Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 110 III 17



110 III 17

5. Auszug aus dem Entscheid der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer
vom 20. Januar 1984 i.S. X. (Rekurs) Regeste

    Lohnpfändung.

    Der Gebrauch eines Automobils für die Fahrt zur Arbeit ist bei einer
alleinstehenden Mutter eines kleinen Kindes als notwendig zu betrachten,
wenn die Benützung der öffentlichen Verkehrsmittel mit einer Verlängerung
der Fahrzeit verbunden wäre, die das Zusammensein mit dem Kind zeitlich
über Gebühr einschränken würde.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Auf Grund der für die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des
Bundesgerichts verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz (vgl. Art. 63
Abs. 2 in Verbindung mit Art. 81 OG) ist davon auszugehen, dass die
Rekurrentin mit ihrem siebenjährigen Sohn A. zusammenlebt, der in
schulpsychologischer Behandlung steht. Da die Rekurrentin berufstätig
ist, hält sich das Kind tagsüber (nach den Angaben der Rekurrentin von
morgens 07.35 Uhr bis abends 17.20 Uhr) bei einer Tagesmutter auf,
wo es das Mittagessen und zwei Zwischenverpflegungen einnimmt. Die
Rekurrentin hat hiefür Fr. 500.- im Monat zu bezahlen. Zur Arbeit fährt
sie mit ihrem eigenen Personenwagen. Während ihr das Betreibungsamt
die Benützung dieses Fahrzeuges zugestanden und bei der Ermittlung
des Notbedarfs unter diesem Titel Fr. 500.- im Monat eingesetzt hatte
(Fr. 200.- als Abzahlungsrate und Fr. 300.- als Betriebskosten), hielten
die kantonalen Aufsichtsbehörden dafür, es sei ihr zuzumuten, die Fahrt zum
Arbeitsplatz mit den öffentlichen Verkehrsmitteln und dem Personalbus ihrer
Arbeitgeberin zurückzulegen. Im angefochtenen Entscheid wurden deshalb
anstelle der Autokosten die Kosten für Post- und Bahnabonnement eingesetzt.

Erwägung 2

    2.- Ob einem Pfändungsschuldner zugestanden werden kann, für die
Fahrt zum Arbeitsplatz ein eigenes Fahrzeug zu benützen, ist eine Frage
des Ermessens (vgl. BGE 104 III 75 E. 2b). Die Schuldbetreibungs- und
Konkurskammer darf in einem solchen Fall deshalb nur eingreifen, wenn
die kantonale Aufsichtsbehörde das ihr zustehende Ermessen überschritten
oder missbraucht, d.h. sachfremde Kriterien mitberücksichtigt oder
rechtserhebliche Umstände ausser acht gelassen hat (vgl. BGE 106 III 78
mit Hinweis; 105 III 76 E. 3b).

    a) Mit dem Rekursgegner nimmt die Vorinstanz an, das Automobil sei
für die Rekurrentin nicht unentbehrlich, weil sie ohne weiteres mit den
öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren könne; wenn sie morgens
an ihrem Wohnort ... um 06.38 Uhr das Postauto nach R. besteige und
anschliessend mit dem Zug nach S. weiterfahre, treffe sie dort um 07.06
Uhr ein; mit dem Personalbus ihrer Arbeitgeberin könne sie alsdann
den Arbeitsort pünktlich um 07.30 Uhr erreichen. Für die Rückfahrt am
Abend könne sie um 17.18 Uhr in S. den Zug besteigen und treffe um 17.40
Uhr mit dem Postauto an ihrem Wohnort ein. Nach den Feststellungen der
Vorinstanz verlängert sich die Zeit für die Fahrt zur Arbeit um ungefähr
eine Stunde (Hin- und Rückfahrt), wenn die Rekurrentin statt ihres eigenen
Personenwagens Bus und Bahn benützt.

    b) Eine Unannehmlichkeit der erwähnten Art ist einem
Betreibungsschuldner grundsätzlich ohne weiteres zuzumuten, was auch die
Rekurrentin im Grunde genommen nicht in Abrede stellt. Sie weist jedoch
darauf hin, dass die Verlängerung der Fahrzeit zur Folge hätte, dass sie
ihr Kind morgens früher zur Tagesmutter bringen und abends länger dort
lassen müsste. Die sich so ergebende längere Trennung würde nach Ansicht
des Schulpsychologen dem Kind schaden. Im übrigen sei die gegenwärtige
Tagesmutter nicht bereit, A. am Morgen früher zu sich zu nehmen, so dass
ein Wechsel des Pflegeplatzes notwendig würde.

    c) Gemäss Art. 93 SchKG können Lohnguthaben nur soweit gepfändet
werden, als sie nicht nach dem Ermessen des Betreibungsbeamten für den
Schuldner und für seine Familie unumgänglich notwendig sind. Nach der
Rechtsprechung ist eine Pfändung als nichtig aufzuheben, wenn sie den
Schuldner oder seine Angehörigen geradezu in eine unhaltbare Notlage
brächte (vgl. BGE 105 III 49; 97 III 11 mit Hinweisen). Der Gesichtspunkt
der Menschenwürde, der darin zum Ausdruck kommt (vgl. auch BGE 80 III 24
f., worin ausdrücklich auf die Menschenwürde des Schuldners hingewiesen
wird), verlangt, dass in einem Fall wie dem vorliegenden auch das Wohl
des Kindes in Betracht gezogen wird.

    d) Wird der Rekurrentin zugemutet, für die Fahrt zur Arbeit auf
ihr eigenes Automobil zu verzichten, muss sie ihren Wohnort mit dem
Postauto um 06.38 Uhr verlassen, wobei sie zuvor noch ihr Kind zur
Tagesmutter zu begleiten hat. ... Die Vorinstanz führt freilich aus,
A. wäre in der Lage, den Weg zur Tagesmutter allein zu finden. Es ist
einzuräumen, dass er sich unbegleitet dorthin begeben könnte. Indessen
geht es nicht an, einem erst siebenjährigen Kind die Verantwortung zu
übertragen, die Wohnung abzuschliessen, die seine Mutter eine Stunde
früher verlassen hat. Diese Frage ist jedoch letztlich ebenso unerheblich
wie die Frage, ob die gegenwärtige Tagesmutter von A. überhaupt bereit
wäre, ihn früher als bisher bei sich aufzunehmen und abends länger zu
betreuen. Entscheidend ist vielmehr, dass das zeitlich ohnehin schon recht
beschränkte Zusammensein von A. mit seiner Mutter noch mehr verkürzt würde,
falls diese für die Fahrt zur Arbeit auf ihr eigenes Automobil verzichten
müsste, abgesehen davon, dass das erst siebenjährige Kind - ungeachtet
der Jahreszeit - gezwungen wäre, sehr früh aufzustehen. Im Interesse
der Entwicklung eines Kindes im erwähnten Alter darf der Kontakt mit
der Mutter nicht über Gebühr eingeschränkt werden. Dies gilt erst recht
für A., der in schulpsychologischer Behandlung steht. Die Entbehrung,
die ihm auferlegt würde, wenn die Rekurrentin auf die Benützung der
öffentlichen Verkehrsmittel verwiesen würde, wäre nach dem Gesagten mit
dem Sinn von Art. 93 SchKG nicht vereinbar. Indem die Vorinstanz den
persönlichen Bedürfnissen von A. keine Rechnung trug, hat sie demnach
Bundesrecht verletzt.

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