Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 110 V 30



110 V 30

6. Urteil vom 17. April 1984 i.S. Bundesamt für Industrie, Gewerbe und
Arbeit gegen Stadlin und Versicherungsgericht des Kantons Aargau Regeste

    Art. 51 und 52 Abs. 1 AVIG. Die Insolvenzentschädigung deckt nur
Lohnforderungen, die sich auf geleistete Arbeit beziehen, nicht aber
Ansprüche bei ungerechtfertigter fristloser Entlassung des Arbeitnehmers.

Sachverhalt

    A.- Urban Stadlin arbeitete als kaufmännischer Leiter in der Firma
X. Am 16. Dezember 1982 wurde er fristlos aus dem Arbeitsverhältnis
entlassen, weil bei der Unternehmung Liquiditätsschwierigkeiten bestanden.
Gleichentags besuchte er die Stempelkontrolle. Am 23. Dezember 1982 erhielt
er einen Teil seines noch ausstehenden Lohnguthabens und unterzeichnete
eine entsprechende Quittung per Saldo aller Ansprüche. Diese Vereinbarung
focht er später beim Arbeitsgericht wegen Mängeln des Vertragsabschlusses
an (Eingabe vom 14. Januar 1983). Am 24. Februar 1983 wurde über die
Firma X der Konkurs eröffnet.

    Mit Verfügung vom 12. Januar 1983 wies die Arbeitslosenkasse des
Kantons Aargau das Begehren um Ausrichtung von Arbeitslosentaggeldern
für den Zeitraum vom 15. Dezember 1982 bis zum 28. Februar 1983 ab,
weil dem Versicherten unbestrittene Lohnforderungen (Kündigungslohn)
zustünden, auf die er nicht verzichten dürfe, um statt dessen Anspruch auf
Arbeitslosenentschädigung zu erheben. Diese Verfügung ist unangefochten
in Rechtskraft erwachsen.

    Am 7. März 1983 stellte der Versicherte den Antrag auf Ausrichtung
einer Insolvenzentschädigung. Mit Verfügung vom 15. April 1983 lehnte die
Arbeitslosenkasse dieses Begehren ab mit der Begründung, als Lohnforderung
gemäss Art. 51 AVIG gelte grundsätzlich nur das vom zahlungsunfähigen
Arbeitgeber geschuldete Entgelt für die vom Versicherten erbrachte
Arbeitsleistung; im vorliegenden Fall sei die Voraussetzung für den Bezug
von Insolvenzentschädigung deshalb nicht erfüllt.

    B.- Gegen die Verfügung vom 15. April 1983 liess Urban Stadlin
Beschwerde führen mit den Anträgen, es sei ihm für die Zeit vom
15. Dezember 1982 bis 24. Februar 1983 eine Insolvenzentschädigung
und vom 25. bis 28. Februar 1983 Arbeitslosenentschädigung
zuzusprechen. Eventuell sei ihm vom 15. Dezember 1982 bis 28. Februar
1983 Arbeitslosenentschädigung zu entrichten.

    Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau fand, der Versicherte
habe mit der Vereinbarung vom 23. Dezember 1982 nicht rechtswirksam auf
die Ansprüche aus Arbeitsvertrag verzichten können (Art. 337c Abs. 1,
341 und 362 OR). Da er aufgrund der ungerechtfertigten fristlosen
Entlassung einen Lohnanspruch gegenüber dem Arbeitgeber habe, stehe
ihm eine Insolvenzentschädigung zu, und zwar vom Datum der Entlassung
(17. Dezember 1982) bis zur Konkurseröffnung (24. Februar 1983). Auf
das Begehren um Zusprechung von Arbeitslosenentschädigung vom 25. bis
28. Februar 1983 trat das kantonale Gericht nicht ein, weil die
Arbeitslosenkasse den entsprechenden Anspruch rechtskräftig abgewiesen
habe und Gegenstand der Verfügung vom 15. April 1983 allein der Anspruch
auf eine Insolvenzentschädigung sei (Entscheid vom 23. August 1983).

    C.- Das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA) führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit den Anträgen, die Verfügung vom 15. April
1983 sei wiederherzustellen; die Akten seien an die Arbeitslosenkasse
zurückzuweisen, damit sie "der durch den Eintritt des Konkurses veränderten
Situation mit einer Wiedererwägung ihrer Verfügung vom 12. Januar 1983
betreffend Anspruchsberechtigung für die Arbeitslosenversicherung Rechnung
trage".

    Der Beschwerdegegner lässt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
beantragen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Gemäss Art. 28 Abs. 1 AlVG (in der Fassung vom 22.  Juni 1951)
ist der Verdienstausfall nicht anrechenbar während Arbeitstagen, für welche
dem Versicherten Ansprüche gegenüber dem Arbeitgeber aus Dienstvertrag
zustehen. Bestehen über den Anspruch des Versicherten gegenüber dem
Arbeitgeber Zweifel, so ist die Kasse nach Abs. 2 zur Ausrichtung der
Arbeitslosenentschädigung ermächtigt.

    Mit der am 25. Juni 1982 in Kraft gesetzten Neufassung des Art. 28
Abs. 2 AlVG wird die Kasse zur Ausrichtung von Arbeitslosenentschädigung
zusätzlich auch dann ermächtigt, wenn über die Einbringlichkeit des
Anspruchs Zweifel bestehen.

    Die am 1. Januar 1984 in Kraft getretene Neuordnung (vgl. Art. 121
Abs. 2 AVIG; Verordnung über die vollständige Inkraftsetzung des AVIG
vom 31. August 1983) enthält folgende Regelung:

    Art. 11 Abs. 3 AVIG: "Nicht anrechenbar ist ein Arbeitsausfall, für
   den dem Arbeitslosen Lohnansprüche oder wegen vorzeitiger Auflösung des

    Arbeitsverhältnisses Entschädigungsansprüche zustehen."

    Art. 29 Abs. 1 AVIG: "Hat die Kasse begründete Zweifel darüber, ob der

    Arbeitslose für die Zeit des Arbeitsausfalls gegenüber seinem
bisherigen

    Arbeitgeber Lohn- oder Entschädigungsansprüche im Sinne von Artikel 11

    Absatz 3 hat oder ob sie erfüllt werden, so zahlt sie

    Arbeitslosenentschädigungen aus."

    b) Das 5. Kapitel des AVIG, "Insolvenzentschädigung" (Art. 51
ff. AVIG), wurde auf den 1. Januar 1983 in Kraft gesetzt (vgl. Art. 121
Abs. 2 AVIG; Beschluss des Bundesrates vom 6. Dezember 1982).

    Art. 51 AVIG bestimmt:

    "Beitragspflichtige Arbeitnehmer von Arbeitgebern, die in der Schweiz
   der Zwangsvollstreckung unterliegen oder in der Schweiz Arbeitnehmer
   beschäftigen, haben Anspruch auf Insolvenzentschädigung, wenn:

    a. gegen ihren Arbeitgeber der Konkurs eröffnet wird und ihnen in
   diesem Zeitpunkt Lohnforderungen zustehen oder

    b. sie gegen ihren Arbeitgeber für Lohnforderungen das

    Pfändungsbegehren gestellt haben."

    Gemäss Art. 52 Abs. 1 AVIG deckt die Insolvenzentschädigung
Lohnforderungen für die letzten drei Monate vor der Konkurseröffnung oder
vor dem Pfändungsbegehren, für jeden Monat jedoch nur bis zum Höchstbetrag
für die Beitragsbemessung. Als Lohn gelten auch die geschuldeten Zulagen.

Erwägung 2

    2.- In der Botschaft zum neuen Bundesgesetz über die obligatorische
Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung vom 2.
Juli 1980 (BBl 1980 III 606) wird u.a. zur Anspruchsberechtigung auf
Insolvenzentschädigung ausgeführt: "Die Lohnansprüche, die sich immer auf
geleistete Arbeit beziehen, werden voll gedeckt. Ein Gleichziehen mit dem
Konkursprivileg, welches u.a. die Lohnforderungen für sechs Monate und auch
Entschädigungen für vorzeitige Auflösung des Arbeitsverhältnisses umfasst,
ist hier nicht angezeigt, da die Insolvenzentschädigung eigentlich dem
System der Arbeitslosenversicherung fremd ist."

    Zur Anrechenbarkeit des Verdienstausfalls bei Zweifeln über
Ansprüche aus Arbeitsvertrag führte der Bundesrat aus: "In der Regel
geht es dabei um die Einhaltung von Kündigungsfristen, jedenfalls
aber von Ansprüchen für Zeiten, während denen der Versicherte nicht
mehr gearbeitet hat und der Vermittlung zur Verfügung stand. Darin
liegt der Unterschied zur Insolvenzentschädigung, die Ansprüche für
geleistete Arbeit ersetzt" (BBl 1980 III 588). Die gleiche Auffassung
bekräftigte der Bundesrat in seinen Ausführungen zum vorgeschlagenen neuen
Abs. 2 des Art. 28 AlVG in der Botschaft vom 21. April 1982 betreffend
Änderung des Bundesbeschlusses über die Einführung der obligatorischen
Arbeitslosenversicherung (Übergangsordnung) und des Bundesgesetzes über die
Arbeitslosenversicherung (BBl 1982 I 1379). Diese Erklärungen haben mit
aller Deutlichkeit im Wortlaut des AVIG ihren Niederschlag gefunden. Im
Zusammenhang mit der Anrechenbarkeit von Arbeitsausfall (Art. 11 Abs. 3)
sowie mit der Ausrichtung von Taggeldern bei Zweifeln über Ansprüche aus
dem Arbeitsvertrag (Art. 29 Abs. 1) werden ausdrücklich sowohl Lohn-
wie Entschädigungsansprüche erwähnt, welch letzteren auch Forderungen
wegen ungerechtfertigter Entlassung eines Arbeitnehmers zugerechnet
werden. Demgegenüber nennt Art. 52 Abs. 1 AVIG als Gegenstand der
Insolvenzentschädigung lediglich Lohnforderungen.

    Aus den zitierten Texten der Botschaften sowie dem Wortlaut des
Gesetzes ergibt sich, dass Entschädigungen für vorzeitige Auflösung
des Arbeitsverhältnisses, wie sie vorliegend dem Beschwerdegegner
infolge ungerechtfertigter fristloser Entlassung zustehen, nicht durch
die Insolvenzentschädigung gedeckt werden sollen. Im Unterschied zur
Insolvenzentschädigung, die den Lohnanspruch für geleistete Arbeitszeit
deckt, während welcher der Arbeitnehmer der Vermittlung nicht zur
Verfügung steht, handelt es sich im Falle der ungerechtfertigten fristlosen
Entlassung um Ansprüche des Beschwerdegegners für eine Periode, während
der er wie jeder andere Arbeitslose der Vermittlung voll zur Verfügung
stand. Er ist daher dem vermittlungsfähigen Arbeitnehmer gleichzustellen,
der nach Eröffnung des Konkurses die Arbeit einstellen muss und Anspruch
auf den Kündigungslohn hat. Bestehen über die Erfüllung der Ansprüche
begründete Zweifel, ist daher die Ausrichtung der Arbeitslosenentschädigung
zwar nach Art. 28 Abs. 2 AlVG bzw. Art. 29 Abs. 1 AVIG möglich, nicht
aber als Insolvenzentschädigung gestützt auf Art. 52 Abs. 1 AVIG.

    Im Hinblick auf das Gesagte ist davon auszugehen, dass die dem
Beschwerdegegner zustehenden Ansprüche wegen ungerechtfertigter fristloser
Entlassung nicht durch die Insolvenzentschädigung gedeckt werden. Die
Arbeitslosenkasse hat daher zu Recht das Begehren um Ausrichtung von
Insolvenzentschädigung abgewiesen.

Erwägung 3

    3.- Mit Verfügung vom 12. Januar 1983 wies die Arbeitslosenkasse
das Begehren des Beschwerdegegners auf Arbeitslosenentschädigung für
den Zeitraum vom 15. Dezember 1982 bis zum 28. Februar 1983 ab. Nach
dem in Erwägung 2 Gesagten ist jedoch nicht auszuschliessen, dass der
Beschwerdegegner unter den Voraussetzungen des Art. 28 Abs. 2 AlVG (in der
hier anwendbaren, am 25. Juni 1982 in Kraft getretenen Fassung) Anspruch
auf eine Arbeitslosenentschädigung gehabt hätte. Mangels Beschwerdeführung
ist diese fragliche Kassenverfügung in Rechtskraft erwachsen. Da sie
jedoch nicht Gegenstand einer materiellen richterlichen Beurteilung
gebildet hat, besteht für die Arbeitslosenkasse die Möglichkeit der
Wiedererwägung, falls sich ergeben sollte, dass die Verfügung zweifellos
unrichtig ist. Zu einer solchen Wiedererwägung kann allerdings die
Arbeitslosenkasse gemäss geltender Praxis weder vom Beschwerdegegner noch
vom Richter gezwungen werden (vgl. BGE 107 V 85 mit Hinweisen). Dagegen
steht diese Möglichkeit dem BIGA kraft seines Weisungsrechtes offen
(Art. 47 Abs. 1, Art. 49 Abs. 3 AlVG - neu Art. 76 Abs. 2, Art. 110
Abs. 2 und 3 AVIG). Aus der Vernehmlassung des BIGA geht hervor, dass
das Amt beabsichtigt, von diesem Recht Gebrauch zu machen, sofern die
Arbeitslosenkasse die Frage der Wiedererwägung nicht von sich aus prüfen
sollte.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 23. August 1983 aufgehoben.