Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 110 IV 65



110 IV 65

21. Urteil des Kassationshofes vom 29. November 1984 i.S. Sch. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 41 Ziff. 1 Abs. 2 StGB. Bedingter Strafvollzug.

    Die angerechnete Untersuchungshaft wird der verbüssten Freiheitsstrafe
gleichgestellt (Bestätigung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte Sch. am 13. April
1984 wegen gewerbsmässigen Diebstahls, Widerhandlungen gegen das
Betäubungsmittelgesetz und wegen weiterer Delikte, grösstenteils in den
Jahren 1982/83 begangen, zu 16 Monaten Gefängnis.

    Für diese Freiheitsstrafe wurde der bedingte Strafvollzug nicht
gewährt, weil Sch. am 24. Februar 1982 wegen vorsätzlicher Verbrechen und
Vergehen zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von acht Monaten verurteilt
worden war und sich vom 23. September 1981 bis zur bedingten Entlassung
am 26. März 1982 während 185 Tagen ununterbrochen in Haft befunden hatte;
von der verbüssten Strafzeit waren 155 Tage angerechnete Untersuchungshaft.

    B.- Gegen das Urteil des Obergerichtes führt
Sch. Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid sei
aufzuheben und die Sache sei zur Prüfung der subjektiven Voraussetzungen
für die Gewährung des bedingten Strafvollzuges an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab

Auszug aus den Erwägungen:

                  aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Nichtigkeitsbeschwerde bezieht sich ausschliesslich auf die
Frage, ob angerechnete Untersuchungshaft einer verbüssten Freiheitsstrafe
im Sinne von Art. 41 Ziff. 1 Abs. 2 StGB gleichzustellen sei.
Der Kassationshof hat in BGE 101 IV 385 festgestellt, dass angerechnete
Untersuchungshaft rechtlich die Wirkung der Strafvollstreckung habe und
daher auch bei der Anwendung von Art. 41 Ziff. 1 Abs. 2 StGB als verbüsste
Freiheitsstrafe zu berücksichtigen sei. Den schon damals erhobenen Einwand,
die Untersuchungshaft diene nicht der Erziehung des Häftlings und könne
daher dem Strafvollzug nicht gleichgesetzt werden, hat das Bundesgericht
ausdrücklich abgelehnt.

Erwägung 2

    2.- Dieses Präjudiz wurde kritisiert von SCHULTZ (ZBJV 112/1976,
S. 407; AT II, 4. Aufl., S. 104) und REHBERG (Strafrecht II, 4. Aufl.,
S. 39). In der kantonalen Rechtsprechung finden sich beide Auffassungen:
Das Zuger Strafgericht hat 1979 auf die Dauer des eigentlichen Vollzugs
abgestellt und angerechnete Untersuchungshaft nicht als Strafverbüssung
betrachtet (SJZ 1975, S. 208 f.). Das aargauische Obergericht hingegen
bezeichnete es als Strafverbüssung von mehr als drei Monaten in einem
Zug, wenn von einer Gefängnisstrafe von 6 Monaten die ersten 129 Tage
durch angerechnete Untersuchungshaft getilgt waren und die Reststrafe
unmittelbar anschliessend vollzogen wurde (AGVE 1976, S. 96).

Erwägung 3

    3.- Die gegen BGE 101 IV 385 vorgebrachte Kritik geht stillschweigend
davon aus, der Ausschluss des bedingten Strafvollzuges wegen (in den
letzten fünf Jahren) erfolgter Verbüssung einer Freiheitsstrafe werde
vom Gesetz nur im Hinblick auf die (erwartete und ausgebliebene)
Resozialisierungswirkung des Strafvollzuges statuiert. Wäre die
erzieherische Wirkung der Strafverbüssung der einzige Grund für die in
Art. 41 Ziff. 1 Abs. 2 StGB umschriebene Regel, so müsste wohl mit den
Kritikern der Schluss gezogen werden, dass nur ein eigentlicher Vollzug
mit den erzieherischen Einwirkungsmöglichkeiten einer Vollzugsinstitution
als Strafverbüssung (im Sinne von Art. 41 Ziff. 1 Abs. 2 StGB) in Betracht
falle, nicht aber die angerechnete Untersuchungshaft.

    Obschon bei der Frage, ob eine Mehrzahl von kurzen Gefängnisstrafen
gesamthaft den Ausschlussgrund von Art. 41 Ziff. 1 Abs. 2 StGB bilden
könne, auch das Bundesgericht auf die erzieherische Wirkung der Verbüssung
abgestellt und deswegen einen zusammenhängenden Vollzug von mehr als drei
Monaten verlangt hat (BGE 108 IV 149, 99 IV 133), darf die Bestimmung von
Art. 41 Ziff. 1 Abs. 2 StGB doch nicht ausschliesslich unter dem Aspekt der
möglichen erzieherischen Beeinflussung interpretiert werden. Schon die
Kürze der vom Gesetzgeber verlangten Strafverbüssung spricht gegen die
Verabsolutierung einer solchen Betrachtungsweise. Freiheitsstrafen von
etwas mehr als drei, aber unter sechs Monaten dürften erfahrungsgemäss in
vielen Fällen kaum eine echte erzieherische Beeinflussung erlauben. Sie
haben aber in jedem Fall die Funktion einer nachhaltigen Warnung. Wenn
der Gesetzgeber die Verbüssung einer Freiheitsstrafe ab drei Monaten zum
objektiven Grund für den Ausschluss des bedingten Strafvollzugs machte,
so hat er dabei nicht nur die relativ geringe Wahrscheinlichkeit einer
erzieherischen Beeinflussung berücksichtigt, sondern auch die schlichte
Schock- und Warnungswirkung eines Freiheitsentzuges, der die Schwelle
eines kurzen Arrestes eindeutig überschreitet. Warnungswirkung aber
hat auf denjenigen, der sich noch warnen lässt, auch die ausgestandene
Untersuchungshaft. Aus dieser Erwägung erscheint die in BGE 101 IV
385 vertretene Auffassung auch nach nochmaliger Prüfung im Lichte der
Kritik als sachlich begründet. Dass eine weitere Lockerung oder sogar
die Abschaffung dieses objektiven Hindernisses für die Gewährung des
bedingten Strafvollzuges dem Richter in Einzelfällen mehr Freiheit gäbe
und eine dem Resozialisierungsgedanken besser entsprechende Entscheidung
ermöglichen würde, lässt sich nicht bestreiten. Solange aber im Gesetz die
Tatsache der Verbüssung einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten
als objektive Schranke besteht, ist diese Vorschrift nach der ratio
legis auszulegen unter Beachtung der Erfordernisse einer rechtsgleichen,
folgerichtigen Praxis.

Erwägung 4

    4.- Zwei weitere Überlegungen sprechen für das Festhalten an der
bisherigen Interpretation.

    a) Würde die angerechnete Untersuchungshaft nicht als verbüsste
Freiheitsstrafe im Sinne von Art. 41 Ziff. 1 Abs. 2 StGB behandelt,
so entstände damit ein Widerspruch zur Auslegung von Art. 38 Ziff. 1
Abs. 1 StGB. Nach ständiger Praxis gilt bei der Berechnung der
zwei Drittel der verbüssten Strafzeit die angerechnete Haftdauer als
Strafverbüssung. Sprachlich geht es hier wie bei Art. 41 Ziff. 1 Abs. 2
StGB um den Sinn des Begriffes "Strafverbüssung". Die gleichen Argumente,
welche sich bei Art. 41 StGB für ein restriktives Verständnis im Sinne
des Resozialisierungsstrafvollzuges anführen lassen, könnten auch im
Rahmen von Art. 38 Ziff. 1 StGB Beachtung beanspruchen und würden dann die
Möglichkeit der bedingten Entlassung bei Anrechnung langer Haftperioden
in einem kaum vertretbaren Masse einschränken.

    b) Die Nichtberücksichtigung angerechneter Untersuchungshaft bei der
Anwendung von Art. 41 Ziff. 1 Abs. 2 StGB müsste zu stossenden praktischen
Ungleichheiten führen. Beispielsweise würde eine ausschliesslich
durch angerechnete Untersuchungshaft getilgte Gefängnisstrafe von über
einem Jahr die Gewährung des bedingten Strafvollzuges objektiv nicht
hindern, während der Vollzug von vier Monaten Gefängnis gegenüber einem
Verurteilten, der nie in Untersuchungshaft war, bei neuer Straffälligkeit
innerhalb der nächsten fünf Jahre den bedingten Strafvollzug de
lege lata zwingend ausschliesst. Diese "Besserstellung" desjenigen,
dessen Strafe ganz oder zu einem erheblichen Teil durch ausgestandene
Untersuchungshaft kompensiert worden ist, gegenüber demjenigen, der
im seinerzeitigen Strafverfahren nicht oder nur kurz verhaftet wurde,
ist sachlich nicht gerechtfertigt. Natürlich würde die Beurteilung
der subjektiven Voraussetzung (günstige Prognose) wohl eine gewisse
"Korrektur" der Ungleichheit, die sich aus der Auslegung von Abs. 2
ergäbe, erlauben. Der objektive Ausschlussgrund der verbüssten Vorstrafe
ist aber doch sinngemäss so zu interpretieren, dass von vornherein eine
Gleichbehandlung objektiv gleichartiger Fälle gewährleistet wird. Dieses
Erfordernis ist erfüllt, wenn die angerechnete Untersuchungshaft auch im
Sinne von Art. 41 Ziff. 1 Abs. 2 StGB als verbüsste Strafzeit gilt, während
die gegenteilige Lösung stossende Ungleichheiten mit sich bringt, indem die
seinerzeitige Anrechnung der Untersuchungshaft dem Betroffenen bei einer
neuen Verurteilung im Rahmen von Art. 41 StGB einen eindeutigen Vorteil
verschafft, welchen der Unterschied zwischen der Untersuchungshaft und dem
Vollzug einer kurzen Freiheitsstrafe keineswegs zu rechtfertigen vermag.