Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 110 II 113



110 II 113

21. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 16. März 1984 i.S. X.
gegen Y. gesch. X. (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Verletzung von Art. 4 BV durch Missachtung prozessualer Grundsätze
(Verbot der reformatio in peius; Dispositionsmaxime) im kantonalen
Appellationsverfahren: Abänderung einer von der ersten Instanz gestützt
auf Art. 152 ZGB zugesprochenen scheidungsrechtlichen Unterhaltsrente in
eine solche gemäss Art. 151 Abs. 1 ZGB ohne entsprechenden Parteiantrag.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Das Obergericht hat festgehalten, dass eine Bedürftigkeit der
Beschwerdegegnerin nicht gegeben sei, wenn diese neben dem Einkommen aus
ihrer Teilzeitbeschäftigung einen Unterhaltsbeitrag des Beschwerdeführers
von Fr. 800.-- im Monat beziehe. Unter Hinweis auf BGE 108 II 83 (Nr. 14),
wonach in einem solchen Fall die Zusprechung einer Bedürftigkeitsrente
gemäss Art. 152 ZGB ausgeschlossen ist (Subsidiarität), sprach die
kantonale Appellationsinstanz der Beschwerdegegnerin die auf Fr. 800.--
festgesetzte Unterhaltsrente ausschliesslich gestützt auf Art. 151
Abs. 1 ZGB zu. Der Beschwerdeführer erblickt darin einen Verstoss gegen
Art. 4 BV: Indem das Obergericht im Gegensatz zur ersten Instanz und ohne
entsprechenden Antrag Art. 152 ZGB überhaupt nicht mehr zur Anwendung
gebracht habe, habe es in willkürlicher Weise gegen das Verbot der
reformatio in peius verstossen und die Dispositionsmaxime missachtet.

Erwägung 3

    3.- a) Wie der Beschwerdeführer selbst darlegt, ist das Verbot
der reformatio in peius in der aargauischen Zivilprozessordnung nicht
ausdrücklich verankert. Das erwähnte Verbot lässt sich jedoch indirekt aus
dem Umstand ableiten, dass das aargauische Zivilprozessrecht (in § 325
ZPO) die Möglichkeit der Anschlussappellation vorsieht (vgl. GULDENER,
Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl., S. 497). Das Verbot
der reformatio in peius bedeutet, dass eine Appellationsinstanz den
angefochtenen Entscheid nicht zu Ungunsten derjenigen Partei abändern
darf, die das Rechtsmittel ergriffen hat, es sei denn, die Gegenpartei
habe eine Anschlussappellation eingereicht.

    b) Es trifft zu, dass sich eine Entschädigungsrente gemäss
Art. 151 Abs. 1 ZGB nach Voraussetzungen, Inhalt und Wirkungen von
einer Bedürftigkeitsrente im Sinne von Art. 152 ZGB unterscheidet
(vgl. BÜHLER/SPÜHLER, N. 6 zu Art. 152 ZGB). Dem Beschwerdeführer geht es
um die Herabsetzbarkeit der von ihm zu leistenden Unterhaltsbeiträge. Die
dem geschiedenen Ehegatten gestützt auf Art. 151 ZGB zugesprochene
Rente ist grundsätzlich unabänderlich. Zur Vermeidung von Härten lässt
die bundesgerichtliche Rechtsprechung allerdings zu, dass auch eine
Rente nach Art. 151 Abs. 1 ZGB - soweit für den Verlust des ehelichen
Unterhaltsanspruches zuerkannt - herabgesetzt oder aufgehoben werden kann,
wenn die Lage des Pflichtigen sich wesentlich verschlechtert hat. Im
Gegensatz zur Rente nach Art. 152 ZGB bleibt jedoch eine Verbesserung
der wirtschaftlichen Verhältnisse auf seiten des Berechtigten als
Herabsetzungsgrund ausser Betracht (vgl. BGE 104 II 239 E. 3 mit Hinweisen;
BÜHLER/SPÜHLER, N. 59 zu Art. 153 ZGB).

    c) Aus dem Gesagten erhellt, dass der leistungspflichtige Ehegatte bei
einer Unterhaltsrente nach Art. 151 Abs. 1 ZGB schlechter gestellt ist als
bei einer solchen gemäss Art. 152 ZGB. Ändert eine Rechtsmittelinstanz -
wie hier das Obergericht - einen Unterhaltsbeitrag im Sinne von Art. 152
ZGB in einen solchen gemäss Art. 151 Abs. 1 ZGB ab, ohne dass eine der
beiden Parteien in prozessual zulässiger Form einen entsprechenden Antrag
gestellt hätte, liegt darin eine reformatio in peius (dazu vgl. BGE 108
II 83, Nr. 14). Da es sich beim Verbot der reformatio in peius um einen
klaren und unumstrittenen Rechtsgrundsatz handelt, verstösst dessen
eindeutige Missachtung durch das Obergericht gegen Art. 4 BV (vgl. BGE
107 Ia 12 E. 2d; 105 II 37 E. 2), was schon aus diesem Grund zur Aufhebung
des angefochtenen Urteils führt.

Erwägung 4

    4.- Dem Beschwerdeführer ist im übrigen auch insofern beizupflichten,
als er in der Zusprechung eines ausschliesslich auf Art. 151 ZGB beruhenden
Unterhaltsbeitrages eine Verletzung der Dispositionsmaxime im Sinne von §
2 ZPO erblickt. Gemäss dieser Bestimmung darf der Richter einer Partei
grundsätzlich weder mehr noch einen andern Gegenstand zusprechen, als
sie verlangt hat. Einem an sich anspruchsberechtigten Ehegatten steht es
von Bundesrechts wegen frei, auf scheidungsrechtliche Unterhaltsbeiträge
ganz oder teilweise zu verzichten, solche nur gestützt auf Art. 152 ZGB
zu verlangen, obwohl die Voraussetzungen von Art. 151 Abs. 1 ZGB gegeben
wären, oder sich solche aus Art. 151 Abs. 1 ZGB zugestehen zu lassen,
obwohl die gesetzlichen Voraussetzungen hiefür nicht erfüllt sind. Ein
gesetzlicher Grund im Sinne von § 2 ZPO, der dem Obergericht geboten hätte,
den von der ersten Instanz in Anwendung von Art. 152 ZGB zugesprochenen
Unterhaltsbeitrag trotz Fehlens eines entsprechenden Antrages der
Beschwerdegegnerin in einen solchen nach Art. 151 Abs. 1 ZGB abzuändern,
bestand mithin nicht. Der Entscheid der kantonalen Appellationsinstanz
verstösst somit auch aus dieser Sicht in klarer Weise gegen einen
unumstrittenen Rechtsgrundsatz und demzufolge gegen Art. 4 BV.

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