Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 110 V 183



110 V 183

29. Auszug aus dem Urteil vom 16. Juli 1984 i.S. Bärtschi gegen Kranken-
und Unfallkasse "Die Eidgenössische" und Versicherungsgericht des Kantons
Basel-Stadt Regeste

    Art. 6bis und 12 ff. KUVG, Art. 125 Ziff. 3 OR: Verrechnung
im Krankenkassenbereich. Die anerkannten, öffentlichrechtlich
oder privatrechtlich organisierten Krankenkassen sind berechtigt,
geschuldete Versicherungsleistungen mit ausstehenden Beitragsforderungen
zu verrechnen. Ein entsprechendes Verrechnungsrecht steht den Versicherten
nicht zu (Änderung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Die Eheleute Bärtschi sind bei der Kranken- und Unfallkasse
"Die Eidgenössische" versichert. Diese stellte ihnen am 18. August
1981 Rechnung in der Höhe von Fr. 1'200.- für die Beiträge der Monate
Dezember 1980 bis September 1981. Die Versicherten verrechneten
diese Beitragsschuld mit einer Gegenforderung von Fr. 721.-,
die sie aus "Porti, Prämiendiff. Juli-Nov. 1980, 1. Zahnbehandl.,
2. Zahnbehandl." herleiteten, und überwiesen am 15. September 1981 der
Kasse die Differenz von Fr. 479.-.

    Mit Verfügung vom 23. September 1981 teilte die Kasse den Eheleuten
Bärtschi mit, sie weise die "vorgenommenen willkürlichen Abzüge im
Gesamtbetrag von Fr. 721.- in aller Form zurück". Sie setzte die
restliche Beitragsschuld auf Fr. 721.- fest und forderte die beiden
Versicherten zur Bezahlung dieses Betrages auf.

    B.- Beschwerdeweise verlangten die Versicherten die Aufhebung
der Kassenverfügung und die Gutheissung der von ihnen vorgenommenen
Verrechnung.

    Das Versicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt vertrat die
Auffassung, dass das Krankenkassenmitglied nach geltender Lehre und
Rechtsprechung nur dann gegen den Willen der Kasse fällige Beiträge mit
fälligen Kassenleistungen verrechnen dürfe, wenn eine ausdrückliche
gesetzliche Ermächtigung hierzu vorliege. Dies treffe gerade im
vorliegenden Fall nicht zu, "wird doch das Verrechnungsrecht nach KUVG
dem einzelnen Mitglied nicht zugestanden". Auch die Kassenstatuten würden
kein solches Recht zuerkennen. Mit Entscheid vom 10. Mai 1982 wies das
Gericht die Beschwerde ab.

    C.- Gegen diesen Entscheid führen die Eheleute Bärtschi
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des
vorinstanzlichen Entscheides. Sie vertreten im wesentlichen die Auffassung,
es bedeute eine Rechtsungleichheit, wenn Krankenkassen ihre geschuldete
Leistung mit ihrem Beitragsguthaben verrechnen dürften, dem Versicherten
ein entsprechendes Recht aber nicht zustehe.

    Die Kasse und das Bundesamt für Sozialversicherung beantragen die
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Streitig ist, ob die Beschwerdeführer berechtigt sind, ihre
Beitragsschuld gegenüber der Krankenkasse durch Verrechnung mit
ausstehenden, an sich unbestrittenen Versicherungsleistungen zu tilgen.

    Da es sich dabei nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidg. Versicherungsgericht
nur zu prüfen, ob der vorinstanzliche Richter Bundesrecht verletzt hat,
einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der
rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder
unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden
ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105
Abs. 2 OG; BGE 104 V 6 Erw. 1).

Erwägung 2

    2.- Die Verrechenbarkeit sich gegenüberstehender Forderungen stellt
nach Rechtsprechung und Lehre einen allgemeinen Rechtsgrundsatz dar,
der für das zivile Recht in Art. 120 ff. OR ausdrücklich verankert ist,
aber auch im Verwaltungsrecht zur Anwendung gelangt. Unter Vorbehalt
verwaltungsrechtlicher Sonderbestimmungen können im Prinzip Forderungen und
Gegenforderungen des Bürgers und des Gemeinwesens miteinander verrechnet
werden (IMBODEN/RHINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung,
5. Aufl., Bd. I Nr. 33, insbesondere S. 195; BGE 91 I 292, 72 I 379
und 71 I 292). Der Verrechnungsgrundsatz gilt insbesondere auch im
Sozialversicherungsrecht. In den meisten Zweigen der Sozialversicherung
findet sich hierüber sogar eine gesetzliche Regelung, nämlich in Art. 20
Abs. 2 AHVG, Art. 50 IVG, Art. 96 Abs. 3 KUVG, Art. 50 Abs. 3 UVG,
Art. 48 Abs. 3 MVG, Art. 2 Abs. 2 EOG, Art. 34 Abs. 2 AlVG, Art. 94
Abs. 2 AVIG. Dabei ist zu beachten, dass in allen diesen Bestimmungen
das Verrechnungsrecht nur der Verwaltung und nicht auch dem Bürger
eingeräumt wird.

    In der Krankenversicherung ist das Verrechnungsrecht nicht
gesetzlich normiert. Indessen hat die Praxis - in Analogie zu den
andern Zweigen der Sozialversicherung, insbesondere zu Art. 20 Abs. 2
AHVG und dem altrechtlichen Art. 96 Abs. 3 KUVG - den Krankenkassen das
Verrechnungsrecht zugestanden. Das ist zum Teil ausdrücklich gesagt,
teils aber auch stillschweigend vorausgesetzt worden (BGE 108 V 45, 100
V 134 Erw. 3, 99 V 197 Erw. 3; RSKV 1974 Nr. 201 S. 143 Erw. 3 und 1973
Nr. 174 S. 124).

Erwägung 3

    3.- Im vorliegenden Fall ist zu prüfen, ob auch der Versicherte
eine Forderung der Kasse gegen ihn durch Verrechnung mit seiner eigenen
Leistungsforderung tilgen kann. Kasse und Vorinstanz haben dies verneint,
was die Beschwerdeführer als Rechtsungleichheit rügen.

    In dem in RSKV 1970 Nr. 78 S. 184 publizierten Urteil hat das Eidg.
Versicherungsgericht das Recht des Versicherten zur Verrechnung
gegenüber einer öffentlichen Krankenkasse verneint. Es stützte sich
dabei auf Art. 125 Ziff. 3 OR, wonach Verpflichtungen gegenüber dem
Gemeinwesen gegen dessen Willen nicht durch Verrechnung getilgt werden
können. Da die damals betroffene öffentliche Krankenkasse als Teil einer
Stadtverwaltung, somit eines Gemeinwesens, betrachtet wurde und da sich
die Kasse mit der Verrechnung nicht einverstanden erklärt hatte, wurde
der Verrechnungsanspruch des Versicherten verneint (Erw. 4 des zitierten
Urteils). - Das in RSKV 1980 Nr. 411 S. 125 veröffentlichte Urteil hatte
den Fall eines Versicherten zum Gegenstand, welcher die Verrechnung
gegenüber einer Krankenkasse geltend machte, die als Genossenschaft
organisiert war. Das Gericht erachtete die Verrechnung durch den
Versicherten hier als zulässig, weil sich die Kasse als Genossenschaft
nicht auf Art. 125 Ziff. 3 OR berufen könne (Erw. 2b des Urteils).

    Diese unterschiedliche Handhabung der Verrechnungsmöglichkeit, je
nachdem ob die Verrechnung gegenüber einer privatrechtlich oder einer
öffentlichrechtlich organisierten Krankenkasse geltend gemacht wird, vermag
indessen nicht zu befriedigen. Bekanntlich weisen die Rechtsverhältnisse in
einer privatrechtlich organisierten Krankenkasse sowohl zivilrechtliche als
auch öffentlichrechtliche Elemente auf. Die letzteren überwiegen jedenfalls
dort, wo es um die der Krankenkasse übertragene öffentliche Aufgabe
geht, nämlich die Durchführung der sozialen Krankenversicherung durch
Erbringung von Leistungen einerseits und deren Finanzierung durch Beiträge
der Versicherten anderseits. In diesem Rahmen ist es unerheblich, ob eine
Krankenkasse privatrechtlich oder öffentlichrechtlich organisiert ist. Die
Rechtsstellung des Versicherten bezüglich seines Versicherungsverhältnisses
darf nicht von der Organisationsform der Kasse abhängen.

    Wie bereits dargelegt, ist in den meisten Sozialversicherungsgesetzen
des Bundes das Verrechnungsrecht geregelt. Übereinstimmend wird
dieses Recht jeweils nur der Verwaltung eingeräumt; die gesetzlichen
Formulierungen schliessen ein Verrechnungsrecht des Versicherten
aus. Der Grund für diese übereinstimmenden Regelungen liegt darin, dass
nur die Verwaltung befugt ist, Verfügungen zu erlassen, d.h. einseitig
und hoheitlich über Rechte und Pflichten der Versicherten zu befinden
(vgl. Art. 5 VwVG). Hieraus ergibt sich die einseitige Zuerkennung
des Verrechnungsrechtes an die Verwaltung. Das hat insbesondere auch
für die Krankenversicherung zu gelten. Würde man in diesem Bereich das
Verrechnungsrecht auch dem Versicherten zugestehen, so hätte es dieser in
der Hand, zunächst von sich aus zu bestimmen, welche Kassenleistungen
er für richtig hält, und damit die Krankenkasse zu veranlassen,
eine Beitragsverfügung zu erlassen, bei der die Beiträge an sich gar
nicht streitig sind, sondern eben die Leistungen. Zudem liegt es im
Interesse der Vereinheitlichung des Sozialversicherungsrechts, auch in
der Krankenversicherung das Recht zur Verrechnung einseitig nur den -
öffentlichen und privaten - Krankenkassen einzuräumen. In diesem Sinne
ist die bisherige Rechtsprechung zu ändern.