Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 110 IB 201



110 Ib 201

34. Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 7. September
1984 i.S. Salaheddine und Monika Reneja-Dittli gegen Regierungsrat des
Kantons Zürich (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Nichterneuerung der Aufenthaltsbewilligung eines Ausländers im
Verhältnis zum Recht auf Schutz des Familienlebens gemäss Art. 8 EMRK
(SR 0.101).

    1. Verweis auf den in dieser Sache ergangenen prozessleitenden
Beschluss, der die verfahrensrechtlichen Grundsätze bei der Anwendung von
Art. 8 EMRK im Fremdenpolizeirecht darlegt (E. 1; vgl. BGE 109 Ib 183 ff.).

    2. Die Berufung auf Art. 8 EMRK bei Nichterneuerung der
Aufenthaltsbewilligung eines Ausländers setzt voraus, dass eine intensiv
gelebte Beziehung dieses Ausländers zu einem über ein Anwesenheitsrecht
in der Schweiz verfügenden Familienglied (Ehegatte oder minderjähriges
Kind) besteht (E. 2a/b) und dem anwesenheitsberechtigten Familienglied
die Ausreise in den in Frage kommenden ausländischen Staat nicht zugemutet
werden kann (E. 2a/c).

    3. Sofern die massgebliche Familienbeziehung besteht und dem
anwesenheitsberechtigten Ehegatten die Ausreise nicht zuzumuten ist,
erfolgt eine Rechtsgüterabwägung gemäss Art. 8 Ziff. 2 EMRK; nur wenn
auch hier das private Interesse der Beschwerdeführer an der Anwesenheit
in der Schweiz gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Wegweisung
des Ausländers überwiegt, ist die Beschwerde gutzuheissen (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Salaheddine Reneja, marokkanischer Staatsangehöriger,
erhielt am 28. März 1980 von der Fremdenpolizei des Kantons Zürich
eine Aufenthaltsbewilligung. Reneja ist mit einer Schweizerin
verheiratet. Mit Urteil vom 11. Mai 1982 sprach ihn das Bezirksgericht
Zürich verschiedener Zuwiderhandlungen gegen das Bundesgesetz über die
Betäubungsmittel vom 3. Oktober 1951 (SR 812.121) schuldig und bestrafte
ihn mit 24 Monaten Zuchthaus. Gestützt auf diese Verurteilung wies die
Polizeidirektion des Kantons Zürich mit Verfügung vom 23. November 1982
das Gesuch des Rekurrenten vom 27. September 1982 um Verlängerung der
Aufenthaltsbewilligung ab; die Verfügung bestimmte ferner, dass S. Reneja
das zürcherische Kantonsgebiet unmittelbar nach der Entlassung aus der
Strafanstalt zu verlassen habe. Ein hiegegen gerichteter Rekurs an den
Regierungsrat des Kantons Zürich blieb erfolglos.

    Salaheddine und Monika Reneja-Dittli erheben sowohl eine
Verwaltungsgerichtsbeschwerde als auch eine staatsrechtliche Beschwerde
gegen die ergangenen fremdenpolizeirechtlichen Entscheide. Sie
beantragen namentlich die Aufhebung der angefochtenen Entscheide und die
Gewährung der aufschiebenden Wirkung. Das Bundesgericht hat die beiden
Beschwerdeverfahren vereinigt.

    In ihren Vernehmlassungen vom 25. und 29. August 1983 beantragt die
Finanzdirektion des Kantons Zürich den Beschwerden keine aufschiebende
Wirkung zu erteilen und auf die Sache selbst nicht einzutreten. Mit
Verfügung vom 15. Juni 1983 hat das Bundesamt für Ausländerfragen die
Wegweisung von S. Reneja auf das ganze Gebiet der Schweiz ausgedehnt und
gleichzeitig eine fünfjährige Einreisesperre über ihn verhängt.

    Am 9. Dezember 1983 beschloss das Bundesgericht auf die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde einzutreten, nicht indes auf die
staatsrechtliche Beschwerde (BGE 109 Ib 183 ff.). Gleichzeitig überwies es
die Akten an das Bundesamt für Ausländerfragen zur Vernehmlassung lassen.

    Dem Bundesamt für Ausländerfragen wurde aufgetragen, sich namentlich
über folgende Fragen tatsächlicher Natur vernehmen zu lassen:

    "- Sind die behaupteten familiären Beziehungen zu dem über ein

    Anwesenheitsrecht in der Schweiz verfügenden Ehegatten oder
minderjährigen

    Kind intakt und werden sie auch tatsächlich intensiv gelebt?

    - Bestehen besondere Gründe, die den Weggang der Familienangehörigen
   ins Ausland als völlig unzumutbar erscheinen lassen?

    - Soweit die Vorwürfe an den Familienangehörigen, dessen

    Aufenthaltsbewilligung nicht erneuert werden soll, nicht bereits
   rechtsgenügend festgehalten sind, Ausführungen zu diesen unter Gewährung
   des rechtlichen Gehörs."

    In der innert verlängerter Frist eingereichten Vernehmlassung des
Bundesamtes für Ausländerfragen vom 24. Februar 1984, die den Akzent
mehr auf die dem Bundesgericht zukommende Beantwortung von Rechtsfragen
als auf die verlangte weitere Abklärung der tatsächlichen Verhältnisse
legt, kommt das Amt zum Schluss, dass die angefochtene Nichterneuerung
der Aufenthaltsbewilligung von Salaheddine Reneja zu bestätigen
und die Beschwerden abzuweisen seien. Aufgrund einer Verfügung des
Instruktionsrichters vom 21. März 1984 liessen sich die Beschwerdeführer am
10. April 1984 zum durchgeführten Verfahren vernehmen: Sie halten an ihren
ursprünglich gestellten Anträgen fest. Auf ihre einzelnen Vorbringen wird,
soweit erforderlich, in den Erwägungen eingegangen. Am 16. Juli 1984
hat eine Delegation des Bundesgerichts eine Instruktionsverhandlung mit
den Eheleuten Reneja, der Sozialarbeiterin Frau Riemensberger sowie einem
Vertreter des Zürcher Regierungsrates und einem solchen des Bundesamtes für
Ausländerfragen durchgeführt. Auf ein Schreiben des Bundesgerichts vom 3.
August 1984 erklärte sich der Urner Regierungsrat am 14. August 1984
bereit, Salaheddine Reneja "auf Zusehen hin" und unter Vorbehalt eines
ordentlichen fremdenpolizeilichen Verfahrens eine Aufenthaltsbewilligung
zu erteilen. Die Chance, für Reneja im Kanton Uri einen Arbeitsplatz
zu finden, beurteilte der Regierungsrat positiv. "Aufgrund dieser
neuen Sachlage und der anlässlich der Instruktionsverhandlung gewonnenen
Erkenntnisse" hob das Bundesamt für Ausländerfragen am 29. August 1984 "im
Verfahren nach Art. 58 VwVG" seine Ausdehnungsverfügung samt Einreisesperre
gegen S. Reneja auf. Die Beschwerdeführer ihrerseits würden lieber eine
Aufenthaltsbewilligung im Kanton St. Gallen erhalten, wobei sie davon
ausgehen, dass St. Gallen zur Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung bereit
sein würde, weil sie "mit dem st. gallischen Justiz- und Polizeidepartement
bei menschlichen Fragen immer wieder positive Erfahrungen" gemacht hätten.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Es wäre dem Bundesgericht zwar verfahrensrechtlich
möglich, auf den prozessleitenden Entscheid vom 9. Dezember 1983
(BGE 109 Ib 183 ff.) zurückzukommen, soweit das Eintreten auf die
Verwaltungsgerichtsbeschwerden der Eheleute Reneja beschlossen wurde;
es besteht hiezu aber kein Anlass.

    b) Im vorliegenden Beschwerdeverfahren stellt sich die Frage,
ob sich die Eheleute Reneja im Zusammenhang mit der Nichterneuerung
der Zürcher Aufenthaltsbewilligung von Salaheddine Reneja auf den
im Art. 8 EMRK (SR 0.101) gewährleisteten Schutz des Familienlebens
berufen können. Sofern dies zutrifft, ist zu prüfen, ob bei der in Art. 8
Ziff. 2 EMRK vorgesehenen Rechtsgüterabwägung das private Interesse der
Beschwerdeführer an einer Aufenthaltsbewilligung für S. Reneja oder das
öffentliche Interesse an seiner Entfernung aus dem Kanton Zürich überwiegt.

    c) Zwar ist im vorliegenden Verfahren nur zu entscheiden, ob die
Nichterneuerung der Zürcher Aufenthaltsbewilligung von S. Reneja
bundesrechtskonform ist und ob er demzufolge aus dem Gebiet des
Kantons Zürich weggewiesen werden kann. Hinsichtlich der vom Bundesamt
für Ausländerfragen gestützt auf Art. 12 Abs. 3 ANAG (SR 142.20) zu
prüfenden Frage der Ausdehnung der Wegweisung auf das ganze Gebiet der
Schweiz besteht aber in der Praxis insofern ein gewisser Automatismus,
als bei Nichterneuerung einer kantonalen Aufenthaltsbewilligung
der Erlass der Ausdehnungsverfügung die normale Folge ist. Das
Bundesamt für Ausländerfragen hat denn auch schon am 15. Juni 1983 die
Ausdehnungsverfügung erlassen. Da die von den Bundesbehörden zu erlassende
Ausdehnungsverfügung nicht beim Bundesgericht angefochten werden kann
(Bundesgerichtsurteil vom 24. Mai 1984 i.S. Parsons c. EJPD), hat die
Prüfung der kantonalen Wegweisungsverfügung jeweils unter der Annahme zu
geschehen, dass eine Ausdehnung auf die ganze Schweiz erfolgt.

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 8 Ziff. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung
seines Familienlebens. Gemäss Ziff. 2 sind Eingriffe in dieses Grundrecht
nur statthaft, "insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und
eine Massnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die
nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche
Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von
strafbaren Handlungen, zum Schutze der Gesundheit und der Moral sowie
der Rechte und Freiheit anderer notwendig ist".

    Nach der bundesgerichtlichen Praxis kann sich die schweizerische
Ehefrau eines Ausländers nur dann auf Art. 8 Ziff. 1 EMRK berufen,
wenn die Beziehung zu ihrem Mann tatsächlich gelebt wird und es ihr
nicht zuzumuten ist, ihrem Ehemann ins Ausland zu folgen (BGE 109 Ib
189; Bundesgerichtsurteil vom 3. August 1984 i.S. Halimi c. ZH). Auf
dieser Linie liegt auch die Rechtsprechung der Europäischen Kommission für
Menschenrechte (EuGRZ 1983 S. 423 Ziff. 54 und S. 511 N 75); die Kommission
hat in zahlreichen Fällen die Zumutbarkeit der Ausreise bejaht. Dabei
beurteilt sich die Frage der Zumutbarkeit der Ausreise nicht nach den
persönlichen Wünschen der Betroffenen, sondern ist unter Berücksichtigung
ihrer persönlichen Verhältnisse und aller Umstände objektiv zu beurteilen.

    b) Die ehelichen Beziehungen von Monika und Salaheddine Reneja scheinen
trotz der durch den Zuchthausaufenthalt von S. Reneja verursachten
Trennung der Ehegatten intakt zu sein: Beide Ehegatten erklären, sich
innig zu lieben und es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass eheliche
Schwierigkeiten bestehen würden.

    c) Die weitere Frage, ob es Monika Reneja objektiv zuzumuten ist, ihrem
Ehemann ins Ausland, aller Voraussicht nach in die marokkanische Heimat
ihres Ehemannes, nachzufolgen, ist nicht einfach zu beantworten. Durch
das Instruktionsverfahren hat das Bundesgericht einen unmittelbaren
Eindruck von der Persönlichkeit von Monika Reneja erhalten: Sie ist
wenig gebildet und scheint auch wenig bildungsfähig zu sein. Sie spricht
keinerlei Fremdsprachen; es darf wohl ausgeschlossen werden, dass sie
sich mit ihren marokkanischen Schwiegereltern, die ihrerseits lediglich
einen marokkanischen Dialekt sprechen und nach Angabe von S. Reneja weder
schreiben noch lesen können, jemals würde verständigen können. Als gläubige
Katholikin wäre sie sodann auch religiös in einem moslemischen Umfeld
isoliert. Ausserdem stammt Monika Reneja aus dem kleinen Gebirgsdorf
Gurtnellen. Sie betont denn auch selbst, aus den Bergen zu stammen und
nur in der (Deutsch-)Schweiz leben zu können. Unter diesen Umständen darf
man der jungen Frau nicht zumuten, mit ihrem Mann nach Marokko ziehen
zu müssen.

Erwägung 3

    3.- a) Aus dem Umstand, dass Monika Reneja die Ausreise nach Marokko
nicht zuzumuten ist, können die Eheleute Reneja aber noch keinen Anspruch
auf Gewährung einer Aufenthaltsbewilligung für S. Reneja ableiten.
Eine solche Unzumutbarkeit bedeutet lediglich, dass die Sache nunmehr
unter dem Gesichtswinkel von Art. 8 Ziff. 2 EMRK geprüft wird. Eine
Aufenthaltsbewilligung ist erst zu gewähren, wenn die in Art. 8 Ziff. 2
EMRK vorgesehene Rechtsgüterabwägung zugunsten des privaten Interesses der
Beschwerdeführer am Aufenthalt in der Schweiz ausschlägt. Eine Wegweisung
des ausländischen Ehemannes kann somit unter dem Gesichtswinkel von
Art. 8 EMRK auch dann in Frage kommen, wenn der schweizerischen Ehefrau
die Ausreise nicht zuzumuten ist; die Unzumutbarkeit der Ausreise für das
anwesenheitsberechtigte Familienmitglied ist eine Voraussetzung dafür,
dass überhaupt eine Rechtsgüterabwägung nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK erfolgt.

    b) Dass der Eingriff in das Familienleben des Beschwerdeführers
gesetzlich vorgesehen ist, wird zu Recht nicht bestritten (Art. 4 ANAG). Im
übrigen ist das private Interesse des Beschwerdeführers auf Anwesenheit
in der Schweiz gegen die in Art. 8 Ziff. 2 EMRK genannten öffentlichen
Interessen abzuwägen. Bei der hier vorzunehmenden Rechtsgüterabwägung ist
das Bundesgericht nicht frei: Zu prüfen ist lediglich, ob die Vorinstanz
ihr Ermessen bei der Annahme eines überwiegenden Interesses an der
Entfernung des Beschwerdeführers überschritten oder missbraucht hat
(Art. 104 lit. a OG).

    Die Verstösse des S. Reneja gegen die Betäubungsmittelgesetzgebung
sind zwar keinesfalls als leicht, jedoch auch nicht als ganz besonders
schwer einzustufen. Hiezu kommt, dass S. Reneja nach seiner Entlassung
aus dem Strafvollzug vom 14. Mai bis zum 15. Juni 1984 als Chauffeur
für ein Architekturbüro gearbeitet hat, wobei sein Arbeitgeber im
Arbeitszeugnis vom 20. Juni 1984 festhielt: "Seine aufrichtige und
zuverlässige Art haben wir sehr zu schätzen gelernt." Auch hat S. Reneja
vor der bundesgerichtlichen Instruktionskommission versichert, von seiner
ehemals deliktischen Tätigkeit endgültig Abstand genommen zu haben.
Schliesslich stellt ihm auch seine Betreuerin, Frau Riemensberger, ein
gutes Zeugnis aus. Die von S. Reneja begangenen Straftaten begründeten
wohl ein gewisses öffentliches Interesse an dessen Wegweisung aus der
Schweiz, doch darf dieses Interesse angesichts der besonderen Umstände
des Falles als nicht allzu gewichtig angesehen werden.

    Auf der anderen Seite kann Monika Reneja, der es nicht zuzumuten ist,
ihrem Ehemann nach Marokko nachzufolgen (E. 2), ein sehr gewichtiges
privates Interesse an einer Aufenthaltsbewilligung für S. Reneja
geltend machen. Gesamthaft wiegt dieses private Interesse an einer
Aufenthaltsbewilligung für S. Reneja schwerer als das öffentliche Interesse
an seiner Wegweisung, weshalb die Beschwerden gutzuheissen sind.

    c) Der vorliegende Fall liegt, dies muss betont werden, verglichen
mit zahlreichen andern Fällen, aussergewöhnlich. In den meisten Fällen
kann einer Ehefrau, deren Ehemann straffällig geworden ist, zugemutet
werden, ihm ins Ausland zu folgen. Dabei muss insbesondere gelten, dass
bei sehr schweren Verfehlungen oder gar bei Rückfälligkeit des Ehemanns
das öffentliche Interesse an der Wegweisung auch dann überwiegt, wenn
damit gerechnet werden muss, dass eine Ehefrau nur mit sehr erheblichen
Schwierigkeiten im Heimatland des Weggewiesenen wird leben können (Urteil
vom 7. September 1984 i.S. Oezaltay).

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde der Eheleute Reneja wird
gutgeheissen, und die Verfügung der Fremdenpolizei des Kantons Zürich
vom 23. November 1982 sowie der Rekursentscheid des Regierungsrats des
Kantons Zürich vom 18. Mai 1983 werden aufgehoben.