Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 110 II 1



110 II 1

1. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 31. Januar 1984
i.S. Guyan und Christ AG gegen TIMON Vertriebsgesellschaft GmbH (Berufung)
Regeste

    Art. 8 und Art. 9 Abs. 1 ZGB; erhöhte Beweiskraft öffentlicher
Urkunden, tatsächlich Vermutung für die Richtigkeit des verurkundeten
Inhalts.

    In einer öffentlichen Urkunde festgehaltene Parteierklärungen, deren
Richtigkeit die Urkundsperson weder prüfen muss noch feststellen oder
bescheinigen kann, geniessen in der Regel keine erhöhte Beweiskraft
im Sinne von Art. 9 Abs. 1 ZGB. Das gilt in besonderem Masse für den
Fall, dass sich eine am verurkundeten Rechtsgeschäft teilnehmende Partei
gegenüber einer anderen, nicht daran beteiligten auf die in der Urkunde
aufgeführten Erklärungen beruft.

Sachverhalt

    A.- Die TIMON Vertriebsgesellschaft GmbH macht gegen die Guyan und
Christ AG Forderungen aus Mäklervertrag geltend für die Vermittlung von
Stockwerkeigentum an deutsche Käufer. Die Guyan und Christ AG beruft
sich darauf, dass die Kaufverträge im Rahmen von öffentlich beurkundeten
Rückabwicklungsverträgen nachträglich aufgehoben wurden. In diesen wird
festgehalten, die rückwirkende Aufhebung erfolge, "weil die Käuferschaft
gestützt auf Art. 20 ff. des Schweizerischen Obligationenrechts
die Nichtigkeit wegen Verstosses gegen die guten Sitten sowie die
Unverbindlichkeit wegen Übervorteilung, Täuschung und wesentlichen Irrtums"
geltend mache; alles Vorwürfe, welche der TIMON anzulasten seien.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Die Beklagte wirft dem Kantonsgericht die Verletzung
von Bundesrecht vor, weil es die in den öffentlich beurkundeten
Rückabwicklungsverträgen festgehaltenen Aufhebungsgründe nicht als volle
Beweise gemäss Art. 9 Abs. 1 ZGB habe gelten lassen und ihnen überhaupt
jegliche Beweiskraft im Sinne von Art. 8 ZGB abgesprochen habe. Sie legt
dar, gemäss Art. 9 Abs. 1 ZGB erbrächten öffentliche Register und Urkunden
für die durch sie bezeugten Tatsachen den vollen Beweis, solange nicht
die Unrichtigkeit ihres Inhalts nachgewiesen sei; das Bundesrecht schaffe
damit im Ergebnis eine gesetzliche Vermutung; der Richter müsse sich an die
volle Beweiskraft der öffentlichen Urkunde halten, und die beweispflichtige
Partei sei von der Beschaffung zusätzlicher Beweise völlig befreit.

    Das Kantonsgericht hat diese Argumentation mit der Begründung
abgelehnt, Beweis erbringe eine öffentliche Urkunde nur insoweit, als
sie eine Amtshandlung verkörpere oder Feststellungen wiedergebe, die
bei Vornahme einer Amtshandlung gemacht worden seien. Gemäss Art. 37
der kantonalen Notariatsverordnung erkläre der Notar nur, die Urkunde
enthalte den ihm mitgeteilten Parteiwillen. Ob dieser Parteiwille auch der
tatsächliche sei oder bloss ein simulierter, müsse und könne der Notar
nicht bezeugen, da es eben nur darauf ankomme, dass ihm ein Parteiwille
mitgeteilt werde. Ebenso verhalte es sich mit Tatsachenbehauptungen,
welche in die Urkunde aufgenommen würden. Die Rückabwicklungsverträge
bezeugten nicht, dass die in ihnen enthaltenen Vorwürfe an die TIMON
tatsächlich zuträfen. Die fraglichen Urkunden bestätigten nur, dass die
Vertragsparteien diese Vorwürfe vor dem Notar erhoben hätten.

    a) Die Auslegung des Kantonsgerichts ist nicht zu beanstanden. Die
verstärkte Beweiskraft im Sinne von Art. 9 Abs. 1 ZGB beschränkt sich in
der Regel auf das von der Urkundsperson als richtig Bescheinigte. Ob die
Behauptungen der Käufer bezüglich der Aufhebungsgründe inhaltlich richtig
waren, konnte der Notar im vorliegenden Fall jedoch weder wissen noch
bescheinigen. Er war einzig in der Lage festzustellen, dass die Käufer
bzw. ihre Rechtsvertreter die entsprechenden Behauptungen geäussert
hatten. Die Frage, ob sich die Käufer die erhöhte Beweiskraft in einem
Verfahren mit den an den Rückabwicklungsverträgen beteiligten Parteien
entgegenhalten lassen müssten, braucht nicht entschieden zu werden. Der
Klägerin gegenüber, die an jenen Rechtsgeschäften nicht beteiligt
war, kann sich die Beklagte jedenfalls nicht auf Art. 9 Abs. 1 ZGB
berufen. Andernfalls wäre es möglich, die Regeln über die Führung des
Beweises und die Verteilung der Beweislast durch die Art der Abfassung
öffentlich beurkundeter Erklärungen zu Lasten einer Partei, die auf die
Verurkundung keinen Einfluss nehmen konnte, beliebig zu verändern.

    Im übrigen wird entgegen der Behauptung der Beklagten in der
Literatur mehrheitlich die Auffassung vertreten, verstärkte Beweiskraft
im Sinne von Art. 9 Abs. 1 ZGB geniesse der Urkundeninhalt nur unter
der Voraussetzung, dass die betreffende Tatsache von der Urkundsperson
zu prüfen und sie in der Lage gewesen sei, Feststellungen dieser Art
aufgrund eigener Wahrnehmung zuverlässig zu treffen (GULDENER, Grundzüge
der freiwilligen Gerichtsbarkeit der Schweiz, S. 10 und 11; derselbe,
Schweiz. Zivilprozessrecht, 3. Aufl., S. 333 Fussnote 5; KUMMER, N. 42 und
43 zu Art. 9 ZGB; R. BÜHLER, in ZBGR 63 (1982) S. 356). Auch im Kommentar
GMÜR/HAFTER, auf den sich die Beklagte insbesondere beruft, wird darauf
hingewiesen, dass nicht alles, was in der Urkunde steht, als verurkundet
anzusehen sei, sondern nur der Inhalt, den zu bezeugen die Urkunde ihrer
Natur nach bezwecke (N. 21b zu Art. 9 ZGB). Der Hinweis auf DESCHENAUX
hilft der Beklagten ebenfalls nichts; denn auch dieser Autor teilt ihre
Auffassung nicht, sondern stellt lediglich fest, die Frage sei umstritten
(Schweiz. Privatrecht, Bd. II, S. 277/8). Schliesslich ist der Beklagten
zwar zuzustimmen, dass eine kantonale Verfahrensvorschrift wie Art. 37
der Bündner Notariatsverordnung den Anwendungsbereich des Art. 9 Abs. 1
ZGB nicht zu beschränken vermag; dem kommt jedoch keine Bedeutung zu,
weil die Anwendung dieser Bestimmung zu keinem andern Ergebnis führt als
die richtige Auslegung von Art. 9 Abs. 1 ZGB. Die Rüge der Verletzung
dieser Bundesrechtsnorm ist somit unbegründet.

    b) Für diesen Fall macht die Beklagte geltend, das Kantonsgericht
habe nicht berücksichtigt, dass durch die öffentliche Beurkundung eine
tatsächliche Vermutung für die Richtigkeit des verurkundeten Inhalts
geschaffen werde; denn die notarielle Beurkundung halte - im Gegensatz
zur einfachen Schriftlichkeit - von unrichtigen oder nicht ernst gemeinten
Parteierklärungen ab.

    Die Beklagte, welche sich zur Stützung ihrer Vorbringen auf
KUMMER (N. 44 zu Art. 9 ZGB) beruft, übersieht indessen, dass KUMMER
für die Umschreibung des Begriffs der tatsächlichen Vermutung auf
seine Kommentierung von Art. 8 ZGB verweist. Dort (N. 363 zu Art. 8
ZGB) legt er dar, die tatsächliche Vermutung sei immer nur eine
Wahrscheinlichkeitsfolgerung, aus Erfahrung und Wissen gewonnen, die der
Richter aufgrund der individuellen Gegebenheiten des konkreten Einzelfalles
glaube ziehen zu können. Sie wirke sich nur in der Beweiswürdigung aus,
weil eine bloss beweiswürdigende Tätigkeit das Abwägen sei, ob eine
Sachbehauptung durch bewiesene umliegende Sachumstände so wahrscheinlich
gemacht sei, dass sie sich zur richterlichen Überzeugung verdichte,
weswegen denn auch die tatsächliche Vermutung schon blossem Gegenbeweis
weiche und nicht durch den Beweis des Gegenteils widerlegt werden müsse
wie die gesetzliche Vermutung. Es handelt sich demnach um eine Frage der
Beweiswürdigung. Da diese aber mit der Berufung nicht angefochten werden
kann (BGE 102 II 84 mit Hinweisen), ist auf die Rüge der Beklagten nicht
einzutreten.