Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 110 IB 52



110 Ib 52

9. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 4. April 1984 i.S. Schweiz. Bundesbahnen, Kreis III,
gegen Kath. Kirchenstiftung St. Anton-Zürich und Präsident der
Eidg. Schätzungskommission, Kreis 10 (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
Regeste

    Vorzeitige Besitzeinweisung bei vorübergehender Enteignung.

    Nicht wieder gutzumachende Schäden im Sinne von Art. 76 Abs. 4 Satz
2 EntG entstehen dann, wenn der Eingriff des Enteigners irreversibel und
eine Wiederherstellung des früheren Zustandes praktisch ausgeschlossen ist
(E. 1a).

    Für die vorzeitige Besitzeinweisung bei vorübergehender Enteignung
gelten die gleichen Voraussetzungen wie bei der definitiven Expropriation
(E. 1b).

    Die in Art. 76 Abs. 4 Satz 2 EntG umschriebene - negative -
Voraussetzung zur vorzeitigen Besitzergreifung ist im vorliegenden Fall
erfüllt (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Auf Ersuchen der Schweizerischen Bundesbahnen, Kreis III, eröffnete
der stellvertretende Präsident der Eidgenössischen Schätzungskommission,
Kreis 10, ein Enteignungsverfahren für den Bau der Zürcher S-Bahn im
Innenstadtbereich (Museumstrasse bis Neptunstrasse). Das Verfahren richtete
sich u.a. gegen die Katholische Kirchenstiftung St. Anton als Eigentümerin
der zwischen der Minerva- und der Neptunstrasse liegenden Parzellen
Nr. 2789 (1270 m2) und Nr. 2790 (4407 m2), auf denen das Pfarrhaus,
zwei Wohnhäuser, ein Lagergebäude sowie die St. Antonius-Kirche stehen.

    Nach dem vom Bundesamt für Verkehr genehmigten Projekt soll auf den
Grundstücken der Kirchenstiftung der sogenannte Startschacht erstellt
werden, von welchem aus der S-Bahn-Tunnel vorgetrieben werden soll. Für
den Bau dieses 30 m tiefen Schachtes und der notwendigen Verankerung
beanspruchen die Bundesbahnen vorübergehend Teilflächen von 1830 m2
(Schacht) bzw. von 3010 m2 (Erdanker) und zwar für eine Zeit von 70
bzw. 17 Monaten. Definitiv enteignet werden sollen ein Tunnelbau- und
ein Eisenbahnbetriebsrecht.

    Die Katholische Kirchenstiftung St. Anton erhob Einsprache gegen die
vorübergehende Enteignung und verlangte eine Änderung des Projektes in
dem Sinne, dass der Startschacht auf dem ca. 100 m entfernten Artergut der
Stadt Zürich zu errichten sei, da bei Verwirklichung des Auflageprojektes
die unter Denkmalschutz stehende St. Antonius-Kirche gefährdet und
der von der Stiftung geplante und bereits bewilligte Bau eines neues
Kirchenzentrums verzögert werde.

    An der Einigungsverhandlung ersuchten die Bundesbahnen um vorzeitige
Besitzeinweisung. Die Enteignete widersetzte sich diesem Begehren. Der
stellvertretende Präsident der Schätzungskommission wies das Gesuch der
Enteignerin zur Zeit ab. Auf Beschwerde der Bundesbahnen hin gestattet
das Bundesgericht diesen die vorzeitige Inbesitznahme der fraglichen
Grundstücke.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 76 EntG kann der Enteigner jederzeit verlangen,
dass er zur Besitzergreifung oder Ausübung des Rechts schon vor der
Bezahlung der Entschädigung ermächtigt werde, wenn er nachweist, dass dem
Unternehmen sonst bedeutende Nachteile entstünden (Abs. 1). Dem Gesuch
ist zu entsprechen, sofern die Prüfung der Entschädigungsforderung trotz
Besitzergreifung noch möglich ist (Abs. 4 Satz 1). Ist indessen über
Einsprachen gegen die Enteignung und über Begehren nach den Art. 7-10
EntG noch nicht rechtskräftig entschieden, darf dem Gesuch nur insoweit
entsprochen werden, als keine bei nachträglicher Gutheissung nicht wieder
gutzumachenden Schäden entstehen (Abs. 4 Satz 2).

    Es ist hier unbestritten, dass dem Unternehmen, wird die vorzeitige
Besitzergreifung nicht bewilligt, bedeutende Nachteile erwachsen. Es
wird auch nicht in Abrede gestellt, dass die Entschädigungsforderung der
Enteigneten trotz der Inbesitznahme noch geprüft werden kann. Streitig ist
einzig, ob im vorliegenden Fall auch die dritte - negative - Voraussetzung
für die vorzeitige Besitzeinweisung erfüllt sei, nämlich ob infolge
der Besitzergreifung keine Schäden entstünden, die bei nachträglicher
Gutheissung der erhobenen Einsprache nicht wieder gutgemacht werden
könnten.

    a) Im angefochtenen Entscheid wird ausgeführt, mit den "nicht
wieder gutzumachenden Schäden" gemäss Art. 76 Abs. 4 EntG ("de dommages
qui ne pourraient être réparés", "danni irreparabili") sei das Gleiche
gemeint wie mit dem in den Art. 87 OG und 45 VwVG genannten "nicht wieder
gutzumachenden Nachteil"; es gelte daher auch hier die bundesgerichtliche
Rechtsprechung, wonach als nicht wieder gutzumachende stets nur rechtliche
Nachteile, nicht auch tatsächliche in Betracht fielen.

    Dieser Auffassung ist aus verschiedenen Gründen nicht zu
folgen. Einerseits haben die in Art. 87 OG und Art. 45 VwVG enthaltenen
Bestimmungen prozessualer Natur, die sich auf die Anfechtbarkeit eines
Zwischenentscheides mit staatsrechtlicher bzw. mit verwaltungsrechtlicher
Beschwerde beziehen, nichts oder wenig mit der in Art. 76 Abs. 4 EntG
behandelten materiellen Frage gemeinsam, unter welchen Voraussetzungen die
vorzeitige Besitzeinweisung trotz einer noch hängigen Einsprache gewährt
werden könne. Andererseits ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung
der Begriff des nicht wieder gutzumachenden Nachteils im Sinne von Art. 87
OG enger als der in Art. 45 VwVG umschriebene, und können die beiden daher
nicht gleichgesetzt werden (vgl. BGE 98 Ia 328, 98 Ib 286 f. E. 4, 99 Ib
416; GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., S. 142, SALADIN,
Verwaltungsverfahrensgesetz, S. 171 insbes. N. 7). Schliesslich wird
durch die vorzeitige Inbesitznahme in die Nutzungsrechte des Eigentümers
eingegriffen und damit stets ein Nachteil rechtlicher Natur bewirkt (wie
er in Art. 87 OG, nicht aber in Art. 45 VwVG verlangt wird). Wäre die
Argumentation des Schätzungskommissions-Präsidenten richtig, wonach auch
Art. 76 Abs. 4 EntG nur von rechtlichen Nachteilen spreche, so erwiese
sich demnach die vorzeitige Besitzeinweisung in jedem Falle unzulässig,
solange über Einsprachen noch nicht rechtskräftig entschieden ist; das
ist offensichtlich nicht der Sinn des Gesetzes.

    Art. 76 Abs. 4 Satz 2 ist vernünftigerweise so auszulegen, dass der
tatsächliche Zustand des Grundstücks, das Enteignungsobjekt bildet, in
Betracht zu ziehen und zu prüfen ist, zu welchem Eingriff, zu welchen
Veränderungen die Inbesitznahme durch den Enteigner führt. Stellt sich
heraus, dass der Eingriff irreversibel und eine Wiederherstellung
des früheren Zustandes praktisch ausgeschlossen ist, so muss die
Besitzergreifung vor Erledigung der Einsprachen verweigert werden. In allen
anderen Fällen ist sie zu gewähren (ausser wenn das Verfahren in Anwendung
von Art. 51 EntG ausgesetzt worden ist; vgl. BGE 101 Ib 171 ff.). Übrigens
hat das Bundesgericht schon im Entscheid Erben Bertschy-Ringier darauf
hingewiesen, dass für die Besitzeinweisung ausschlaggebend sei, ob der
frühere Zustand wiederhergestellt werden könne; unbeachtlich sei dagegen,
mit welchen Kosten die Wiederherstellung verbunden sei, da nicht der
Enteignete, sondern allein der Enteigner das mit der Besitzergreifung
verbundene Risiko trage (BGE 108 Ib 491 ff.).

    b) Tatsächlich weist aber, wie der Schätzungskommissions-Präsident
festgestellt hat, der vorliegende Fall eine Besonderheit auf. Zur
Diskussion steht nicht der definitive Rechtserwerb für den Tunnelbau
und den Eisenbahnbetrieb, sondern die vorübergehende Enteignung für die
Erstellung und die Benützung des sogenannten Startschachtes. Objekt der
Enteignung ist insoweit nicht das Eigentum, sondern die Nutzung und damit
der Besitz der fraglichen Grundstücke (vgl. zur Publikation bestimmtes
Urteil vom 1. Juni 1983 i.S. Kresse, E. 3a). Das vorliegende Verfahren
hat insofern den selben Gegenstand wie das Einspracheverfahren vor dem
Departement. Es fragt sich deshalb, ob die vorzeitige Besitzergreifung -
wie auch der Schätzungskommissions-Präsident zu argumentieren scheint -
nicht aus dem Grunde zu verweigern sei, weil sie den Einspracheentscheid
vorwegnehme. Dies hätte indessen zur Folge, dass die Besitzergreifung -
falls Einsprachen noch hängig, aber keine nicht wieder gutzumachenden
Schäden zu befürchten sind - gestattet werden müsste, wenn der Enteigner
eine endgültige Abtretung verlangt, hingegen zu verweigern wäre, wenn
lediglich eine vorübergehende Inanspruchnahme, also ein geringerer Eingriff
in die Rechte des Enteigneten vorgesehen ist. Ein solches - unsinniges -
Ergebnis lag klarerweise nicht in der Absicht des Gesetzgebers, der 1971
unter der Voraussetzung, dass die Rechte des Enteigneten gesichert seien,
die Errichtung öffentlicher Werke erleichtern wollte (vgl. BGE 105 Ib 202
E. 2). Das Gesuch um vorzeitige Besitzeinweisung, das im Zusammenhang
mit einer vorübergehenden Enteignung eingereicht wird, ist daher nicht
anders zu behandeln als jenes, das der Enteigner im Verfahren um eine
endgültige Abtretung stellt.

Erwägung 2

    2.- Es bleibt zu prüfen, ob durch die Inbesitznahme der Grundstücke
der Enteigneten und den Bau des Startschachtes Schäden entstehen könnten,
die im Falle einer Projektänderung nach Gutheissung der Einsprache im
oben dargelegten Sinne nicht wieder gutzumachen wären.

    Dass für die Erstellung des Schachtes ein altes Gebäude (Lagerhaus)
abgebrochen werden muss, ist vom Präsidenten der Schätzungskommission zu
Recht als unter den konkreten Umständen unerheblich bezeichnet worden,
da dieses auch dem Bauvorhaben der Enteigneten selbst hätte weichen müssen.

    Wird das erarbeitete Sicherheitskonzept eingehalten und erfolgt die
Bauausführung mit der notwendigen Sorgfalt, so besteht nach Ansicht des vom
Bundesgericht beigezogenen Experten keine Gefahr, dass an den Gebäuden,
insbesondere an der unter Denkmalschutz stehenden St. Antonius-Kirche,
Schäden entstünden. Im weiteren hat der Experte dargelegt, dass bei
Gutheissung der Einsprache der frühere Zustand der Grundstücke ohne
weiteres wiederhergestellt werden könnte. Die aus Rühlbeton erstellten
Schachtwände könnten - falls die Enteignete den Schacht nicht in ihr
Bauvorhaben einbeziehen will - etappenweise abgebrochen werden, der
Schacht könnte mit dem durch Beimischung von Zement oder ungelöschtem Kalk
stabilisierten Aushubmaterial wieder aufgefüllt und dadurch innert kurzer
Zeit die gleiche Festigkeit des Bodens wie vor dem Schachtbau erreicht
werden. Auch wäre es möglich, die Verankerungskabel wieder zu entfernen;
doch führen diese zu einer Befestigung des Untergrundes und könnten
daher auch für die geplanten Neubauten der Enteigneten nützlich sein.
Nicht wieder gutzumachende Schäden sind jedenfalls nach dem Experten nicht
zu befürchten. Da das Bundesgericht in technischen Fragen an die Auffassung
seiner Gutachter gebunden ist, sofern sich diese nicht als offensichtlich
widersprüchlich erweist oder auf irrtümlichen tatsächlichen Feststellungen
beruht (BGE 101 Ib 408, 94 I 291), ist hier gestützt auf die Expertise
festzustellen, dass auch die in Art. 76 Abs. 4 Satz 2 EntG umschriebene
Voraussetzung für die vorzeitige Besitzeinweisung erfüllt ist. Die
Beschwerde ist daher gutzuheissen und den Schweizerischen Bundesbahnen
die vorzeitige Inbesitznahme der Parzellen der Enteigneten zu gewähren.