden dürfe, weil "auf diese Weise eine
zusätzliche Anspruchsvoraussetzung eingeführt" würde. Denn mit dieser
Auffassung würden Fristenordnungen generell unterlaufen. Die Vorinstanz
übersieht den Unterschied zwischen materiellen Anspruchsvoraussetzungen
und formellen Erfordernissen, wozu auch die Fristen gehören. Insoweit die
Rekurskommission mit jener Begründung Art. 58 Abs. 4 AVIV als gesetzwidrig
qualifiziert, kann ihr nicht gefolgt werden.

    c) Mit der Ordnung von Art. 36 AVIG wollte der Gesetzgeber nicht ein
Bewilligungsverfahren für jeden Einzelfall einführen (vgl. Botschaft
des Bundesrates zu einem neuen Bundesgesetz über die obligatorische
Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung vom 2. Juli 1980,
BBl 1980 III 595). Es genügt denn auch, dass der Arbeitgeber in der
Voranmeldung die Notwendigkeit der Kurzarbeit begründet und glaubhaft
macht, dass die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Damit ist jedoch
die Pflicht des Arbeitgebers verbunden, die Kurzarbeit anzumelden. Der
Zweck der Voranmeldung besteht mithin darin, dass die kantonale Amtsstelle
prüfen kann, ob die Notwendigkeit der Kurzarbeit begründet ist und ob
die Anspruchsvoraussetzungen glaubhaft gemacht sind. Den kantonalen
Amtsstellen ist dabei genügend Zeit einzuräumen (Amtl. Bull. 1981 N
835 f.; ein Antrag auf Verlängerung der Anmeldefrist von 10 auf 30
Tage wurde zwar als wünschenswert bezeichnet, indessen vom Nationalrat
abgelehnt). Nachträgliche Meldungen sollen ausgeschlossen werden (Protokoll
12 der Expertenkommission, S. 37). Wenn der Bundesrat daher in Art.
58 Abs. 4 AVIV bestimmte, dass bei unentschuldet verspäteter Anmeldung
der Arbeitsausfall erst dann angerechnet wird, wenn die für die Meldung
vorgeschriebene Frist abgelaufen ist, so erweist sich diese Ordnung nach
Sinn und Zweck der Voranmeldung als notwendig, sachlich gerechtfertigt und
mithin gesetzmässig (vgl. in diesem Zusammenhang BGE 109 V 141 Erw. 2b,
218 Erw. 5a, 108 V 116 Erw. 3a).

    d) Das BIGA macht in seiner Verwaltungsgerichtsbeschwerde im weiteren
geltend, dass der Arbeitgeber die Kurzarbeit noch während rund vier
Monaten nach deren Beginn anmelden könnte (vgl. Art. 38 Abs. 1 AVIG),
wenn die Voranmeldefrist als Ordnungsfrist behandelt würde. Unter diesen
Umständen wäre der Gesetzesvollzug durch die kantonale Amtsstelle in Frage
gestellt. Sie könnte während dieser Zeit weder eine Zwischenbeschäftigung
zuweisen (Art. 41 AVIG) noch weitergehende Kontrollen zur Vermeidung
von Missbräuchen anordnen (Art. 40 Abs. 2 AVIG). Auch könnte nicht
mehr sichergestellt werden, dass der Arbeitgeber seinen Pflichten
gemäss Art. 37 AVIG nachkommt. Schliesslich wäre es sogar denkbar, dass
Betriebsabteilungen nicht nach der tatsächlichen Betriebsorganisation,
sondern nach der versicherungstechnisch günstigsten Lösung gemeldet würden
(Art. 32 Abs. 4 AVIG in Verbindung mit Art. 52 AVIV). Wie die Vorinstanz
feststelle, habe der Arbeitgeber ein Interesse an der Voranmeldung von
Kurzarbeit und der Überprüfung der Anspruchsvoraussetzungen vor deren
Beginn, weil er im Falle eines negativen Entscheides noch rechtzeitig
entsprechende Dispositionen und Umstellungen im Betrieb treffen könne. In
ähnlicher Weise sei auch der Arbeitnehmer daran interessiert, dass
die Zustimmung oder der Einspruch der kantonalen Amtsstelle vor Beginn
der Kurzarbeit bekannt sei. Der Arbeitnehmer sei in der Regel mit der
Einführung der Kurzarbeit nur einverstanden (vgl. Art. 33 Abs. 1 lit. d
AVIG), wenn die Arbeitslosenversicherung Kurzarbeitsentschädigung
entrichte. Er müsse bei einem Einspruch gegen die Auszahlung der
Entschädigung rechtzeitig in die Lage versetzt werden, seine Dispositionen
(Kündigung, fristlose Auflösung des Arbeitsverhältnisses usw.) je nach
der finanziellen Situation des Arbeitgebers zu treffen.

    Diese Argumentation überzeugt. Mit Recht schliesst das BIGA daher
auf eine Verwirkungsfrist, zumal nicht einzusehen ist, weshalb dem
Bundesrat laut Art. 36 Abs. 1 AVIG die Kompetenz eingeräumt wurde,
für Ausnahmefälle kürzere Anmeldefristen vorzusehen, wenn es sich bei
der zehntägigen Anmeldefrist um eine Ordnungsvorschrift handeln würde.
In Ausnahmefällen können die kantonalen Amtsstellen und im Beschwerdefall
der Richter die Meldefrist auf drei Tage bzw. einen Tag herabsetzen,
sofern die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 58 Abs. 1
und 2 AVIV).

Erwägung 4

    4.- Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Beschwerdegegner die
Kurzarbeit, die am 1. Januar 1984 eingeführt wurde, erst am 7. Februar
1984 erstmals (nach den Vorschriften des alten Rechts) gemeldet
hat. Das kantonale Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit verneinte
daher die Anrechenbarkeit des Arbeitsausfalls bis 16. Februar 1984. Der
Beschwerdegegner macht im wesentlichen geltend, er habe nicht gewusst,
dass ab 1. Januar 1984 Kurzarbeit anzumelden sei; er sei nach altem Recht
vorgegangen; jetzt wisse er, wie zu verfahren sei. Es sei zumindest eine
Ermessenssache, ob sein Verhalten infolge Wechsels vom alten zum neuen
Recht im Monat Januar 1984 nicht als entschuldbar gelte; anders wäre zu
entscheiden, wenn die Unterlassung der Voranmeldung zu einem späteren
Zeitpunkt passiert wäre.

    Der Umstand, dass die Verletzung der Voranmeldepflicht unmittelbar
nach Inkrafttreten des neuen Rechts erfolgte, gilt nicht als entschuldbarer
Grund im Sinne von Art. 58 Abs. 4 AVIV. Sodann kann nach einem allgemeinen
Grundsatz niemand Vorteile aus seiner eigenen Rechtsunkenntnis ableiten
(BGE 98 V 258, ZAK 1977 S. 263 Erw. 3). Somit erweist sich die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde des BIGA als begründet.