Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 110 II 168



110 II 168

35. Urteil der I. Zivilabteilung vom 18. Juni 1984 i.S. Jacopetta gegen
Gunterswiler (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Arbeitsvertrag; Kündigungsschutz bei krankheitsbedingter
Arbeitsunfähigkeit (Art. 336e Abs. 1 lit. b, 341 Abs. 1 OR).

    Der Arbeitnehmer kann nicht einseitig auf den Kündigungsschutz
gemäss Art. 336e OR und die damit verbundene Lohnfortzahlung während
der verlängerten Kündigungszeit verzichten. Im Rahmen eines Vergleichs
zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ist ein Verzicht nur in eindeutigen
Fällen beiderseitigen Entgegenkommens zulässig (E. 3 und 4).

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Jakob Gunterswiler kündigte am 26. Februar 1983 seinem Chauffeur
Antonio Jacopetta das seit April 1980 bestehende Arbeitsverhältnis
auf Ende März 1983. Am 12. März 1983 bestätigte der Arbeitnehmer
unterschriftlich die Vertragsauflösung per 30. April 1983 und den Empfang
eines aufgerundeten Betrages von Fr. 4'000.-- per Saldo aller Ansprüche.

    Im Mai 1983 erhob Jacopetta Klage auf Zahlung von Fr. 5'000.--,
nachträglich präzisiert auf Fr. 4'998.80, weil er vom 14. März bis
25. April 1983 krank gewesen sei, womit sich die Kündigungsfrist und der
Lohnanspruch bis zum 30. Juni 1983 erstreckt hätten. Das Bezirksgericht
Frauenfeld und am 6. März 1984 auch das Obergericht Thurgau wiesen die
Klage ab.

    Der Kläger hat gegen das obergerichtliche Urteil staatsrechtliche
Beschwerde erhoben mit dem Antrag, das Urteil wegen willkürlicher
Beweiswürdigung und willkürlicher Rechtsanwendung aufzuheben. Der
Beschwerdegegner und das Obergericht schliessen auf Abweisung der
Beschwerde.

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer beanstandet, dass das Obergericht seine
krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit nicht für bewiesen hält, und er
rügt insoweit ausser willkürlicher Beweiswürdigung auch Missachtung der
bundesrechtlichen Offizialmaxime (Art. 343 Abs. 4 OR) und des kantonalen
Beweisführungsrechts.

    Das Obergericht geht selbst davon aus, dass der Beschwerdeführer
sich am 14. März 1983 wegen eines Augenleidens habe in Spitalpflege
begeben müssen, wobei er sich offenbar bis 25. April 1983 in der Klinik
und in Rekonvaleszenz befunden habe. Es vermisst indes ein entsprechendes
ärztliches Zeugnis und hält nicht für bewiesen, dass der Beschwerdeführer
während dieser ganzen Zeit zu 100% arbeitsunfähig gewesen sei. Die Rügen
des Beschwerdeführers träfen zu, wenn das Obergericht sich mit dieser
Beurteilung begnügt hätte. Es schliesst seine Erwägung indes ausdrücklich
mit der Bemerkung, auf die Einholung eines Arztzeugnisses für die Zeit
ab 14. März 1983 könne verzichtet werden, weil dem Beschwerdeführer
aufgrund der Saldovereinbarung vom 12. März 1983 keine Ansprüche mehr
zustünden. Soweit die Beschwerde das Beweisverfahren betrifft, ist auf
sie deshalb nicht einzutreten. Ihr Erfolg hängt ausschliesslich davon
ab, ob die weiteren Erwägungen des angefochtenen Urteils vor Art. 4
BV standhalten.

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer rügt als willkürlich, dass das Obergericht
sich über die zwingende Kündigungsvorschrift des Art. 336e OR hinwegsetze
und die Unverzichtbarkeit laut Art. 341 OR missachte.

    a) Das Obergericht anerkennt grundsätzlich, dass eine
krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit vom 14. März bis 25. April 1983,
wie sie der Beschwerdeführer behauptet, die Kündigung statt auf den
30. April erst auf den 30. Juni 1983 hätte wirksam werden lassen. Es
hält aber im Rahmen von Art. 336e OR eine Vereinbarung der Parteien, das
Arbeitsverhältnis aufzulösen und damit auf Kündigungsschutz zu verzichten,
aufgrund von Art. 115 OR für jederzeit zulässig. Der Beschwerdeführer
habe sich zuvor von seinem Verband über die Rechtslage aufklären lassen
und habe auch nie einen Willensmangel geltend gemacht. Wenn er sich
heute auf die Ungültigkeit dieses Aufhebungsvertrags berufe, handle er
rechtsmissbräuchlich.

    Zwar kann unter gewissen Voraussetzungen auch zwingenden
Kündigungsvorschriften gegenüber ein Aufhebungsvertrag der Parteien
zulässig sein (BGE 102 Ia 417 mit Hinweisen). Indes darf diese
Vereinbarung nicht zu einer klaren Umgehung des zwingenden gesetzlichen
Kündigungsschutzes führen. Zu Recht stellt das Obergericht fest, dass die
vom Beschwerdegegner ausgesprochene Kündigung auch ohne den Spitaleintritt
erst auf den 30. April 1983 wirksam geworden ist. Was als Aufhebungsvertrag
bezeichnet wird, ist daher nichts anderes als ein einseitiger Verzicht
des Beschwerdeführers auf den ihm zustehenden Kündigungsschutz.

    b) Indem der Beschwerdeführer sich in seiner Saldoerklärung vom
12. März 1983 mit dem Lohnanspruch bis Ende April 1983 begnügte,
verzichtete er auf die Lohnfortzahlung für die verlängerte
Kündigungszeit. Dieser Verzicht war nach Art. 341 Abs. 1 OR nichtig,
ohne dass es dafür irgendwelcher Willensmängel bedurft hätte.

    Das Obergericht nimmt indes keinen einseitigen Verzicht an, vielmehr
habe die Vereinbarung die Interessen beider Parteien gewahrt, weil die
Dauer der erwarteten Arbeitsunfähigkeit nicht bekannt gewesen sei und
keineswegs mit hundertprozentiger Arbeitsunfähigkeit bis Ende April 1983
habe gerechnet werden müssen. Der Beschwerdeführer habe den Vorteil gehabt,
schon ab Mitte März eine neue Stelle suchen zu können und seine Dienste
nach der Operation nicht mehr anbieten zu müssen; der Beschwerdegegner
habe den Vorteil gehabt, dass er die Stelle sofort anderweitig habe
besetzen können. Diese Interessenabwägung vermag an sich schon, etwa
hinsichtlich Stellensuche trotz Spitalaufenthalt, nicht zu überzeugen;
sie erlaubt indes ohnehin nicht, den auf das besondere Schutzbedürfnis
des Arbeitnehmers ausgerichteten Art. 341 Abs. 1 OR derart zu relativieren
(BGE 105 II 41, 102 Ia 417 mit Hinweisen).

    Zwar schliesst diese Norm nach der Rechtsprechung nur einen einseitigen
Verzicht des Arbeitnehmers aus und verhindert nicht, dass Arbeitgeber und
Arbeitnehmer im Rahmen eines Vergleichs gegenseitig Verzichte erklären
(BGE 106 II 223). Das muss sich aber auf eindeutige Fälle beschränken,
sei es, dass der Vergleich Überstunden beschlägt, die zahlenmässig nicht
bewiesen sind (BGE 106 II 223) oder dass der Verzicht des Arbeitnehmers
durch zusätzliche Leistungen des Arbeitgebers reichlich kompensiert wird.

    Der vorliegende Sachverhalt rechtfertigt eine solche Ausnahme von
Art. 341 Abs. 1 OR ganz gewiss nicht. Der Beschwerdeführer erklärte kurz
vor Spitaleintritt den Verzicht auf seine Ansprüche aus Art. 336e OR,
ohne zu wissen, wie lange seine Arbeitsunfähigkeit dauern werde; lässt
sich seine Darstellung nachweisen, ergibt sich ein Verzicht im Ausmass von
zwei Monatslöhnen. Dem stand als Gegenleistung des Beschwerdegegners nach
dem angefochtenen Urteil höchstens gegenüber, dass der Beschwerdeführer
zwischen dem Ende der Arbeitsunfähigkeit und dem Kündigungstermin vom
30. April 1983 nicht mehr zur Arbeit zu erscheinen brauchte; dem hält aber
die Vorinstanz zutreffend entgegen, dass der Beschwerdegegner an einer
sofortigen Wiederbesetzung der Stelle interessiert war, weshalb er nach
der Wiederherstellung des Beschwerdeführers dessen Arbeitsofferte abgelehnt
hat. Von einem beiderseitigen Entgegenkommen kann keine Rede sein.

    c) Zu Unrecht wirft das Obergericht dem Beschwerdeführer schliesslich
Rechtsmissbrauch vor. Wer als Arbeitnehmer aufgrund von Art. 341 Abs. 1
OR einen zuvor erklärten Verzicht nicht mehr gelten lassen will, handelt
stets widersprüchlich. Es kann indes nicht der Sinn des Gesetzes sein,
dem Arbeitnehmer den mit Art. 341 OR gewährten Schutz auf dem Umweg
über Art. 2 Abs. 2 ZGB wieder zu entziehen (BGE 105 II 42). Irgendwelche
besonderen Umstände, welche das Verhalten des Beschwerdeführers darüber
hinaus als missbräuchlich erscheinen liessen, sind nicht ersichtlich.

Erwägung 4

    4.- Indem das Obergericht dem Beschwerdeführer allein wegen seiner
Saldoquittung einen Anspruch aus Art. 336e OR unbekümmert darum versagt,
ob er während der Kündigungszeit arbeitsunfähig war, verstösst es demnach
eindeutig gegen den Wortlaut wie gegen Sinn und Zweck der Schutzvorschrift
von Art. 341 Abs. 1 OR. Sowohl die Begründung als auch das Ergebnis des
angefochtenen Entscheids sind unhaltbar. Die Willkürrüge ist deshalb
begründet und die Beschwerde gutzuheissen.

    Das Verfahren ist kostenlos, die Prozessentschädigung der
unterliegenden Partei aber geschuldet (BGE 100 Ia 130 E. 7).