Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 110 V 298



110 V 298

47. Auszug aus dem Urteil vom 30. Juli 1984 i.S. Ausgleichskasse AGRAPI
gegen G. und Versicherungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Art. 47 Abs. 1 AHVG, Art. 49 IVG, Art. 85 Abs. 2 IVV.

    - Die eine frühere Verfügung berichtigende Wiedererwägung
zieht grundsätzlich die Pflicht zur Rückerstattung der von der
Invalidenversicherung zu Unrecht bezogenen Leistung nach sich (Art. 47
Abs. 1 AHVG in Verbindung mit Art. 49 IVG). Eine Ausnahme von dieser Regel
greift dann Platz, wenn der zur Wiedererwägung führende Fehler bei der
Beurteilung eines spezifisch IV-rechtlichen Gesichtspunktes unterlaufen
ist (vgl. Art. 85 Abs. 2 IVV) (Präzisierung der Rechtsprechung; Erw. 2a).

    - Wenn der Fehler (i.c. Zusprechung einer ungekürzten
Invalidenrente durch die Ausgleichskasse trotz der von der
Invalidenversicherungs-Kommission angeordneten Kürzung wegen
Alkoholmissbrauchs) beim Umsetzen des (der Kasse formell richtig
mitgeteilten) Beschlusses der Invalidenversicherungs-Kommission in eine
Rentenverfügung unterlief, ist ein IV-spezifischer Gesichtspunkt zu
verneinen (Erw. 2b).

Sachverhalt

    A.- Die Invalidenversicherungs-Kommission des Kantons Bern
beschloss am 26. Februar 1976, dem 1930 geborenen Versicherten
Ernst G. gestützt auf einen Invaliditätsgrad von 100% ab 1. Mai
1975 eine ganze, gemäss Art. 7 IVG um 30% gekürzte Invalidenrente
auszurichten. In der Folge sprach ihm die Ausgleichskasse AGRAPI mit
Verfügung vom 26. April 1976 eine ungekürzte Rente zu, weil sie die
von der Invalidenversicherungs-Kommission angeordnete Leistungskürzung
übersehen hatte. Im Rahmen eines Revisionsverfahrens beschloss die
Invalidenversicherungs-Kommission am 22. Februar 1978, dem Versicherten
die ganze, wegen Alkoholmissbrauchs um 30% gekürzte Invalidenrente
weiter zu gewähren. Daraufhin teilte ihm die Ausgleichskasse am 2. März
1978 mit, die Rente werde wie bisher unverändert ausbezahlt, wobei
sie die im Revisionsbeschluss der Invalidenversicherungs-Kommission
festgehaltene Rentenkürzung wiederum übersah. Erst als im Rahmen eines
weiteren Revisionsverfahrens die Invalidenversicherungs-Kommission mit
Beschluss vom 25. Juni 1981 die Kürzung von 30% wegen Alkoholabusus
wiederholte, bemerkte die Ausgleichskasse ihr Versehen und verfügte am
18. August 1981 die rückwirkende Kürzung der Rente ab 1. August 1976;
ausserdem forderte sie die in der Zeit vom 1. August 1976 bis 31. Juli
1981 zuviel ausbezahlten Rentenbetreffnisse von insgesamt Fr. 16'243.--
zurück (Verfügung vom 17. August 1981).

    B.- Beschwerdeweise liess der Versicherte beantragen, die
Kassenverfügung vom 18. August 1981 sei aufzuheben und es sei
ihm eine ungekürzte Invalidenrente auszurichten; zudem sei die
Rückerstattungsverfügung vom 17. August 1981 aufzuheben.

    Das Versicherungsgericht des Kantons Bern hiess die Beschwerde gegen
die Verfügung vom 18. August 1981 in dem Sinne gut, dass die Verwaltung
verpflichtet wurde, die ungekürzte Invalidenrente auch für den Monat August
1981 auszuzahlen, und dass die Sache hinsichtlich der Rentenkürzung ab 1.
September 1981 zur erneuten Abklärung im Sinne der Erwägungen an die
Verwaltung zurückgewiesen wurde. Sodann hob es die Rückerstattungsverfügung
vom 17. August 1981 in Gutheissung der Beschwerde ersatzlos auf (Entscheid
vom 21. Juni 1982).

    C.- Die Ausgleichskasse führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und
beantragt Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides, soweit die
Rückerstattungsverfügung aufgehoben wurde; ferner sei festzustellen,
dass für den Monat August 1981 nur eine gekürzte Rente auszurichten ist.

    Der Versicherte lässt beantragen, der vorinstanzliche Entscheid
sei vollumfänglich zu bestätigen. Das Bundesamt für Sozialversicherung
schliesst auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde in dem Sinne,
dass die Sache zur Prüfung der Rentenkürzung für die vor dem 1. September
1981 liegende Zeitspanne an das Versicherungsgericht zurückgewiesen werde.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Vorerst stellt sich die Frage, ob im vorliegenden Fall die
Aufhebung der Leistungen bzw. deren Kürzung überhaupt rückwirkend erfolgen
und damit zu einer Rückerstattungsforderung führen kann.

    a) Die Aufhebung einer Invalidenrente bzw. deren Kürzung im
Rahmen einer Wiedererwägung kann nach der bisherigen Rechtsprechung
nur dann rückwirkend erfolgen und die Rückerstattung gemäss Art. 47
Abs. 1 AHVG in Verbindung mit Art. 49 IVG nach sich ziehen, wenn der
zur Wiedererwägung führende Fehler einen AHV-analogen Gesichtspunkt
(z.B. Versicherteneigenschaft, massgebendes durchschnittliches
Jahreseinkommen, anwendbare Rentenskala) betrifft. Demgegenüber ist die
Wiedererwägung gemäss Art. 85 Abs. 2 IVV nur für die Zukunft wirksam, wenn
die Verwaltung bei Erlass der ursprünglichen Verfügung einen spezifisch
IV-rechtlichen Gesichtspunkt (z.B. die Bemessung des Invaliditätsgrades)
falsch beurteilte. Es ist in jedem einzelnen Fall zu prüfen, "ob der
Fehler, der zur Wiedererwägung einer früheren Verfügung führt, einen
AHV-analogen oder einen spezifisch IV-rechtlichen Faktor betrifft"
(BGE 105 V 172 Erw. 6a, 175, 107 V 37).

    Diese Formulierung hat wegen der Unbestimmtheit des Ausdrucks
"betrifft" gelegentlich zu Missverständnissen geführt (vgl. z.B. die
nur in ZAK 1981 S. 552 veröffentlichte Erw. 2c des Urteils BGE 107
V 36). Auch im vorliegenden Fall, in welchem die Ausgleichskasse
in ihren Verfügungen vom 26. April 1976 und 2. März 1978 die von der
Invalidenversicherungs-Kommission angeordnete Kürzung der Invalidenrente
wegen Alkoholmissbrauchs ausser acht liess, ging die Vorinstanz
davon aus, bei der Rentenkürzung wegen Selbstverschuldens nach Art.
7 IVG handle es sich um einen spezifisch IV-rechtlichen Gesichtspunkt
und der Fehler der Ausgleichskasse "betreffe" mithin einen solchen
Faktor. Dabei stellt sich aber im Zusammenhang mit der Prüfung der
allfälligen Rückerstattungsforderung die Frage, ob die Verwaltung den
Fehler bei der Beurteilung eines AHV-analogen oder IV-spezifischen
Faktors beging bzw. worauf sich der Fehler bezieht. Es erscheint daher
angezeigt, das Abgrenzungskriterium neu zu umschreiben und die bisherige
Rechtsprechung in dem Sinne zu präzisieren, dass die eine frühere
Verfügung berichtigende Wiedererwägung grundsätzlich die Pflicht zur
Rückerstattung der von der Invalidenversicherung zu Unrecht bezogenen
Leistung nach sich zieht (Art. 47 Abs. 1 AHVG in Verbindung mit Art. 49
IVG) und dass eine Ausnahme von dieser Regel dann Platz greift, wenn der
zur Wiedererwägung führende Fehler bei der Beurteilung eines spezifisch
IV-rechtlichen Gesichtspunktes unterlaufen ist (vgl. Art. 85 Abs. 2
IVV). Unerheblich ist, welche Verwaltungsbehörde (Ausgleichskasse oder
Invalidenversicherungs-Kommission) den Fehler begangen hat; entscheidend
ist allein die materielle Seite des Fehlers (BGE 107 V 36).

    b) Kein IV-spezifischer Sachverhalt wurde angenommen, als eine
Invalidenversicherungs-Kommission in der Mitteilung ihres Beschlusses
an die Ausgleichskasse versehentlich einen Invaliditätsgrad von 100%
statt 50% eintrug und die Kasse in der Folge eine ganze statt eine
halbe Invalidenrente zusprach; desgleichen, als die Mitteilung des
Beschlusses der Invalidenversicherungs-Kommission zwar den zutreffenden
Invaliditätsgrad von 50% wiedergab, die Kasse aber irrtümlicherweise eine
ganze Rente gewährte (nicht veröffentlichte Urteile Cantin vom 4. Juli 1980
und Weiss vom 17. September 1979). Mit der Beschwerdeführerin ist (entgegen
ZAK 1981 S. 552 Erw. 2c) ein IV-spezifischer Gesichtspunkt auch im
vorliegenden Fall zu verneinen, in welchem der zur Wiedererwägung führende
Fehler beim Umsetzen des - der Kasse richtig mitgeteilten - Beschlusses
der Invalidenversicherungs-Kommission in eine Rentenverfügung unterlief und
nicht bei der Beurteilung der IV-spezifischen Frage nach der Rentenkürzung
gemäss Art. 7 IVG. Die Rückwirkung der Wiedererwägungsverfügung richtet
sich daher nach dem in Art. 47 AHVG / Art. 49 IVG enthaltenen Grundsatz
und nicht nach der Ausnahmebestimmung des Art. 85 Abs. 2 IVV. Die von
der Beschwerdeführerin rückwirkend vorgenommene Kürzung und die verfügte
Rückerstattung der zuviel bezogenen Rentenbetreffnisse erweisen sich
mithin als rechtmässig, weshalb der vorinstanzliche Entscheid insoweit
aufzuheben ist.

Erwägung 3

    3.- Da der kantonale Richter einen spezifisch IV-rechtlichen
Sachverhalt annahm und folglich die Rückerstattungspflicht des
Beschwerdegegners verneinte, brauchte er nicht zu prüfen, ob die
Zusprechung einer ungekürzten Invalidenrente gemäss Verfügung vom 26. April
1976 auch materiell zweifellos unrichtig war. Er ging zwar davon aus, dass
mindestens anfänglich eine Rentenkürzung zweifellos angebracht war. Die
Akten liessen jedoch nach seiner Auffassung eine Überprüfung weder der
Angemessenheit des angewandten Kürzungssatzes anhand der massgebenden,
die Invalidität bewirkenden Faktoren (Alkoholismus, zusätzlicher
Gesundheitsschaden) noch der Dauer der Kürzung zu, weshalb die Sache
zur Neufestlegung des Kürzungsmasses an die Verwaltung zurückgewiesen
wurde, allerdings mit Wirkung erst ab September 1981. Damit kann es
aber in zeitlicher Hinsicht nach dem in Erw. 2 Gesagten nicht sein
Bewenden haben. Vielmehr hat die Verwaltung, allenfalls durch nähere
Abklärung des Sachverhaltes, als Vorfrage zu prüfen, ob die ursprüngliche
Verfügung vom 26. April 1976, mit welcher dem Beschwerdegegner eine
ungekürzte Rente gewährt wurde, materiell zweifellos unrichtig und
ob insofern die Voraussetzung zur Wiedererwägung (BGE 109 V 112, 121,
107 V 85, 182, 192, 106 V 87, 105 V 30) erfüllt war. Hinsichtlich des
anwendbaren Kürzungssatzes wird sie zu bestimmen haben, in welchem
Ausmass ein zusätzlicher Gesundheitsschaden neben dem Alkoholmissbrauch
an der Invalidität beteiligt ist und in welchem masslichen und zeitlichen
Verhältnis die Faktoren, welche die Invalidität bewirken, zueinander stehen
(BGE 104 V 2 Erw. 2b, 97 V 230 Erw. 1c). Vom Ergebnis der diesbezüglichen
Abklärungen wird abhangen, ob und in welcher Höhe der Beschwerdeführerin
ein Rückforderungsanspruch gegenüber dem Beschwerdegegner zusteht.