Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 110 IB 99



110 Ib 99

18. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
8. Juni 1984 i.S. Dr. Reiser gegen Stadt Zürich und Eidgenössisches
Militärdepartement (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Art. 48 lit. a VwVG und Art. 103 OG.

    Lärmimmissionen aus Schiessbetrieb; Legitimation zur Einsprache.

    Vom Entscheid, eine Schiessanlage zu erstellen oder auszubauen und die
nachbarlichen Abwehrrechte gegen die Lärmimmissionen aus dem Schiessbetrieb
zu enteignen, werden nicht nur die Nachbarn berührt, auf deren Grundstücken
der Schiesslärm die Alarmwerte erreicht. Berührt und einsprachelegitimiert
sind vielmehr all jene, die in der Nähe der Schiessanlage wohnen, den
Schiesslärm deutlich wahrnehmen und dadurch in ihrer Ruhe gestört werden.

Sachverhalt

    A.- Im Jahre 1975 wurde die Schiessanlage "Hasenrain" in
Zürich-Albisrieden um vier zusätzliche Schiessplätze erweitert und mit
einer elektronischen Trefferanzeige ausgerüstet. Dank der Erweiterung
konnten 1976 auch die Schützen von Altstetten dieser Anlage zugewiesen
werden und wurde der Schiessstand "Dunkelhölzli" in Altstetten aufgehoben.

    Dr. iur. Martin Reiser, Eigentümer des etwa 700 m von der
Schiessanlage "Hasenrain" entfernt gelegenen Grundstückes Schützenrain
4, wandte sich mit Eingabe vom 22. Dezember 1980 an den Stadtrat von
Zürich, verlangte die Anordnung weiterer Lärmschutzmassnahmen und
stellte eine Entschädigungsforderung für den durch den Schiesslärm
verursachten Minderwert seiner Liegenschaft. Der Stadtrat lehnte
die Begehren Reisers ab, ersuchte jedoch auf dessen Verlangen die
Eidgenössische Schätzungskommission, Kreis 10, um Eröffnung eines
Enteignungsverfahrens. Da indessen die Stadt Zürich noch nicht über das
Enteignungsrecht verfügte, wurde das Gesuch einstweilen zurückgestellt.

    Mit Verfügung vom 22. September 1982 ermächtigte das Eidgenössische
Militärdepartement die Stadt Zürich, allfällige nachbarliche Rechte zur
Abwehr der von der Schiessanlage "Hasenrain" ausgehenden Immissionen in
Anwendung des Bundesgesetzes über die Enteignung zu expropriieren. Gegen
diese Verfügung reichte Dr. Reiser Verwaltungsgerichtsbeschwerde ein,
auf welche das Bundesgericht am 18. November 1982 nicht eintrat, da die
Einwendungen des Beschwerdeführers im Einspracheverfahren vorgebracht
werden könnten (BGE 108 Ib 376).

    Am 29. November 1982 bewilligte der stellvertretende Präsident der
Schätzungskommission die Durchführung eines abgekürzten Verfahrens und
gab dem Enteigneten Gelegenheit, seine bisherigen Begehren und Vorbringen
innert der Eingabefrist zu ergänzen. Da die Einigungsverhandlung erfolglos
verlief, überwies der Präsident der Schätzungskommission die Akten dem
Eidgenössischen Militärdepartement zum Entscheid über die Einsprache.

    Mit Entscheid vom 16. August 1983 trat das Departement auf die
eingereichte Einsprache und das Planänderungsbegehren nicht ein,
weil Reiser nicht beschwerdelegitimiert sei. Gegen diesen Entscheid hat
Dr. Reiser Verwaltungsgerichtsbeschwerde wegen formeller Rechtsverweigerung
und Verletzung des rechtlichen Gehörs erhoben.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Das Eidgenössische Militärdepartement führt im angefochtenen
Entscheid aus, dem Beschwerdeführer stehe aufgrund von Art. 48
lit. a VwVG und Art. 103 lit. a OG kein Anspruch auf Teilnahme am
enteignungsrechtlichen Einspracheverfahren zu. Zur Einsprache gegen die
Enteignung nachbarlicher Abwehrrechte gegenüber Lärmeinwirkungen von
Schiessanlagen seien nur jene Eigentümer befugt, auf deren Grundstücke
der Schiesslärm die Alarmwerte erreiche. Dieser Auffassung kann jedoch
nicht gefolgt werden.

    a) Nach Art. 48 lit. a VwVG und Art. 103 OG ist zur Beschwerde
bzw. zur Einsprache berechtigt, wer durch die angefochtene Verfügung
berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung
oder Änderung hat. Dieses Interesse kann rechtlicher oder auch bloss
tatsächlicher Natur sein und braucht mit dem Interesse, das durch die
vom Beschwerdeführer als verletzt bezeichnete Norm geschützt wird, nicht
übereinzustimmen. Immerhin wird verlangt, dass der Beschwerdeführer durch
die angefochtene Verfügung stärker als jedermann betroffen sei und in
einer besonderen, beachtenswerten, nahen Beziehung zur Streitsache stehe
(BGE 104 Ib 247 ff.; 108 Ib 93, 250).

    b) Die im Rahmen der Vorarbeiten für das Bundesgesetz über den
Umweltschutz eingesetzte "Expertenkommission für die Beurteilung von
Lärmimmissionsgrenzwerten" hat 1979 in einem ersten Teilbericht die
Belastungsgrenzen für den Strassenverkehrslärm, 1980 im zweiten Teilbericht
die Immissionsgrenzwerte sowie die Alarm- und Planungswerte für den Lärm
ziviler Schiessanlagen festgelegt. Die Lärmimmissionsgrenzwerte sind gemäss
Art. 15 des Bundesgesetzes über den Umweltschutz vom 7. Oktober 1983 so
zu bestimmen, dass Immissionen unterhalb dieser Werte nach dem Stand der
Wissenschaft und der Erfahrung die Bevölkerung in ihrem Wohlbefinden nicht
erheblich stören. Bereits vorhandene Beeinträchtigungen über diesen Werten
sind grundsätzlich zu vermindern. Für neue Anlagen, von denen Lärm ausgeht,
gelten die Immissionsgrenzwerte als Höchstwerte, die beim Betroffenen nicht
überschritten werden dürfen. Der über dem Immissionsgrenzwert liegende
Alarmwert dient in erster Linie als Kriterium für die Dringlichkeit
von Sanierungen. Immissionen über dem Alarmwert gelten als unzulässig,
als extrem (erster Teilbericht, S. 22 f., zweiter Teilbericht, S. 23 ff.;
Art. 19 des Umweltschutzgesetzes). Die Alarmwerte für zivile Schiessanlagen
sind von der Expertenkommission je nach Intensität des Schiessbetriebes
und der Empfindlichkeit des betroffenen Gebietes auf 60 bis 95 dB (A)
festgesetzt worden und liegen 10 bis 15 dB (A) über den entsprechenden
Immissionsgrenzwerten (zweiter Teilbericht, S. 31).

    c) Aus der Umschreibung des Alarmwertes ergibt sich bereits, dass
dieser kein Kriterium für die Anfechtungsbefugnis gemäss Art. 48 lit. a
VwVG und Art. 103 lit. a OG sein kann - ganz abgesehen davon, dass
die Legitimation schon aus praktischen Gründen nicht an Voraussetzungen
geknüpft werden sollte, deren Vorliegen nur aufgrund technisch aufwendiger
und kostspieliger Abklärungen festgestellt werden kann. Vom Beschluss,
eine Schiessanlage zu erstellen oder auszubauen und die nachbarlichen
Abwehrrechte gegen die Immissionen aus dem Schiessbetrieb zu enteignen,
werden offensichtlich nicht nur die Nachbarn berührt, auf deren
Liegenschaften der Schiesslärm die Grenze des absolut Unzulässigen erreicht
und die Lärmsituation einer dringlichen Sanierung bedarf. Als berührt
und beschwerdeberechtigt sind vielmehr all jene zu betrachten, die in der
Nähe einer Schiessanlage wohnen, den Schiesslärm deutlich wahrnehmen und
dadurch in ihrer Ruhe gestört werden. In diesem Sinne hat das Bundesgericht
schon im Entscheid ARAG-Rusbach die rund um einen Flughafen oder unter den
Anflugschneisen Wohnenden zur Anfechtung von Flugplänen zugelassen, da ihr
Interesse an ungestörter (Nacht-)Ruhe schützenswert sei und sie durch den
Lärm der an- und wegfliegenden Flugzeuge gestört würden (BGE 104 Ib 307
ff., insbes. 318). Zwar trifft zu, dass nach dieser Rechtsprechung die
Beschwerde- oder Einsprachelegitimation, falls die lärmverursachende Anlage
in dicht bevölkertem Gebiete liegt, einer sehr grossen Zahl von Personen
zukommen kann. Das heisst jedoch entgegen der Meinung des Departementes
nicht, dass der Allgemeinheit ein Beschwerderecht zugestanden würde:
Wer in der Nähe einer solchen Anlage wohnt, ihren Lärm deutlich hört und
dadurch in seiner Ruhe gestört wird, ist durch die Anlage mehr berührt
als jedermann und steht zu ihr in einer besonderen, nahen Beziehung.

    d) Nach den Lärmmessungen, die auf Veranlassung des Beschwerdeführers
vorgenommen wurden, liegt der allgemeine Ruhepegel auf dem von der
Schiessanlage nicht weit entfernten Grundstück Schützenrain 4 bei
44 bis 48 dB (A), während der Schiesslärm 64 dB (A) erreicht. Die
Immissionen sind demnach für den Beschwerdeführer deutlich wahrnehmbar,
wird doch ein Geräusch im Mittel dann als doppelt so laut empfunden,
wenn sich sein Pegel um 10 dB (A) erhöht (vgl. zweiter Teilbericht der
Expertenkommission, S. 12). Der Beschwerdeführer ist daher befugt, gegen
die Enteignung seiner nachbarlichen Abwehrrechte Einsprache zu erheben,
wie es ihm übrigens im bundesgerichtlichen Urteil vom 18. November 1982
und in der verfahrenseinleitenden Verfügung der Schätzungskommission vom
29. November 1982 in Aussicht gestellt worden ist.

    e) Damit, dass hier der Beschwerdeführer zur Einsprache berechtigt
erklärt wird, wird die Frage noch nicht beantwortet, ob sich die
Legitimation zur Einsprache im enteignungsrechtlichen Verfahren stets
nach den Bestimmungen von Art. 48 lit. a VwVG und Art. 103 lit. a OG
richte, insbesondere auch dann, wenn dem Enteignungsverfahren ein
Baubewilligungs- oder Plangenehmigungsverfahren unter Einbezug der
durch das Werk berührten Privaten vorausgegangen ist (vgl. BGE 108
Ib 245 ff.). Diese Frage braucht indessen im vorliegenden Falle
nicht geklärt zu werden. Festzuhalten ist einzig, dass selbst dann,
wenn das enteignungsrechtliche Einspracheverfahren ausschliesslich den
Expropriierten offenstünde, die Einsprachebefugnis nur jenen abgesprochen
werden könnte, die mit Sicherheit keine Rechte, auch keine nachbarlichen
Abwehrrechte gegen Immissionen, für das Werk abzutreten haben.

Erwägung 2

    2.- Das Eidgenössische Militärdepartement hat somit die
Einsprachebefugnis des Beschwerdeführers zu Unrecht verneint und durch
die Nichtbehandlung seiner Eingabe gegen Art. 4 BV verstossen. Die
Beschwerde ist deshalb gutzuheissen und die Sache, da das Bundesgericht
im vorliegenden Verfahren über Ermessensfragen nicht frei entscheiden
kann, zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen (vgl. BGE 98
Ib 171, 176).