Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 110 IV 95



110 IV 95

30. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 19. Dezember 1984 i.S. K.
gegen Polizeikommando Basel-Stadt (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 141 VZV; Blutalkoholanalyse.

    1. Ein Gutachten i.S. von Art. 141 Abs. 3 VZV ist einzuholen, wenn
der Arzt von der vollständigen Resorption des genossenen Alkohols zur
Tatzeit ausging und diesem Umstand entscheidende Bedeutung beimass. Stellt
sich hingegen das Problem der Rückrechnung nicht, kann auf die Expertise
verzichtet werden.

    2. Die von der Mehrheit der in der Schweiz gerichts-chemisch tätigen
Institute bei geringer Alkoholisierung berücksichtigte Fehlerbreite von ±
0,05 Gew.-%o ist vertretbar.

Sachverhalt

    A.- Am 22. November 1983 wurde K. durch den Polizeigerichtspräsidenten
von Basel-Stadt wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand schuldig erklärt
und zu einer bedingt löschbaren Busse von Fr. 800.-- verurteilt. Die
Blutprobe hatte eine Alkoholkonzentration von 0,85 Gew.-%o ergeben, was
bei einer Fehlerbreite von ± 0,05 Gew.-%o einen Wert von minimal 0,80
Gew.-%o bis maximal 0,90 Gew.-%o ausmacht.

    Das Appellationsgericht bestätigte am 9. Mai 1984 den erstinstanzlichen
Entscheid, wobei es auf die Durchführung einer Oberexpertise über die
Blutalkoholkonzentration im kritischen Zeitpunkt und insbesondere über den
zu berücksichtigenden Streubereich verzichtete. Die gegen dieses Urteil
erhobene eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde weist der Kassationshof ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer rügt, dass der Bericht des
gerichtlich-medizinischen Institutes der Universität Basel über
die Blutanalyse den formalen Anforderungen des Art. 141 VZV nicht
entspreche. Es sei ein ungenügender Streubereich von ± 0,05 Gew.-%o
eingesetzt worden, allfällige weitere Abzüge seien zu seinen Gunsten
nicht vorgenommen und vor allem sei kein "Gutachten bzw. Obergutachten"
gemäss Abs. 3 und 4 von Art. 141 VZV angeordnet worden.

    a) Gemäss Art. 141 Abs. 2 VZV hat die Blutanalyse nach zwei grundlegend
verschiedenen Methoden zu erfolgen und ist zu wiederholen, wenn die
Resultate wesentlich voneinander abweichen. Über die einzelnen Stadien
der Analyse ist ein Protokoll zu führen und die Alkoholkonzentration ist
in Gewichtspromillen anzugeben. Zum Ergebnis der Blutanalyse ist gemäss
Abs. 3 auf Verlangen des Verdächtigten oder (BGE 105 IV 256 E. 3 mit
Hinweis) in Zweifelsfällen das Gutachten eines gerichtlich-medizinischen
Sachverständigen einzuholen, der gemäss Abs. 4 den ärztlichen
Untersuchungsbefund sowie den Polizeibericht mitzuberücksichtigen und seine
Schlussfolgerungen zu begründen hat. Nötigenfalls sind die Zuverlässigkeit
der Blutanalyse und die Möglichkeit von Fehlerquellen durch einen Fachmann
(Chemiker) zu begutachten.

    b) Nach dem Untersuchungsbericht des Gerichts-chemischen Laboratoriums
vom 15. Februar 1983 wurde die Blutprobe "nach zwei von Grund auf
verschiedenen Methoden" (gaschromatographisch und fermentativ mit
Alkoholdehydrogenase) analysiert. Der Alkoholgehalt betrug 0,85 Gew.-%o,
was bei einem Streubereich von 0,05 Gew.-%o einen Analysenbereich
von 0,80 bis 0,90 Gew.-%o ergibt. Gemäss dem von der Vorinstanz beim
Gerichtschemiker eingeholten Zusatzbericht vom 12. April 1984 lagen
alle vier Einzelresultate der beiden Analysenmethoden innerhalb des
erwähnten Streubereiches, so dass sich eine Wiederholung der Analyse
erübrigte. Den Vorschriften von Art. 141 Abs. 2 VZV wurde entsprochen
unter Berücksichtigung der massgebenden Untersuchungsmethoden und des
überwiegend anerkannten analytischen Vertrauensbereiches (vgl. dazu H.
BRANDENBERGER, Die Zürcher Blutalkohol-Analytik, in Kriminalistik, 37.
Jahrgang, 1983, S. 548/569 bis 571).

    Aufgrund der Untersuchungsberichte stellte der gerichtlich-medizinische
Sachverständige fest, dass die Blutentnahme vor dem angenommenen Abschluss
der Resorption (Trinkschluss + 2 Stunden) erfolgte und die analytisch
nachgewiesene Blutalkoholkonzentration beweise, dass der Beschwerdeführer
eine Alkoholmenge im Körper hatte, die zu einer Blutalkoholkonzentration
von minimal 0,80 Gew.-%o bis maximal 0,90 Gew.-%o führte.

    c) Weil die Blutentnahme vor Abschluss der Resorption erfolgte, musste
der Gerichtsarzt keine Rückrechnung über den Alkoholgehalt zum rechtlich
relevanten Zeitpunkt vornehmen. Aus den beiden vom Beschwerdeführer
erwähnten Bundesgerichtsentscheiden kann dieser deshalb noch nichts zu
seinen Gunsten ableiten. Der Arzt ging in diesen Fällen von der Annahme
einer vollständigen Resorption des genossenen Alkohols aus und mass diesem
Moment entscheidende Bedeutung zu. Das Bundesgericht führte dazu in BGE 102
IV 123 aus, unter solchen Umständen (wobei die Blutalkoholkonzentration im
Bereiche von 0,8 Gew.-%o lag) hätte der Arzt seine Annahme und die Art der
Rückrechnung erläutern müssen. Weil er dies nicht getan hatte, erachtete
das Gericht das Gutachten als ungenügend, und zwar offenbar deshalb, weil
es die Möglichkeit nicht ausschloss, dass bei Anwendung einer anderen, dem
Angeklagten günstigeren Berechnungsart sich für die rechtlich relevante
Zeit unter Umständen eine Alkoholkonzentration von etwas weniger als 0,8
Gew.-%o ergeben könnte. Diese Problematik steht vorliegend jedoch nicht
zur Diskussion. Hier geht es einzig und allein um die Zuverlässigkeit der
am Gerichts-chemischen Laboratorium Basel praktizierten Blutalkoholanalyse
und um den wegen allfälliger Fehler zu fordernden Streubereich.

    d) Zu dieser Frage ist vorab zu bemerken, dass die überwiegende
Anzahl der in der Schweiz einschlägig tätigen Institute dem Vorgehen,
wie es in Basel praktiziert wird, zugestimmt haben. Gebilligt wird es
auch vom EJPD. Nur das GMI Bern und das Labor von Dr. Ferrini vertreten
eine abweichende Meinung. Mit Ausnahme dieser beiden Stellen wird
in der Schweiz bei der Blutalkoholbestimmung eine Fehlerbreite von
± 5% bzw. ± 0,05 Gew.-%o angenommen. Sowohl beim ADH- als auch beim
gaschromatographischen Verfahren wurden denn auch in wissenschaftlichen
Versuchen bei je mehr als 1000 Bestimmungen Fehlerbreiten von nur 0,63 bis
2,03% gemessen (vgl. THIRIET, Die Praxis im Kanton Basel-Stadt bei Fahren
in angetrunkenem Zustand, Diss. Basel 1978, S. 36 mit Hinweisen). Überdies
ist auf eine durch das Bundesamt für Polizeiwesen 1983 durchgeführte
Kontrolle hinzuweisen, die dem Gerichts-chemischen Laboratorium Basel
Werte bestätigte, die höchstens um 0,01 Gew.-%o von denjenigen des
Amtes für Messwesen abwichen. Professor Zink von der Universität Bern,
der die Blutalkoholbestimmung in der Schweiz ebenfalls als eine der
besten in Europa bezeichnet, hat in der Sendung "CH-Magazin" vom 15.
November 1983 festgestellt, der durchschnittliche Alkoholfehler liege im
Bereich von 2% und darunter; erst wenn man zum Standardfehler noch den
(möglicherweise auftretenden) systematischen Fehler berücksichtige,
komme man auf eine Grössenordnung von 10%. Unter diesem letzteren
Fehler versteht man beispielsweise falsche Anzeige der Waage, mangelnde
Linearität der Messvorrichtungen oder chronisch fehlerhaftes Ausführen
einer Operation. Nach Professor BRANDENBERGER wird aber gerade solchen
Fehlerquellen die grösste Aufmerksamkeit gewidmet (Kriminalistik, 1983,
S. 570). Sie sind denn auch aus der Mituntersuchung von fabrikmässig
standardisierten Testlösungen erkenn- und vermeidbar (PONSOLD, Lehrbuch
der Gerichtlichen Medizin, Stuttgart 1967, S. 229). Auf diese Weise
geht das Laboratorium in Basel vor. Es besteht daher kein Anlass, an der
Vertretbarkeit eines Streubereiches von nur 0,05 Gew.-%o zu zweifeln.