Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 110 II 20



110 II 20

6. Urteil der II. Zivilabteilung vom 26. Januar 1984 i.S. Stiffler und
Heckmann gegen Rüedi (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 68 Abs. 1 lit. a OG; ausserordentliche Ersitzung einer
Grunddienstbarkeit; Verteilung der Parteirollen im Prozess.

    Das Bundesrecht enthält keine Regel darüber, ob im Prozess um die
ausserordentliche Ersitzung einer Grunddienstbarkeit die Klägerrolle
dem Ersitzungsprätendenten oder demjenigen zuzuweisen sei, der gegen das
Ersitzungsbegehren Einspruch erhoben hat.

Sachverhalt

    A.- Christian Rüedi-Zogg ist Eigentümer des Grundstücks Nr.  3138 in
der Gemeinde Klosters-Serneus. Er macht geltend, er habe zu Lasten der im
Eigentum von Hans Stiffler-Trachsler bzw. Alexander Heckmann stehenden
Grundstücke Nr. 3139 und 3649 ein Fahrwegrecht ersessen, das sich auf
die landwirtschaftliche Bewirtschaftung seines Grundstücks sowie den
Zubringerdienst zum darauf stehenden Wohnhaus beschränke. Mit Eingabe
vom 15. Dezember 1982 an das Kreisamt Klosters ersuchte er gestützt auf
Art. 731 in Verbindung mit Art. 662 ZGB um Eintragung einer entsprechenden
Grunddienstbarkeit. Der Kreispräsident Klosters publizierte das Gesuch,
worauf Hans Stiffler und Alexander Heckmann dagegen Einsprache erhoben.

    B.- Am 31. Januar 1983 erliess der Kreispräsident folgende Verfügung:

    "1. Gestützt auf die fristgerecht ergangenen Einsprachen gegen das

    Ersitzungsgesuch des Christian Rüedi-Zogg wird den Einsprechern hiermit
   eine Frist von 60 Tagen, d.h. bis zum 31. März 1983, für eine
   entsprechende gerichtliche Klage gegen das Ersitzungsbegehren
   eingeräumt.

    2. Nach unbenutztem Ablauf dieser Frist würde dem Ersitzungsbegehren
   nachträglich und in vollem Umfang stattgegeben."
Gegen diese Verfügung erhoben die Einsprecher beim Kantonsgerichtspräsidium
von Graubünden Rekurs, mit dem sie im wesentlichen geltend machten,
der Gesuchsteller habe die Voraussetzungen für eine ausserordentliche
Ersitzung der Dienstbarkeit nicht hinreichend glaubhaft gemacht; zudem
habe der Kreispräsident die Parteirollen unrichtig verteilt. Mit Entscheid
vom 16. Mai 1983 wies das Kantonsgerichtspräsidium den Rekurs ab, wobei
es den Einsprechern eine neue, bis zum 30. September 1983 laufende
Klagefrist ansetzte.

    C.- Gegen den Entscheid des Kantonsgerichtspräsidiums erhoben Hans
Stiffler und Alexander Heckmann beim Bundesgericht sowohl zivilrechtliche
Nichtigkeitsbeschwerde als auch staatsrechtliche Beschwerde. Letztere wurde
mit Urteil vom heutigen Tag abgewiesen; soweit darauf einzutreten war. Mit
der vorliegenden Nichtigkeitsbeschwerde beantragen die Beschwerdeführer die
Aufhebung des angefochtenen Entscheids. Der Beschwerdegegner beantragt,
die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei, währenddem
das Kantonsgerichtspräsidium in seiner Vernehmlassung auf Abweisung
schlechthin schliesst.

    Mit Verfügung vom 18. Oktober 1983 wurde der Beschwerde in dem Sinne
aufschiebende Wirkung zuerkannt, dass den Beschwerdeführern die Frist zur
Klageeinreichung im Falle ihres Unterliegens auf 60 Tage nach Zustellung
des bundesgerichtlichen Entscheids erstreckt wurde.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Beschwerdeführer berufen sich auf Art. 68 Abs. 1 lit.  a OG,
wonach die Nichtigkeitsbeschwerde dann zulässig ist, wenn statt des
massgebenden eidgenössischen Rechts kantonales oder ausländisches Recht
angewendet worden ist. Sie machen geltend, die kantonalen Instanzen
hätten dadurch, dass sie die Frist zur Klageerhebung gestützt auf
kantonales Recht ihnen, den Beschwerdeführern, angesetzt hätten, gegen
Bundesrecht, insbesondere gegen Art. 8 sowie gegen Art. 662 und Art. 731
ZGB, verstossen.

    Die Anwendung von kantonalem statt eidgenössischem Recht bei der
Verteilung der Parteirollen im Verfahren der ausserordentlichen Ersitzung
kann den kantonalen Instanzen nur dann zur Last gelegt werden, wenn
dem eidgenössischen Recht diesbezüglich überhaupt eine Regel entnommen
werden kann. Das ist jedoch nicht der Fall. Insbesondere sagt der von den
Beschwerdeführern angerufene Art. 8 ZGB, der die Verteilung der Beweislast
regelt, nichts über die Verteilung der Parteirollen aus, umgekehrt
ist diese auf die Beweislastverteilung ohne Einfluss (KUMMER, N. 214
ff. zu Art. 8 ZGB). Es trifft daher nicht zu, dass die Beschwerdeführer
deswegen, weil sie als Kläger auftreten müssen, zu beweisen hätten,
dass der Beschwerdegegner die streitige Dienstbarkeit nicht ersessen hat.

    Aber auch die Art. 662 und 731 ZGB sprechen sich nicht darüber aus,
wer im Prozess über die ausserordentliche Ersitzung die Klägerrolle zu
übernehmen hat. Das Bundesrecht schreibt nur vor, dass die Eintragung
des ersessenen Rechts auf Verfügung des Richters zu erfolgen hat,
nachdem binnen einer durch amtliche Auskündung angesetzten Frist kein
Einspruch erhoben oder dieser abgewiesen worden ist (Art. 662 Abs. 3
ZGB). Wie das Auskündungsverfahren auszugestalten und wie der erhobene
Einspruch zu beseitigen ist, sagt das Bundesrecht nicht. Es kommt daher
die allgemeine Regel des Art. 64 Abs. 3 BV zur Anwendung, wonach die
Zuständigkeit für das Verfahrensrecht den Kantonen zukommt. Dagegen lässt
sich nicht anführen, in verschiedenen Bundesgesetzen finde sich die Regel,
dass eine auf blosses Glaubhaftmachen hin ergangene provisorische Massnahme
in einem vom ursprünglichen Gesuchsteller einzuleitenden Gerichtsverfahren
bestätigt werden müsse (so z.B. Art. 278 SchKG, Art. 12 Abs. 1 UWG; Art. 53
Ziff. 3 URG, Art. 77 Abs. 4 PatG; vgl. auch Art. 961 Abs. 3 ZGB). Auf
dem Gebiet der ausserordentlichen Ersitzung hat der Bundesgesetzgeber
keine solche Regel aufgestellt, ganz abgesehen davon, dass die kantonalen
Instanzen im vorliegenden Fall weder eine die Beschwerdeführer belastende
provisorische Massnahme angeordnet noch die Vormerkung einer vorläufigen
Grundbucheintragung verfügt haben. Schliesslich ist es zwar richtig,
dass ein Teil der Lehre die Auffassung vertritt, die Klägerrolle sei nach
erfolgtem Einspruch dem Ersitzungsprätendenten zuzuweisen (so insbesondere
LIVER, N. 101 zu Art. 731 ZGB; ders. in: Schweiz. Privatrecht, Bd. V/1,
S. 154 N. 28; REY, N. 242 zu Art. 731 ZGB). Entgegen der Behauptung der
Beschwerdeführer sagen diese Autoren jedoch nicht, dass es sich dabei um
eine Norm des Bundesrechts handle.

Erwägung 2

    2.- Fragen kann man sich dagegen, ob das kantonale Prozessrecht einen
Berechtigten unter Androhung des Rechtsverlusts dazu anhalten könne,
sein Recht gerichtlich geltend zu machen. Diese Fragestellung deckt sich
mit derjenigen nach der Zulässigkeit der Klageprovokation. Dazu führt
GULDENER aus, inwiefern ein Berechtigter durch passives Verhalten,
durch Nichtausübung oder Unterlassung der Klage seinen Anspruch
verwirken könne, sei eine Frage des materiellen Rechts und nicht
des Verfahrensrechts. Indessen kenne das Bundesrecht Grundsätze, zu
deren Verwirklichung das kantonale Prozessrecht die Klageprovokation
einführen könne. Diese sei nichts anderes als ein althergebrachter
Ersatz der negativen Feststellungsklage. Mit der letzteren mache der
Kläger geltend, dass das vom Beklagten behauptete Recht nicht bestehe; er
bringe die Frage seines Bestandes oder Nichtbestandes zur gerichtlichen
Entscheidung. Den gleichen Inhalt und Zweck habe die provozierte Klage,
nur mit dem Unterschied, dass der angeblich Berechtigte in die Rolle
des Klägers gedrängt werde; er habe das behauptete Recht einzuklagen,
ansonst er es verwirke, gleich wie er es verwirke, wenn er sich
auf die negative Feststellungsklage nicht einlasse. Inwiefern ein
Anspruch auf Feststellung von Bestand oder Nichtbestand von Rechten und
Rechtsverhältnissen bestehe, die aus dem Bundesprivatrecht hergeleitet
würden, sei eine Frage des Bundesrechts. Soweit ein (bundesrechtliches)
Rechtsschutzbedürfnis bestehe, hätten die Kantone die Klage, mit welcher
Bestand oder Nichtbestand eines solchen Rechtes oder Rechtsverhältnisses
geltend gemacht werde, zuzulassen. Eine Frage des kantonalen Prozessrechts
sei es aber, ob im Falle eines Feststellungsbedürfnisses dieses auf dem
Weg der Provokation befriedigt werden solle (Schweiz. Zivilprozessrechts,
3. Aufl., S. 72).

    Überträgt man diese Überlegungen auf den vorliegenden Fall, so steht
ausser Zweifel, dass die Ansetzung einer Klagefrist an die Beschwerdeführer
mit dem Bundesrecht nicht in Widerspruch steht. Wird nämlich gegen
ein Ersitzungsbegehren Einspruch erhoben, so ergibt sich schon aus der
Regelung der Art. 662 Abs. 3 ZGB, dass die Frage des Bestandes oder des
Nichtbestandes des angeblich ersessenen Rechts gerichtlich entschieden
werden muss. Das rechtliche Interesse an der Klärung dieser Frage ist daher
ohne weiteres gegeben. Unter diesen Umständen ist es aber nach dem Gesagten
dem kantonalen Prozessrecht überlassen, ob es den Ersitzungsprätendenten
oder den Einsprecher zur Klage auffordern will. Im einen wie im andern
Fall müssen sich die Beschwerdeführer in einen Prozess einlassen, wenn
sie nicht riskieren wollen, dass die streitige Dienstbarkeit im Grundbuch
eingetragen wird.

Erwägung 3

    3.- Indem die kantonalen Instanzen die Klägerrolle den
Beschwerdeführern zuwiesen, haben sie somit nicht kantonales Recht anstelle
des massgebenden eidgenössischen Rechts angewendet. Die Beschwerde ist
daher abzuweisen.